Vorgeblättert

Leseprobe zu Mahmud Doulatabadi: Der Colonel. Teil 3

06.04.2009.
Ich sah meinen Sohn durch die trüben Fensterscheiben des Kellers, sah, wie er Tag für Tag zusammenschrumpfte und älter wurde. Aber ich konnte nichts für ihn tun. Oft hörte ich nachts seine schrecklichen Schreie. Ich konnte seine beängstigenden Träume so gut nachfühlen. Albträume von einem Sturz, Menschen stürzen von hohen Dächern,
von großen, hohen Felsen ins Leere, ins Nichts. Junge Männer stürzen in ein schwarzes Loch der Hoffnungslosigkeit. Verzerrte Gesichter, die Qualen leiden, wilde Schreie der Hoffnungslosigkeit. Männer, die ihre Söhne zum Schlachthof führen, damit sie schneller enden. Frauen, die ihre Gebärmutter herausreißen, um die Bildung von Embryos zu verhindern. Ich hörte dumpfe Schreie der Hoffnungslosigkeit, wie in Watte gepackt. Es waren schreckliche Ereignisse, die ihn plagten. Ich
habe ein Leben lang gebraucht, um mich an solches zu gewöhnen.
Heute kann ich es hinnehmen. Aber Amir schafft es noch nicht, solche Schläge des Schicksals als Normalität aufzufassen. Schuldgefühle - das ist mein Eindruck - plagen ihn wie ein Stachel im Fleisch. Im Vergleich zu mir ist Amir noch jung, aber nicht mehr so jung, dass ich ihm Ratschläge geben könnte. Genau deshalb verlieren mein Sohn und ich allmählich unsere gemeinsame Sprache. Amir redet nicht gern, und mir ist jede Unterhaltung peinlich. Worüber könnte ich mit ihm
sprechen, wenn das Gespräch rückhaltlos und echt sein sollte? Wie kann ein Volk so viel Ungesagtes und so viel Schweigen erdulden? Bleibt also nur Farzaneh, die sich gelegentlich, hinter dem Rücken ihres Mannes, ein Stündchen stiehlt, Amir aufsucht und sich bemüht, ihn mit ihren einfachen, direkten, ungekünstelten Worten zum Sprechen zu bringen. Vielleicht ist nur auf diese Weise ein großes Unglück in Worte zu fassen. Farzaneh denkt gar nicht erst lange über das richtige Wort nach, sie hat keine Skrupel. Sie setzt sich ganz einfach auf die unterste Stufe der Kellertreppe, nimmt ihr kleines Kind auf die Knie, und während ihre beiden anderen Kinder über ihre Schultern klettern, redet sie unter Tränen mit Amir. Und wenn ich die Ohren spitze, kann ich sie hören:

"Aus lauter Kummer bekomme ich einen Kloß im Hals, lieber Bruder. Hab wenigstens mit mir Erbarmen. Ich kann es nicht mehr mit ansehen, dass auch du vor meinen Augen Stück für Stück verfällst. Jeden von euch habe ich auf eine andere Weise verloren. Zuerst war es Mohammad Taghi. Auch von Masud kommt kein Lebenszeichen mehr. Allmählich verliere ich die Hoffnung. Und unsere Schwester Parwaneh, Parwaneh, meine kleine Schwester. Jedem auf dieser Welt ist der Tod sicher. Aber der Tod ist hässlich geworden, würdelos. Vermutlich wird man uns bald auch Masuds Leichnam oder irgendein Zeichen seines Todes bringen. Ich erinnere mich an den Tag, als Mohammad Taghis Leichnam gebracht wurde. Noch heute kommen mir deswegen die Tränen. Tod und immer wieder Tod, wie oft noch? Meine Brüder, meine Brüder! Schau, was alles geschehen ist, dass ich so offen, ohne jede Achtung über den Tod sprechen kann. Was wird mit unserer Schwester geschehen, Amir, mit unserer kleinen Schwester? Die Stadt ist voller Märtyrer-Denkmäler, sie tragen die Särge durch die Gassen, auf den Straßen fließt Blut, und mein Mann ist zum Tagelöhner des Todes geworden, denn er hat beschlossen ?, was weiß ich! Und ich, lieber Bruder, ich ersticke fast vor Verzweiflung. Und du schweigst und schweigst. Rette mich aus dieser Verzweiflung, Amir, rette mich! Ich sehe, wie du immer mehr abnimmst, du bist nur noch ein Schatten. Quäl mich nicht, Amir! Sag wenigstens ein Wort!"

Nein, ich kann nicht glauben, dass mein Amir seine Sinne verloren hat, nein, das darf nicht sein. Aber diese verwirrenden, erschreckenden Albträume! ? Der Colonel hatte bei Amir kein ungewöhnliches Verhalten beobachten können. Selbst nach den schrecklichen Albträumen hatte sich Amir ganz ruhig auf die Bettkante gesetzt, sich mit einem alten Tuch den Schweiß von der Stirn und den Augenlidern gewischt und sich eine Zigarette angezündet. Der Colonel hatte sogar gehört, wie Amir zu sich selbst sagte: "Ich werde es durchstehen, ich werde alles versuchen, wenn nur die Albträume aufhören." Er hatte aus Amirs Mund den Satz gehört: "Ich habe noch alle meine Sinne beisammen, dafür gebe ich mein Wort." Der Colonel war überzeugt, dass sein Sohn alle Sinne beieinanderhatte und gewillt war, das durchzustehen. Er hatte ja nicht einmal mit der Arbeit an der Statue für Amir Kabir aufgehört. Der Colonel hatte ihren Schatten durch die verstaubte Fensterscheibe gesehen. Wie könnte er also die Hoffnung auf den Sohn aufgeben?

Ich selbst habe ihn mit Amir Kabir bekannt gemacht, ihm gesagt, dass dieser Mann immer als Symbolgestalt in uns weiterleben muss. Hätte ich das nicht tun sollen? Ich muss allerdings gestehen: Beim Gedanken, dass ich zu meinen Kindern über die Freidenker und Patrioten unseres Volkes gesprochen habe, überfällt mich manchmal ein Gefühl der Verlegenheit, der Scham. Als hätte ich an meinen Kindern Verrat geübt. Zum Glück verschwinden aber solche Gedanken rasch, bevor sie sich in mir festsetzen. Doch - das war meine Pflicht als Vater. Ja, es war meine Pflicht, sie über die Fortschritte in der Geschichte der letzten hundert Jahre aufzuklären. Daraus schöpft
man doch die Kraft zum Weiterleben! Junge Menschen hungern nach neuen Ideen, und kein Vater hat das Recht, diesem Verlangen gegenüber gleichgültig zu sein. Wer kann mir das zum Vorwurf machen? Hätte ich ihnen die Wahrheit verschweigen und ihnen Lügen aufschwatzen sollen? Sie hätten die Wahrheit ohnehin selbst herausgefunden. Keiner schafft es, einem Jungen aufzuschwatzen, er solle die Nacht als Tag bezeichnen. Nein, ich brauche mich nicht zu schämen. Wie komme ich überhaupt auf solche Gedanken. Was ist geschehen, dass man selbst die vernünftigsten Taten bereuen muss?
Meine Kinder, meine Kinder! ?

"Mein Schädel ? Mein Schädel platzt, lieber Vater!" Diesen Klageruf hatte der Colonel oft durch Wand und Fenster des Kellers hindurch vernommen. Dort saß Amir, den Kopf zwischen seine Hände gepresst. Nach seinen Albträumen wirkte Amir immer ausgelaugt, ratlos, fiebrig und verzweifelt, weil er keine Antwort auf seine Fragen gefunden hatte und auch nicht wusste, wo auf dieser Welt er sie finden könnte. Der Colonel vermutete, dass sein Sohn immer wieder zu diesem unauflösbaren Knoten gelangte, bei dem jedes Weiterdenken unmöglich wurde. Dabei schien Amir durchaus bei Sinnen, der Colonel
war davon überzeugt, dass Farzaneh sich irrte, wenn sie glaubte, Amir sei dem Wahn verfallen. Farzaneh solle Amir nur ja nicht provozieren, meinte er. Vor allem solle sie nicht über ihre Geschwister reden, denn das löste bei ihm Verzweiflung aus. Abgesehen von diesen Attacken der Verzweiflung schien er nie an seine Geschwister zu denken. Vielleicht weil er den Mut verloren hatte, über das Unglück nachzudenken, ja, noch schlimmer, weil ihn Zweifel und Resignation völlig zermürbt hatten. Der Colonel konnte das gut verstehen. Wer
so ins Leere fällt, findet keinen Weg mehr heraus. Er dreht sich so lange im Kreis, bis er, benommen vom Schwindel, hinfällt und alles aufgibt.

"Ich bin mir selbst ein Rätsel geworden. Ein Rätsel, das nur der Tod entwirren kann. Nicht nur mein Volk und mein Land, auch ich selbst bin verzweifelt. Wer bin ich, was bin ich, wo gehöre ich hin?"

Vielleicht hatte der Colonel diese Worte gar nicht wirklich aus dem Munde Amirs gehört. Es muss ja nicht jeder Gedanke ausgesprochen werden, um Gehör zu finden. Vielleicht hatte er Amirs Worte aus dem Gesichtsausdruck seiner Tochter Farzaneh herausgelesen. Farzaneh biss sich auf die Lippen und weinte. Sie war mager geworden, doch immer noch weckte sie in ihm die Erinnerung an ihre Mutter. Hellbraune Haare, grünliche Pupillen, eine klare Stirn, wohlgeformte Lippen, feines Kinn, aber jetzt ein Ausdruck von Verwirrung und Scheitern im Gesicht. In ihrem Blick las er den Zustand Amirs und den Zustand eines jeden Mitglieds der Familie.

"Du bist verloren, Schwester, und ich, Amir, habe meine Überzeugungen verloren."

Der Colonel wusste es, er wusste, dass sein Sohn dabei war, sich zu verwandeln, doch er weigerte sich, dies als Weg in den Irrsinn zu akzeptieren. Er sah Amir in Erstarrung und Leblosigkeit
eintauchen, sah aber auch immer wieder Angst und Scham, Hoffnungslosigkeit und Scheitern in seinem Blick. Dann und wann aber konnte er Hoffnung schöpfen, wenn er durch die trüben Fensterscheiben Amirs Schatten bei der Arbeit an der Büste von Amir Kabir betrachtete. Das tut ihm sicher gut, dachte er. Und besorgt stellte er fest, dass sich die Abstände zwischen Amirs Albträumen immer weiter verkürzten.

Hätte er Amir vor den Besuchen des Khazar Djavid in seinem Haus warnen sollen? Der Colonel grübelte und machte sich Vorwürfe: "Seit Langem biete ich all meine Kraft auf, klaren Kopf zu bewahren und nicht auszurasten. Keine schlechte Nachricht, kein frisches Verhängnis soll mich überrumpeln. Obwohl, wenn ich Amir vor Khazar Djavids Besuch in unserem Haus gewarnt hätte, hätte ich vielleicht das Unglück verhindern, oder besser, es hinausschieben können. Doch meine Herren, mein Sohn war doch kein Kind mehr!

Habe ich eigentlich die Haustür abgeschlossen? Ja, ich kann den Schlüssel in der Manteltasche spüren. Aber habe ich wirklich abgeschlossen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Wie kann ich mich denn vergewissern? Diese Unsicherheit quält mich so ?"

Dass er vor den beiden Beamten gehen musste, schien ihm selbstverständlich. Denn die Bestimmung war ihm bekannt: Ein Mensch, gegen den, aus welchem Grund auch immer, eine Klage vorliegt, der deswegen abgeführt wird, muss zwischen den beiden Beamten und ein kurzes Stück vor ihnen gehen. Diese Bestimmung war wohl überall und seit ewigen Zeiten gültig, und auch in Zukunft würde sich daran nichts ändern.

Ich werde mich nicht dagegen auflehnen, aber ich muss unbedingt
wissen, ob ich die Haustür abgeschlossen habe! ?

Der Colonel war nicht mehr so jung, dass ihn jedes ungeschriebene Gesetz aufbrachte und zur Rebellion reizte. Er hielt den Kopf gesenkt, blickte auf seine Schritte, sein Rücken hatte sich gekrümmt, er fühlte, dass die graue Hutkrempe sein Gesicht bis zur Nasenspitze überschattete, dass die Flügel seines Mantels, als seien sie länger geworden, mit ihren Spitzen hin- und herschwankend den Schlamm auf der Straße streiften.

"Hier lang, Colonel!"

Ja, richtig, ich muss dorthin laufen, wo die Beamten es wünschen ?

Am Ende der Gasse angelangt, bogen sie in die Straße ein. Auch an dieser Kreuzung stand eines dieser unzähligen hell beleuchteten Denkmäler zum Gedenken an die Märtyrer und bestrahlte die ganze Kreuzung und noch ein gutes Stück der Straße. Danach gelangten sie zum Rathausplatz, an dessen Westseite sich die Staatsanwaltschaft befand. Vorbei an zwei Denkmälern in gleißendem Licht zu beiden Seiten des Eingangs betraten sie ein düsteres, kaum beleuchtetes Treppenhaus. Eine schwache Glühbirne, die an der Decke hing, konnte sich gegen das Dunkel kaum durchsetzen.

Das sind also ihre Sparmaßnahmen, dachte der Colonel. Vorsichtig und langsam nahm er Stufe um Stufe, denn sie waren vom regen Publikumsverkehr des vergangenen Tages noch nass und glitschig.

Der Colonel war, selbst in den Zeiten vor seiner Entlassung als Offizier, kein Freund von Glücksspielen und dergleichen Zeitvertreib gewesen. Auch Billard oder Bridge war nie seine Sache gewesen. Aber er wusste - obwohl er selbst nie einen Billardstock in den Händen gehalten hatte -, dass sich im obersten Stock dieses Gebäudes einst ein Billardsalon befunden hatte. Als er jetzt diesen Mann an einem großen, mit grünem Tuch bezogenen Tisch sitzen sah - wie sehr er doch meinem Schwiegersohn Ghorbani Hadjadj ähnelt! -, gewann er die Gewissheit, dass dieser Tisch ursprünglich ein Billardtisch gewesen
sein musste, den die Staatsanwaltschaft requiriert hatte. Die beiden jungen Männer nahmen an den Seiten des Tisches Platz.

"Sie sind ein ehemaliger Offizier, Colonel?"

"Ja, ich war Offizier."

"Wenn Sie den Leichnam selbst in Empfang nehmen und begraben wollen, müssen Sie eine Gebühr zahlen."

"Selbstverständlich ? Selbstverständlich."

"Es ist schon alles vorbereitet. Zwei Beamte werden Sie bis zum Ende der Zeremonie begleiten. Bitte, gehen Sie dorthin ?"


Mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlages

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