Vorgeblättert

Leseprobe zu Siegfried Jägendorf: Das Wunder von Moghilev. Teil 2

20.08.2009.
3 | DIE TURNATORIA

Ich suchte mir ein paar junge Männer, die die Stadt nach einer aufgelassenen Maschinenfabrik durchsuchen sollten. Sie entdeckten eine große Gießerei und eine Fabrik für Metallverarbeitung in der Nähe des Flusses. Nachdem wir die Erlaubnis eingeholt hatten, das bewachte Gelände zu besichtigen, betraten wir zu fünft das Hauptgebäude. Uns bot sich ein trauriger Anblick: das eingestürzte Dach, eingeschlagene Fenster, bröckelnde Wände, der Boden mit Schutt bedeckt. Wir untersuchten den Dieselgenerator, die Dreh- und Stanzmaschinen, die alle von den Russen bei ihrem Rückzug in einem überstürzten Sabotageakt unbrauchbar gemacht worden waren.
     Wir fünf standen schweigend da, Chancen und Alternativen abwägend. Ich schloss die Augen und stellte mir die Geschäftigkeit von Hunderten von Juden bei der Arbeit vor, die laufenden Maschinen, alles in Bewegung. Dann verkündete ich: "Wir werden sie wieder aufbauen!" Es war der 3. November 1941.
     Ich eilte mit den Neuigkeiten zu Colonel Baleanu. Er wollte die Anlagen unverzüglich sehen und lud mich ein, in seinem Wagen mitzufahren. Nie werde ich die erstaunten Blicke in den Gesichtern der Juden vergessen, die mich neben dem Präfekten von Moghilev auf dem Rücksitz des Wagens sahen.
     Gemeinsam gingen wir durch jedes Gebäude, inspizierten die Maschinen und machten eine Bestandsaufnahme des Rohmaterials. Der Präfekt wandte sich schließlich zu mir und sagte: "Ich bezweifle, dass es Ihnen gelingen wird, aus diesem Schlamassel etwas zustande zu bringen. Vergessen Sie nicht, der Winter hier ist lang und streng."
     "Wir werden es schaffen", versicherte ich ihm, "wenn wir mindestens hundert Mann haben."
     "Sind Sie verrückt? Ich habe Ihnen gesagt, dass Juden hier nicht bleiben können. Ich habe nur in Ihrem Fall eine Ausnahme gemacht, weil der deutsche Kommandant bereit war wegzuschauen. Damit wird er niemals einverstanden sein."
     "Herr Präfekt, wir können die Arbeit nicht mit nur vier oder fünf Männern bewältigen. Wir brauchen ein Kontrollkomitee zur Überwachung der Arbeiten und Dutzende fähiger Handwerker, die das Werkzeug für die Reparaturen der Maschinen anfertigen. Ich versichere Ihnen, es gibt keinen anderen Weg, um die Elektrizität für die Stadt wieder in Gang zu setzen. Billigen Sie meine Forderung, Herr Präfekt; niemand wird an Ihnen etwas auszusetzen haben, wenn sie einige Juden zwingen, für den Staat zu arbeiten."
     Wie ich erwartet hatte, siegte bei Colonel Ion Baleanu der Geschäftssinn über die Korrektheit. Er wies Herrn Fuciu an, die Genehmigungen zu erteilen und befahl dem Wachpersonal, meinen Anweisungen zu folgen. In diesem Moment konnte ich meine Freude kaum verbergen.
     Als ich aber zum Kino zurückging, packten mich Zweifel. Das Schreckgespenst der klaffenden Decken und ausgeschlachteten Motoren in der Fabrik ließ meine Hoffnung schwinden. Wie sollten wir ohne Werkzeuge die Maschinenteile ersetzen? Die Behörden würden unser Versagen mit Genugtuung beobachten, als Beweis unserer Wertlosigkeit. Ich fürchtete, dass mein Pakt mit dem Präfekten das Verhängnis war, nicht die Befreiung.
     Im Kinosaal sagte mir Hilda, die Leute erzählten, ich sei verrückt geworden. Vielleicht war es verrückt zu glauben, wir Juden könnten uns über unser Elend hinwegsetzen und für ein Wunder sorgen? Doch ich war überzeugt, dass diese Fabrik, die wir "Turnatoria" [rumänisch: Gießerei] nannten, unsere einzige Hoffnung war.
     Am nächsten Tag richteten wir eine Art Personalbüro ein und begannen, befähigte Handwerker und Fachleute zu suchen. Unzählige Bewerber belagerten uns. Wir prüften sie eingehend und entschieden uns für die Qualifiziertesten, die ihr Können als Schreiner, Buchhalter, Elektriker oder Schlosser unter Beweis stellen mussten. Wir versuchten auch jüdische Informanten zu identifizieren, die von unterschiedlichen Behörden angeheuert worden wa-ren, um die Turnatoria zu überwachen. Unsere Glaubwürdigkeit stand auf dem Spiel; wir mussten jeden Anschein einer Unregelmäßigkeit vermeiden, besonders den Deutschen gegenüber, die uns als "Nicht-Zuständige" im Auge behielten.
     Am Abend suchte ich Herrn Fuciu in der Präfektur auf und übergab ihm eine Liste mit 116 Namen. Dann erklärte ich ihm, dass auch die Familienangehörigen eine Aufenthaltserlaubnis für Moghilev erhalten müssten. Wir könnten keine große Produktivität von Männern erwarten, die in Angst um ihre in irgendwelche Zwangslager verschleppten Angehörigen leben mussten. Er stimmte zu und bat mich, am nächsten Tag mit einem Verzeichnis der Familienmitglieder unserer Arbeiter wiederzukommen. Herr Fuciu konnte die Richtigkeit der Angaben nicht überprüfen, denn die Grenzsoldaten hatten alle Dokumente konfisziert. Schließlich und endlich erhielt ich die Bewilligungen für fast 1200 Menschen!
     Der Präfekt war damit einverstanden, die Arbeiter und ihre Familien in einem Schulgebäude neben der Turnatoria unterzubringen. Wir reparierten das Dach und die Fenster und benutzten dafür Material aus dem riesigen Vorrat der ausgebombten Häuser der Stadt. Jedes Klassenzimmer beherbergte ungefähr 30 Menschen. Unsere Schreiner errichteten Trennwände, Deckenwände und Stockbetten, um die engen Quartiere aufzuteilen. Unser Ingenieursstab bezog ein separates Gebäude, das vorher von ukrainischen Fabrikangestellten bewohnt worden war. Weitere Gebäude wurden angefordert und instand gesetzt, um eine Überbelegung zu vermeiden. Wir setzten eine besondere Kommission ein, um eine gerechte Verteilung des begrenzten Raumes zu garantieren, bestimmten einen Verwalter für jedes Haus, um strikte Disziplin zu wahren und Streit zwischen den Bewohnern zu schlichten. Ein Wachmann sorgte für das Einhalten der verhängten Ausgangssperren und verwehrte nicht autorisierten Gästen den Zutritt.
     In der Turnatoria waren Aufräumarbeiten am dringlichsten. Architekt Samuel Kurzweil entdeckte einen großen Lagerplatz voller Rohmaterial - Blech, Bronze, Koks und Bauholz -, das die fliehenden Russen unter einer Menge Abfall versteckt hatten. In einem geschützten Winkel der Turnatoria war eine Gruppe von Schmieden und Werkzeugmachern damit beschäftigt, Werkzeuge aus Alteisen herzustellen. Eine andere Gruppe durchstöberte die Stadt nach wieder verwendbarem Dachmaterial, Glas und Bauholz. Einige unserer Männer waren zu schwach und konnten nur auf dem Boden liegend arbeiten. Es mangelte an Essen und an Medizin, um ihnen zu helfen.
     Wir teilten die Turnatoria in fünf Abteilungen auf, die jede von einem erfahrenen Fachmann geleitet wurde: Architekt Samuel Kurzweil für Architektur und Konstruktion; Ingenieur Leo Litmann für Gießerei und Gussformen; Ingenieur Max Schmidt für Drehbänke und Energie und Ingenieur Leopold Rauch für Stanzmaschinen und Werkzeugbau. Pinkas Katz, der Generalinspektor, überwachte das gesamte Werk und beschaffte die notwendigen Materialien. Er erstattete Bericht direkt an mich.
     Da dem Präfekten keine anderen ausgebildeten Arbeiter zur Verfügung standen, beauftragte er uns, eine Gruppe Schreiner und einen Architekten bereitzustellen, um beim Bau einer Holzbrücke über den Dnjestr zu helfen. Wir waren knapp an Schreinern und schickten Ungelernte. Wer sollte nicht lernen, mit einem Hammer und einer Säge umzugehen, wenn sein Leben davon abhing? Zum Glück erwies sich der Offizier vor Ort als anständig. Er war dankbar für die zusätzlichen Hände und übersah deren offensichtliche Unbeholfenheit.
     Währenddessen arbeitete ein Team unserer Elektroingenieure und Mechaniker am Städtischen Elektrizitätswerk und brachte die Reparaturen in weniger als zwei Wochen zu Ende. Als ich dem Präfekten den Erfolg mitteilte, starrte er mich ungläubig an. In den folgenden Tagen versorgten wir das Postamt, die Zentrale des Geheimdienstes sowie die Turnatoria mit Strom. Der dreimonatige Stromausfall in Moghilev endete mit dem Wiederaufleuchten der elektrischen Straßenlaternen. Ich war das Stadtgespräch.
     Die Deutschen beschafften sich weitere Informationen über mich von einem Soldaten, der in Moghilev stationiert war und dessen Vater mein Chauffeur war, als ich für Siemens-Schuckert in Wien arbeitete. Ich begegnete auch einem deutschen Leutnant, dem Sohn eines Siemens-Schuckert-Ingenieurs aus meiner früheren Abteilung. Einige Rumänen erinnerten sich an mich aus meinen Tagen bei Siemens in Cernowitz. All diese Verbindungen verstärkten mein Image als kompetenter Fabrikdirektor.
     Die Behörden beauftragten uns, die zerstörten Verwaltungsgebäude in Stand zu setzen, angefangen bei den Büros der Präfektur und der Polizei. Ich verlangte hunderte zusätzliche Bewilligungen, welche Colonel Baleanu nun mit Routine unterschrieb. Der Präfekt befehligte eine Armee von Sklaven, die bereit waren nach seiner Pfeife zu tanzen und dafür nicht mehr als abgestempelte Zettel eintauschten, die unsere dürftige Verbindung zur zivilisierten Welt bestätigten.


4 | ERLASS NR. 23


Gegen Mitte November bezeichneten die Behörden Moghilev nicht mehr als eine für Juden gesperrte Stadt. Wir unternahmen jede Anstrengung, um neue Stellen für so viele Deportierte wie möglich zu schaffen trotz des absehbaren Mangels an Nahrungsmitteln und Unterkünften. Wir stellten auch ortsansässige Juden ein, die ihre dürftigen Essensvorräte mit uns teilten; sie bestanden hauptsächlich aus dünner Kohlsuppe und einem Stück Brot. Um weitere Bewilligungen abzusichern, bot ich dem ukrainischen Major Alexander Ivanov Arbeiter für Straßenreparaturen und zum Einsammeln von Müll an. Er hasste Juden, aber da der Präfekt und der deutsche Kommandant von uns zu profitieren schienen, warum sollte er es nicht auch tun? Ivanovs Anfrage nach Bewilligungsscheinen wurde vom Präfekten gewährt, sodass sich noch mehr Juden in der Stadt aufhalten konnten.
     Moghilev hatte ein Sägewerk, das wie alles andere zerstört worden war. Obwohl es zu dieser Zeit keine Möglichkeit gab, Holz den Dnjestr abwärts zu flößen, um das Sägewerk zu betreiben, verlangte ich Bewilligungen für jüdische Arbeiter, um die Anlage wieder betriebsfähig zu machen - und erhielt sie.
     Wir halfen auch, Moghilevs kaputte Mühlen und Obstpressen wieder aufzubauen; sie waren die wichtigsten Sammelstellen für die Weiterverarbeitung im fruchtbaren Dnjestr-Tal. Die Deutschen brauchten kaum überzeugt zu werden, dass die Wiederaufnahme der Lebensmittelproduktion im Distrikt die Nahrungsmittelknappheit an der Front mildern würde.
     Wenn es den Anschein hat, dass wir für den Feind gearbeitet haben, so müssen wir fragen: Wer war unser Feind - Deutsche und Rumänen, die uns heute vernichteten, oder die Russen, die uns morgen unterjochten? Der Feind war einzig und allein der Tod, und unsere einzige Aufgabe bestand darin, zu überleben.
     Zu dieser Zeit waren über 10 000 Juden in der Produktion beschäftigt, aber keiner von ihnen bekam eine einzige RKKS-Mark [Reichskreditkassenschein = deutsches Besatzungsgeld). Unsere Leute waren gezwungen, Kleider gegen Eßbares zu tauschen und riskierten dann in der Kälte den Tod. Wer sich aber nicht von seinen Kleidern trennen konnte, dem drohte der Hungertod. Ganze Familien verschwanden, lagen erfroren da, unbemerkt bis zur Frühjahrsschmelze, bis der Gestank ganz Moghilev erschreckte.
     Ich beschloss, Bewilligungen für spezielle Berufe zu erbitten. Wir brauchten Ärzte, Zahnärzte, Friseure, Schneider, Köche, Schuhmacher.
     Colonel Baleanu widerstand meiner Bitte und beklagte sich, dass seine Vorgesetzten in Odessa, der Hauptstadt Transnistriens, und auch die Deutschen ihn verdächtigten, ein Judenfreund zu sein.
     "Ich muß diesem Verdacht ein Ende bereiten", sagte er, "um Ihretwegen und um meinetwegen."
     "Herr Präfekt", sagte ich, "Sie wissen, was wir in dieser kurzen Zeit für die Stadt getan haben. Unsere Anwesenheit hier wird nur wegen unserer Leistungen genehmigt, nicht aus Mitleid oder Freundlichkeit."
     "Ja, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass ich umso mehr Schwierigkeiten bekomme je größer Ihre Leistungen sind. In unserem beiderseitigen Interesse verlange ich von Ihnen, ohne diese zusätzlichen Leute auszukommen."
     "Ich glaube nicht, dass sich am Status quo etwas ändern wird, wenn Sie meinen Antrag genehmigen. Befolgen Sie das deutsche Sprichwort: ?Tue recht und fürchte dich nicht?. Herr Präfekt, ich versichere Ihnen, wir werden niemals vergessen, was Sie für uns getan haben. Für uns bedeuten diese Genehmigungen Leben oder Tod; für Sie kann die Angelegenheit höchstens eine Versetzung zur Folge haben. Natürlich wäre es ein großer Schlag für uns, wenn wir Sie verlieren würden. Ich werde mein Bestes tun, Ihr Ansehen zu verbessern, indem ich mich bei jeder Gelegenheit über Ihre Grausamkeit beklage."
     Colonel Baleanu bestätigte die Genehmigungen nur äußerst widerwillig. Ein paar Tage später lud er mich zu einem Treffen mit den Leitern der Stadtverwaltung und einigen deutschen Beobachtern ein. Der Präfekt erläuterte die bereits bestehenden Wiederaufbauprojekte und präzisierte die weiteren Ziele. Am Ende der Sitzung bestimmte er mich zum Koordinator der öffentlichen Arbeiten. Ich nahm die Gelegenheit wahr und protestierte gegen seine unzumutbaren Forderungen und gegen die bestehenden Zustände, dass Juden viele Stunden in der Kälte arbeiten mussten, ohne Essen, Mäntel, Brennmaterial oder Unterkünfte. Nicht einmal Tiere würde man mit leerem Magen auf die Felder schicken! Der Präfekt erwiderte scharf: "Ich habe keinen Befehl erhalten, Juden ein Gehalt zu zahlen."
     Auf die Sympathie oder Unterstützung durch die heimischen Ukrainer konnten wir genauso wenig zählen, wie auf die der Rumänen oder der Deutschen. Unsere Leute wurden überfallen und ermordet ohne irgendwelche Folgen. Unser zivilrechtlicher Status blieb bis zum 11. November 1941 ungeklärt, bis zu jenem Tag als Marschall Antonescu und der Gouverneur von Transnistrien, Gheorghe Alexianu, den Erlass Nr. 23 unterzeichneten, eine Reihe von Gesetzen, die Transnistrien zur Strafkolonie machten, die in 13 Distrikte aufgeteilt war. Die Verordnung gestand den Deportierten Arbeitserlaubnis und Selbstverwaltung zu, wobei unsere Bewegungsfreiheit strikt eingeschränkt wurde. Juden, die außerhalb ihrer ausgewiesenen Wohnviertel aufgegriffen wurden, riskierten als Spione standrechtlich erschossen zu werden. Der Erlass schrieb vor, dass jedes Lager und Ghetto einen jüdischen Aufseher einsetzen musste, der für die Einhaltung aller administrativen und polizeilichen Verordnungen verantwortlich gemacht wurde. Jeder Jude war verpflichtet, sich bei den rumänischen Behörden registrieren zu lassen und jederzeit einen Ausweis bei sich zu tragen, auf dem Name, Nationalität, Religion, Alter, Beruf und Geburtsort eingetragen waren.
          Der Erlass Nr. 23 berechtigte Händler und Fachkräfte, in ihrem Beruf zu arbeiten gegen einen Lohn von 2 RKKS-Mark [80 Cent] pro Tag. Ungelernte Arbeiter sollten 1 RKKS-Mark pro Tag erhalten für Arbeiten wie Straßen reparieren, Schutt wegräumen oder Waldarbeiten. Mit Regierungserlaubnis durften jüdische Fachleute in lebenswichtigen Fertigungsbetrieben arbeiten.
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Teil 3

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