Vorgeblättert

Leseprobe zu Nicolas Dickner. Nikolski. Teil 2

02.02.2009.
Wurden die ersten Wochen in Vancouver noch mit viel Liebe zum Detail erzählt, so fiel die Fortsetzung ihres Reiseberichts immer lückenhafter aus, die Ansprüche an ihr Nomadentum fielen offensichtlich mit jenen an die Berichterstattung. Sie blieb niemals länger als vier Monate an einem Ort, brach immer überstürzt auf, fuhr nach Victoria, Prince Rupert, San Francisco, Seattle, Juneau und an tausend andere Orte, um deren genaue Bezeichnung sie sich manchmal wenig scherte. Ihr Brot verdiente sie mit armseligen Notbehelfen: Sie bot Passanten Gedichte von Richard Brautigan an, verkaufte Postkarten an Touristen, jonglierte, machte in Motels die Zimmer sauber und stahl in Supermärkten.

Dieses abenteuerliche Leben führte sie vier Jahre lang. Dann, im Juni 1970, hatten wir uns mit zwei riesigen, zum Bersten vollen Militärrucksäcken im Hauptbahnhof von Vancouver eingefunden. Meine Mutter hatte ein Zugticket nach Montreal gekauft und wir durchquerten den Kontinent in entgegengesetzter Richtung, sie in ihren Sitz gekauert, ich in ihre Gebärmutter eingeschmiegt - unsichtbares Komma eines noch zu schreibenden Romans.

Nach ihrer Rückkehr hatte sie sich kurzfristig mit meinen Großeltern versöhnt - ein strategischer Waffenstillstand, dessen Ziel es war, die nötige Bankbürgschaft für den Kauf eines Hauses zu bekommen. Kurz darauf wurde sie die Besitzerin eines Bungalows in Saint-Isidore Junction, nur einen Katzensprung von Châteauguay entfernt, dort wo später der südliche Speckgürtel Montreals entstehen sollte, wo man sich damals aber noch ganz wie auf dem Land fühlen konnte, mit alten Häusern, Brachen und einem beeindruckenden Bestand an Stachelschweinen.

So stand sie fortan in der Pflicht ihrer Hypothek und hatte sich eine Arbeit als Beraterin in einem Reisebüro in Châteauguay suchen müssen. Ironischerweise setzte diese Anstellung ihrem jugendlichen Vagabundendasein ein Ende und damit auch dem Tagebuchschreiben.

Das letzte Heft endete mit einer nicht datierten Seite von ungefähr 1971. Ich klappte es gedankenverloren wieder zu. Von allen Auslassungen, die die Prosa meiner Mutter durchzogen, war die wichtigste Jonas Doucet.

Von diesem unsteten Erzeuger gab es nichts als ein Bündel Postkarten in unleserlicher Schrift, von denen die letzte aus dem Sommer 1975 stammte. Ich hatte oft versucht, das Geheimnis dieser Karten zu lüften, aber diese Hieroglyphen ließen sich einfach nicht entziffern. Sogar die Poststempel gaben mehr Informationen preis, Meilensteine eines Parcours, der im Süden Alaskas begann, in den Yukon aufstieg und dann hinab Richtung Anchorage ging und schließlich bis zu den Aleuten führte - genau genommen zur dortigen Militärbasis, auf der mein Vater Arbeit gefunden hatte.

Unter dem Stapel Postkarten befand sich ein kleines verknautschtes Päckchen und ein Brief der US Air Force.

Dem Brief konnte ich nichts Neues entnehmen. Das Päckchen hingegen erhellte einige vergessene Winkel in meinem Gedächtnis. Heute war es plattgedrückt, doch einst enthielt es einen Kompass, den Jonas mir zum Geburtstag geschickt hatte. Dieser Kompass kam mir wieder in den Sinn, mit ganz erstaunlicher Genauigkeit. Wie hatte ich ihn nur vergessen können? Als greifbarer Beweis für die Existenz meines Vaters war er der Nordstern meiner Kindheit gewesen, das glorreiche Instrument, das es mir ermöglicht hatte, Tausende imaginäre Ozeane zu durchqueren. Unter welchem Haufen Kram mochte er jetzt liegen?

Von einem plötzlichen Eifer gepackt, durchstöberte ich alle Winkel des Bungalows, leerte Schubladen und Schränke,schaute hinter Truhen und unter Teppiche und kroch bis in die dunkelsten Kammern.

Ich bekam den Kompass um drei Uhr morgens zu fassen, eingeklemmt zwischen einer Taucherfigur für das Aquarium und einem apfelgrünen Körbchen ganz unten in einem Pappkarton, der quer auf zwei Balken oben im Dachgebälk stand. Mit den Jahren hatte sich die äußere Erscheinung dieses Fünf-Dollar-Spielzeugs, das er damals sicher neben der Registrierkasse einer Eisenwarenhandlung in Anchorage gefunden hatte, nicht unbedingt verbessert. Glücklicherweise hatte die langjährige Nachbarschaft zu den Metallspielzeugen den Magneten nicht entmagnetisiert, denn er trippelte noch immer wacker in den (vermeintlichen) Norden. Der Kompass war kein gewöhnlicher Nadelkompass, sondern die Miniaturausgabe eines Schiffskompasses. Er bestand aus einer durchsichtigen Plastikkugel, in der in einer hellen Flüssigkeit eine magnetisierte und mit einer Gradeinteilung versehene zweite Plastikkugel schwamm. Die Einfassung einer Kugel in die andere, nach Art einer winzigen Matroschka Puppe, sorgte für die gyroskopische Stabilität, der auch die schwersten Stürme nichts anhaben konnten: Selbst bei hohem Seegang würde der Kompass immer waagerecht bleiben und Kurs halten.

Ich schlief auf dem Dachboden ein, den Kompass auf der Stirn und den Kopf in eine Wolke pinkfarbene Mineralwolle getaucht.

Auf den ersten Blick scheint dieser alte Kompass völlig banal, vergleichbar mit jedem anderen Kompass. Bei eingehender Betrachtung kann man allerdings feststellen, dass er nicht ganz genau nach Norden zeigt.

Einige Leute behaupten, immer genau sagen zu können, wo Norden ist. Ich bin da wie die meisten Menschen: Ich brauche einen Anhaltspunkt. Wenn ich beispielsweise in der Buchhandlung hinter dem Tresen sitze, weiß ich, dass sich der magnetische Nordpol in 4238 km Luftlinie hinter dem Regal mit den Bob Morane befindet - was auf der Landkarte der Ellef-Ringnes-Insel entspricht, einem verlorenen Kieselstein in der ungeheuren Weite des Königin-Elisabeth-Archipels.

Statt jedoch auf das Regal mit den Bob Morane zu zeigen, zeigt mein Kompass einen Meter fünfzig weiter nach links, direkt auf die Ausgangstür.

Es kann tatsächlich passieren, dass sich das Magnetfeld unseres Planeten lokal verzerrt und der magnetische Norden nicht mehr ganz an seinem eigentlichen Platz angezeigt wird. Mögliche Gründe für eine solche Anomalie gibt es viele: ein großes Eisenvorkommen im Keller, die Wasserrohre im Badezimmer des Nachbarn über uns oder das Wrack eines Ozeandampfers, das unter der Rue Saint-Laurent vergraben liegt. Leider sind diese Theorien alle sehr zweifelhaft, da mein Kompass immer links am Nordpol vorbeizeigt, ganz egal an welchem Ort ich ihn benutze. Diese Erkenntnis bringt zwei unbequeme Fragen mit sich:

- Was ist der Grund für diese magnetische Anomalie?
- Wohin (zum Teufel) zeigt der Kompass dann?

Der gesunde Menschenverstand legt nahe, dass die größte Anomalie des lokalen Magnetfeldes meine lebhafte Fantasie ist und dass es sinnvoller wäre aufzuräumen statt rumzuträumen. Aber Anomalien sind wie Zwangsvorstellungen: Jeder Widerstand ist zwecklos.

Ich erinnerte mich vage an meinen Erdkundeunterricht, die magnetische Deklination, den Wendekreis des Krebses, den Polarstern. Es war an der Zeit, dieses vergessene Wissen in der Praxis anzuwenden. Ausgestattet mit einem Stapel Erdkundebücher und einem Arsenal von Karten in verschiedenen Maßstäben, machte ich mich daran zu bestimmen, wohin mein Kompass genau ausgerichtet war.

Nach einigen ermüdenden Berechnungen kam ich auf eine Abweichung von 34° westlich. Folgte man dieser Richtung, durchquerte man die Insel Montreal, die Regionen Abitibi und Temiscamingue, Ontario, die Prärie, Britisch Kolumbien, die Prinz-von-Wales-Insel, die Südspitze Alaskas, einen Zipfel vom nördlichen Pazifik und die Aleutischen Inseln, wo man schließlich auf der Insel Umnak landete - in Nikolski genau genommen, einem winzigen Dorf mit 36 Einwohnern, 5000 Schafen und einer unbestimmbaren Anzahl von Hunden.

Daraus konnte man schließen, dass der Kompass nach Nikolski zeigte - eine Erkenntnis, die mich durchaus befriedigte, auch wenn sie den Nachteil hatte, das Ganze eher zu verschleiern als zu erklären.

Es kann nicht alles perfekt sein.

Manchmal fragt ein Kunde, was das denn für ein komischer Talisman sei, den ich da um den Hals trage. Ich antworte dann:

"Ein Nikolski-Kompass."

Der Kunde lächelt ohne zu verstehen und wechselt höflich das Thema. Er fragt beispielsweise, in welcher Abteilung bei uns die Bob Morane stehen.

Vielleicht sollte ich dazu sagen, dass ich nicht in einem Geographischen Institut oder Globus-Laden arbeite. Eigentlich ist S. W. Gam Inc. ein Geschäft, das sich ausschließlich dem Erwerb und dem Wiederverkauf von gebrauchten Büchern widmet. In anderen Worten, eine Antiquariatsbuchhandlung. Eines schönen Herbstes, als ich gerade vierzehn war, hat mich Madame Dubeau, meine geschätzte Chefin, eingestellt. Ich verdiente damals 2,50 $ die Stunde und akzeptierte das miserable Gehalt ohne Weiteres, allein um inmitten all dieser Büchern zu thronen und nichts anderes tun zu müssen, als zu lesen.

Ich arbeite hier seit nunmehr vier Jahren, eine Zeitspanne, die sich um einiges länger anfühlt, als sie in Wirklichkeit ist. In der Zwischenzeit bin ich mit der Schule fertig geworden, meine Mutter ist gestorben und meine wenigen Jugendfreunde sind von der Bildfläche verschwunden. Einer von ihnen ist mit einem alten Chrysler nach Mittelamerika abgehauen und man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Ein zweiter studiert Meeresbiologie an einer norwegischen Uni. Kein Lebenszeichen. Und die übrigen haben sich ganz einfach in Luft aufgelöst, vom Leben verschlungen.

Und ich sitze immer noch in der Buchhandlung hinter dem Tresen, habe aber einen erstklassigen Blick auf die Rue Saint-Laurent.

Meine Arbeit ist eher eine Berufung als ein normaler Beruf. Die Stille bietet Gelegenheit zur Meditation, das Gehalt tut dem Armutsgelübde Genüge und die Arbeitsausstattung entspricht voll und ganz klösterlichem Minimalismus. Keine hochmoderne Registrierkasse, alle Preise werden ganz nach der alten Schule auf dem erstbesten Fetzen Papier von Hand zusammengerechnet. EDV-unterstützte Warenwirtschaft gibt es auch keine: Ich bin selbst der Computer und muss mich auf Knopfdruck daran erinnern, wo ich beispielsweise diese Esperanto- Übersetzung von Dharma Bums zum letzten Mal gesehen habe. (Antwort: auf dem Klo hinter den Rohrleitungen des Waschbeckens.)

Die Arbeit ist nicht so einfach, wie sie scheint: Die Buchhandlung S. W. Gam ist einer dieser Winkel im Kosmos, wo der Mensch seit langem die Kontrolle über die Materie verloren hat. Auf jedem Regalbrett stehen die Bücher in drei Reihen und die Fußböden verschwinden unter Dutzenden von Kisten, zwischen denen sich enge Pfade für die Kunden hindurchschlängeln. Auch die kleinsten Zwischenräume werden genutzt: unter der Kaffeemaschine, zwischen Möbeln und Wänden, im Spülkasten der Toilette, unter der Treppe und bis in die kleinsten, staubigen Nischen unter dem Giebel. In unserem Ordnungssystem befinden sich Mikroklimate, unsichtbare Grenzen, Flöze, Müllhalden, ungeordnete Giftschränke, weite Ebenen ohne sichtbare Orientierungspunkte - eine komplexe Kartografie, die im Wesentlichen von einem guten visuellen Gedächtnis abhängt, ohne das man in diesem Metier nicht lange bestehen kann.

Doch um hier zu arbeiten, braucht es mehr als gute Augen und ein paar Löffel Grips. Man muss zusätzlich über eine ganz besondere Zeitwahrnehmung verfügen. Tatsache ist, dass - wie soll ich sagen? - verschiedene Zustände unserer Buchhandlung in mehreren Zeiträumen parallel nebeneinander bestehen und nur von schmalen Spalten getrennt sind.

Dieses Bild verlangt zweifellos nach einer Erklärung.

Jedes Buch, das hier ankommt, kann zu einem Zeitpunkt auf seinen nächsten Leser treffen, der sich irgendwo in der Zukunft oder in der Vergangenheit befindet. Beim Sortieren von neuen Lieferungen schlägt Madame Dubeau unablässig in in ihrer Enzyklopädie Lavoisier nach - einem Bündel von dreißig Heften, in denen sie seit dem Februar 1971 alle außergewöhnlichen Kundenanfragen vermerkt hat -, um sich zu vergewissern, ob nicht zehn Jahre zuvor jemand nach einem der frisch eingetroffenen Bücher gefragt hatte.

Von Zeit zu Zeit greift sie mit einem Siegerlächeln zum Telefon.

"Monsieur Tremblay? Hier Andree Dubeau von der Buchhandlung S. W. Gam. Sie haben Glück, wir haben soeben die Geschichte des Walfangs in Fairbanks im 18. Jahrhundert reinbekommen!"

Monsieur Tremblay am anderen Ende der Leitung muss ein Schaudern unterdrücken. Plötzlich sind die strahlend weißen Eisberge, die im Rekordsommer 1987 seine Träume durchzogen haben, zum Greifen nah.

"Ich komme sofort!", haucht er fieberhaft, als würde man ihn an eine wichtige Verabredung erinnern.

Madame Dubeau streicht die Anfrage aus und schließt die Enzyklopädie Lavoisier. Auftrag erfüllt.

Teil 3