Vorgeblättert

Leseprobe zu Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte. Teil 1

26.09.2011.
DIE VORRATSKELLER im Dorf fanden sich nicht unter den Häusern, sondern, vom Hof getrennt, oft auf der anderen Straßenseite, als wolle man sicher sein, dass ein Brand nicht gleich die Vorräte - Kartoffeln, Eingemachtes, Apfelwein - mit vernichtete. Es waren gemauerte, kalte Gewölbe, wie Verliese dunkel, man konnte dort ohne Licht nicht hinein, und wo keines da war, musste man die Taschenlampe nehmen oder eine Kerze. Als Kinder wurden wir manchmal geschickt von unserer Nachbarin, Kartoffeln, Äpfel, Sprudel zu holen, in Fässern gab es Apfelwein, die Keller waren furchteinflößend, man hörte Mäuse oder anderes Getier; zwar haben wir nie Ratten gesehen, aber wie sollten in einem solchen Kerker nicht Ratten sein oder Gerippe, die Reste von Gefangenen. Sie lagen auf dem Lehmboden, auf dem man ausrutschte, wenn man nicht achtgab, die Beine konnte man sich brechen und würde im Dunkeln liegenbleiben, lange, denn hören konnte einen niemand, wenn man von dort unten rief.

Mit der Zeit bekamen die Kartoffeln Augen, die Äpfel faulten, die Krüge brachen. Wo das Gewölbe endete, ­kamen aus der nackten Erde Maden und Engerlinge - Gewürm, das auch die Toten fraß, sagte mein Bruder Simon. Ich klammerte mich an das Licht, an die alte Taschen­lampe aus Kriegszeiten, die sich auf Rot und Grün einstellen ließ, ging trotzdem in den Keller, füllte den Krug mit Apfelwein, füllte die Körbe mit Kartoffeln. Ein Mal traf ich etwas, ein Tier oder einen Toten, hinter den im Herbst aufgetürmten Äpfeln verborgen, kam nicht hervor, rief nur, ganz leise, duckte sich wieder, vielleicht war es bloß ein Dieb. Ich wagte vor Entsetzen nicht, der Bäuerin etwas zu sagen, ich fürchtete, sie würde nach­sehen und nie wiederkommen, sie ging am Sonntag in die Kirche, trug das Gebetbuch unterm Arm, vor Toten war sie aber wahrscheinlich doch nicht sicher.

Ein Toter oder Apfeldieb oder auch ein Soldat aus dem hinteren Wald, der abschüssig in Richtung Tal ging und im Frühling voller Buschwindröschen war. Unter den Buschwindröschen oder zwischen Zweigen, Blättern, Steinen konnte man Helme und Patronenhülsen aus dem Krieg finden, weil in dem Waldstück Soldaten gekämpft hatten, gegen die anrückenden Amerikaner, die dann doch ersehnt waren, weil es im Dorf Flüchtige gab, Fahnenflüchtige, Deserteure, später dann andere Flüchtlinge, woher die kamen, aus dem Osten und wie, auf Wagen oder mit der Eisenbahn bis Michelstadt, bis Amorbach, den Berg zu Fuß hinauf, vor den letzten Bomben fliehend oder eben vor den Befreiern, Besatzern, das Parteibuch zerrissen, die Abzeichen versteckt. Juden hatte es im Dorf nicht gegeben, sie hatten wohlweislich nicht versucht, dorthin zu flüchten, es hätte ihnen kaum geholfen.

Die Synagoge in Michelstadt wurde verwüstet, vielleicht war sie zu nahe an den anderen Häusern, als dass man sie hätte abbrennen mögen, für die Menschen hat das nichts geändert. Wir haben uns vorgestellt als Kinder, wo Verstecke hätten sein können, wir zeigten sie meiner Großmutter, wir zeigten sie meinem Großvater, schauten neugierig, wie sie schwieg, wie er schwieg, und dann richteten wir uns gerade auf, denn wir, das wussten wir mit Sicherheit, hätten nicht zugelassen, dass auch nur einem Juden ein Haar gekrümmt wird.

Meine Großmutter spielte nicht mit, wenn wir Flüchtlingszug aus dem Osten spielten, gab uns kein Brot und keine Wasserflasche. Wir borgten von den Nachbarsbauern Säcke für den großen Leiterwagen und füllten sie mit Heu und Stroh, wir zogen einer den anderen die Feldwege entlang, stöhnend und klagend, verbanden die Verletzten, luden Tote ab, ließen sie liegen.

Frederik war der beste Tote, den wir hatten. Er blieb liegen, bis abends, bis zum Essen, bis meine Mutter rief, mein Vater suchte, fand ihn am Waldrand, starr geworden vom langen Tod. Mit Frederik wagte ich mich auch wieder in jenen Keller, er war ein Angsthase, aber furchtlos dabei, er plapperte ausgiebig von seiner Angst, ging in den Höllenschlund, in jedes dunkle Loch, lief mutterseelenallein - laut rufend, wie er sich fürchte - in das Verlies der Wildenburg, die wir mit jedem neuen Gast besuchen mussten, verschwand, und wieder musste mein Vater ihn finden. Denn wenn wir Krieg spielten, waren meinem Großvater die Hände gebunden, und meine Großmutter konnte uns nicht retten.

Mit eigenen Augen haben wir nie gesehen, wo meine Großmutter eigentlich zu Hause war, wenn wir den fremden Ort auch einmal besucht haben, den Friedhof mit dem Familiengrab. Wenn wir auch einen vagen Eindruck haben könnten von der Landschaft, so haben wir doch niemals gesehen, wie es war, wo sie aufwuchs, es war immer ein ebenso wirklicher wie aus­gedachter Ort, einer, der nicht länger existieren konnte, dessen Unwirklichkeit passender war, als wenn man uns tatsächlich dorthin hätte bringen können, etwa um entfernte Verwandtschaft zu ­besuchen oder etwas zu erben.
Die Zeitenfolge bestimmt über lange Jahre, wie man sich erinnert, dann verliert sie, wie ein Bild an Farbe, ihre Kraft. Dies Gestern, das mein Jetzt ist, das Jetzt, das sich auflöst in die Zukunft, alles so klein wie eine Streichholzschachtel, wo schon verbrannte, abgebrochene, auch neue Zündhölzer durcheinander liegen.

zu Teil 2