Vorgeblättert

Leseprobe zu Vaddey Ratner: Im Schatten des Banyanbaums. Teil 3

10.02.2014.
Ich wartete, bis Großmutter Königin den ersten Bissen nahm, bevor ich den Deckel von meiner Suppenschale hob; der aufsteigende Dampf kitzelte an meiner Nase. Vorsichtig führte ich einen Löffel heißer Brühe zum Mund.
"Pass auf", ermahnte mich Mama von der gegenüberliegenden Tischseite, als sie sich ihre Serviette auf den Schoß legte. "Du wirst dir noch die Zunge verbrennen." Sie lächelte.
Ich starrte sie verzaubert an. Vielleicht hatte ich nun doch einen Neujahrs-Tevoda gesehen.
"Ich dachte, ich mache nach dem Frühstück einen Besuch beim Toul-Tumpong-Tempel", sagte sie an Papa gewandt. "Meine Schwester schickt ihren Chauffeur. Ich fahre mit ihr, dann ist unser Wagen frei, falls du etwas unternehmen willst."
Doch Papa hatte den Kopf in die Zeitung gesteckt und las. Diskret in die übliche braune Wickelhose und ein beigefarbenes Hemd gekleidet, wirkte Papa so schlicht, wie Mama strahlend war.
Er griff nach der Tasse vor sich und nippte am heißen Kaffee mit Kondensmilch. Den Rest seines Frühstücks hatte er bereits vergessen, derart vertieft war er in die Nachrichten. Und Mama hatte er gar nicht gehört.
Sie seufzte und ließ ihn in Ruhe, denn sie wollte sich nicht ihre gute Laune verderben lassen.
Vom einen Tischende her sagte Tata: "Es tut euch sicher gut, mal ein bisschen herauszukommen." Tata war Papas älteste Schwester - Halbschwester, um genau zu sein, aus Großmutter Königins erster Ehe mit einem Norodom-Prinzen. Tata war nicht ihr richtiger Name, aber als Baby hatte ich sie offenbar "meine Tata" getauft. Der Name war ihr geblieben, und inzwischen nannte sie jeder so, sogar Großmutter Königin, die momentan am anderen Ende des Tisches regierte, behaglich eingerichtet in ihrem ehrwürdigen Alter und der Demenz. Ich glaubte inzwischen, dass Großmutter als Prinzessin aus dem Mechas-Clan - Preah Ang Mechas Ksatrey - schwieriger zu fassen war als die Tevodas. Als "Königin" dieser Familie war sie die meiste Zeit unerreichbar.
"Ich bleib nicht lang", sagte Mama. "Ein Gebet bloß, dann komm ich zurück. Ich fände es nicht richtig, das neue Jahr ohne Beten zu beginnen."
Tata nickte. "Das Fest ist eine hervorragende Idee, Aana." Sie sah sich um, und, da sie feststellte, dass die Vorbereitungen zur Neujahrsfeier in vollem Gang waren, schien mit dem Tagesbeginn zufrieden.
Im Kochpavillon hatte Om Bao begonnen, die erste Portion der traditionellen Neujahrs-Num Ansom zu dämpfen, in Bananenblätter gewickelte Klebreiskuchen. Wir würden sie in den kommenden Tagen an Freunde und Nachbarn verteilen. Auf dem Balkon des Haupthauses bohnerten die Dienstmädchen auf Händen und Knien den Boden und die Brüstung. Sie tröpfelten geschmolzenes Bienenwachs aufs Teakholz und rieben es ein. Unter ihnen fegte Alter Junge. Er hatte das Geisterhäuschen abgestaubt und poliert, sodass es nun strahlend auf seinem goldenen Sockel unter dem Banyanbaum stand wie ein Miniaturtempel. Ein paar Jasminblütenstränge schmückten seine zierlichen Säulen und die Dachspitze, und vorn am Eingang steckten in einer Tonschale mit Reiskörnern drei Räucherstäbchen - eine Opfergabe an die drei schützenden Instanzen: die Vorfahren, die Tevodas und die Schutzgeister. Alle waren sie anwesend, beobachteten uns und hielten Schaden von uns fern. Wir brauchten nichts zu befürchten, sagte Milchmutter immer. Solange wir uns in diesen Mauern aufhielten, konnte der Krieg uns nichts anhaben.
"Ich habe kein Auge zugetan." Tata nahm das Gespräch wieder auf und streute braunen Zucker aus einer kleinen Schale über ihren Klebreis. "Gestern Nacht war es furchtbar heiß, und die Bombardierungen waren so schlimm wie noch nie."
Mama legte behutsam ihre Gabel nieder und bemühte sich, nicht zu zeigen, wie aufgebracht sie war. Ich wusste trotzdem, was sie dachte: Können wir nicht einmal von etwas anderem reden? Doch als Schwägerin und Bürgerliche unter Adligen durfte sie nicht einfach mit etwas herausplatzen oder Tata belehren, worüber sie zu sprechen hatte, oder das Thema wechseln. Nein, das wäre un­ehr­erbietig gewesen. Unsere Familie ist wie ein Blumenstrauß, Raami, jeder Stängel und jede Blüte sind perfekt arrangiert, würde sie sagen, um mir zu verstehen zu geben, dass unsere Benimmregeln nicht bloß ein Spiel oder Ritual, sondern eine Kunstform waren.
Tata wandte sich an Großmutter Königin am anderen Tischende. "Findest du nicht auch, Mechas Mae?", fragte sie in der Hofsprache.
"Was?", fragte Großmutter Königin, halb taub und noch halb im Tagtraum.
"Die Bombardierungen!", wiederholte Tata und schrie fast dabei. "Fandest du es nicht auch schrecklich?"
"Welche Bombardierungen?"
Ich unterdrückte ein Kichern. Ein Gespräch mit Großmutter Königin war, als riefe man in einen Tunnel. Was man auch sagte, es kam immer nur das Echo der eigenen Worte zurück.
Papa sah von der Zeitung auf und wollte gerade etwas sagen, als Om Bao mit einem Silbertablett und dem allmorgendlich von ihr zubereiteten Basilikumsamensaft in den Pavillon trat. Sie stellte vor jeden von uns ein Glas. Ich legte die Nasenspitze auf den Glasrand und inhalierte den göttlichen Duft. Om Bao hatte ihr Getränk - ein Gemisch aus eingeweichten Basilikumsamen und Rohrzucker in eiskaltem Wasser, parfümiert mit Jasminblüten - "kleine Mädchen auf Eiersuche" getauft. Als Alter Junge die Blüten am frühen Morgen gepflückt hatte, waren sie noch fest geschlossen gewesen, nun aber öffneten sie sich wie die Röcke von kleinen Mädchen, die ihre Köpfe ins Wasser tauchten - um nach Eiern zu suchen! Es war mir noch gar nicht aufgefallen, aber die Basilikumsamen sahen tatsächlich aus wie durchsichtige Fischeier. Hocherfreut über meine Entdeckung, staunte ich in mein Glas.
"Setz dich gerade hin", befahl Mama, inzwischen ohne jedes Lächeln.
Ich zog die Nase zurück und richtete mich auf. Papa zwinkerte mir komplizenhaft zu. Er nahm einen kleinen Schluck aus seinem Glas, sah erstaunt hoch und rief: "Om Bao, hast du dein süßes Händchen verloren?"
"Es tut mir schrecklich leid, Euer Hoheit …" Sie blickte nervös zwischen Papa und Mama hin und her. "Ich habe versucht, ein wenig Rohrzucker einzusparen. Wir haben nicht mehr viel, und derzeit ist kaum welcher auf dem Markt zu bekommen." Sie schüttelte bekümmert den Kopf. "Eure Dienerin ist untröstlich, dass es nicht süß genug ist, Euer Hoheit." Wenn Om Bao nervös war, neigte sie zu Förmlichkeiten und allzu großer Geschwätzigkeit. "Eure Dienerin ist untröstlich", klang umso hochgestochener, da ich gleich gegenüber von Seiner Hoheit meine Suppe aufschlabberte wie ein Hundewelpe. "Möchten Eure Hoheit …"
"Nein, es ist genau richtig." Papa trank das Glas leer. "Köstlich!"
Om Bao lächelte, und ihre Backen gingen auf wie der in der ­Küche vor sich hindampfende Reiskuchen. Sie verneigte sich, verneigte sich wieder, ihr ausladendes Hinterteil hüpfte auf und nieder, als sie sich rückwärts entfernte, bis der Abstand gebührend groß war, um sich umzudrehen. Auf den Stufen des Kochpavillons nahm ihr Alter Junge, beflissen wie immer, das leere Tablett ab. Er wirkte etwas aufgewühlt. Vielleicht fürchtete er, ich könnte Großmutter Königin, die sich jedwede Sympathiebekundung unter Dienstboten verbat, von seiner und Om Baos morgendlicher Tändelei berichten. Om Bao tätschelte ihm beschwichtigend den Arm. Nein, nein, keine Sorge, schien sie zu sagen. Offensichtlich erleichtert, schaute er sich nach mir um. Ich zwinkerte ihm zu. Und zum zweiten Mal an diesem Morgen grinste er mich breit an.
Papa nahm seine Lektüre wieder auf. Er blätterte in der Zeitung herum und raschelte leise mit den Seiten. Ich reckte den Hals, um die Schlagzeile auf der ersten Seite zu entziffern: "Khmer Krahom kesseln die Stadt ein."
Khmer Krahom? Rote Khmer? Wer hatte denn jemals von so etwas gehört? Wir waren doch alle Kambodschaner - oder "Khmer", wie wir uns selbst nannten. Ich stellte mir knallrot angemalte Menschen vor, die in die Stadt eindrangen und durch die Straßen wuselten wie Schwärme roter Stechameisen. Ich musste laut lachen und verschluckte mich fast an meinem Basilikumgetränk.
Mama warf mir wieder einen warnenden Blick zu, ihre Verärgerung war inzwischen unübersehbar. Der Morgen schien nicht nach ihren Vorstellungen zu verlaufen. Offenbar wollte jeder über nichts anderes sprechen als über den Krieg. Sogar Om Bao hatte darauf angespielt, als sie erwähnte, wie schwer man auf dem Markt Rohr­zucker bekam.
Ich versteckte das Gesicht hinter meinem Glas, verbarg meine Gedanken hinter den kleinen schwimmenden Jasminröckchen. Rote Khmer, Rote Khmer, die Worte summten mir im Kopf herum. Ich fragte mich, welche Farbe ich als Khmer hatte. Ich sah Papa an und beschloss: Was auch immer er war, war ich auch.
"Papa, bist du ein Roter Khmer?", brach es aus mir hervor.
Tata knallte ihr Glas auf den Tisch. Der ganze Hof versank in Stille. Nicht einmal die Luft schien sich zu bewegen. Mama funkelte mich an, und wenn einen ein Tevoda derart anfunkelt, geht man besser in Deckung, sonst verbrennt man.
Am liebsten hätte ich meinen Kopf in den Basilikumsaft eingetaucht und dort nach Fischeiern gesucht.

Am Nachmittag war es zu heiß für irgendwelche Tätigkeiten. Sämtliche Neujahrsvorbereitungen kamen zum Stillstand. Die Dienstmädchen hatten zu putzen aufgehört und kämmten und flochten einander das Haar auf der Treppe des Kochpavillons. Auf der langen, breiten Teakholzbank unter dem Banyanbaum saß Großmutter Königin und lehnte sich an den riesigen Stamm. Ihre Augen waren halb geschlossen, während sie sich mit einem runden Palmblattfächer Luft zufächelte. Zu ihren Füßen saß Milchmutter und wiegte Radana in einer von einem Ast herabhängenden Hängematte. Mit der einen Hand schaukelte sie die Hängematte, mit der anderen kraulte sie mir den Rücken, während mein Kopf in ihrem Schoß lag. Papa saß, an einen der geschnitzten Pfeiler gelehnt, allein im Speisepavillon auf dem Boden und schrieb in sein ledernes Notizbuch, das er immer bei sich trug. Aus dem Radio erklang die klassische Pinpeat-Musik. Milchmutter schlief beim Zuhören ein, aber ich war nicht müde und Radana auch nicht. Immer wieder hob sie ihr Gesichtchen aus der Hängematte und wollte mit mir spielen. "Fliegen", quiekte sie und packte nach meiner Hand. "Ich will fliegen!" Als ich nach ihrem Handgelenk griff, zog sie es weg, kicherte und patschte in die Hände. Milchmutter schlug die Augen auf, klatschte mir auf die Hand und steckte Radana den Schnuller in den Mund. Radana lehnte sich in die Hängematte zurück und nuckelte an ihrem Schnuller wie an einem Bonbon. Großmutter Königin schnalzte fordernd mit der Zunge, vielleicht hätte sie auch gern etwas zum Nuckeln gehabt.
Bald waren alle drei eingeschlafen. Großmutter Königins Fächer wedelte nicht mehr länger, Milchmutters Hand blieb auf meinem Rücken liegen, und Radanas rechtes Bein hing aus der Hängematte, drall und reglos wie eine Bambussprosse, die Glöckchen an ihrem Fußgelenk schwiegen.
Mama trat in den Hof. Sie war von ihrem Tempelbesuch zurück, der länger gedauert hatte als erwartet. Leise, um uns nicht zu ­wecken, erklomm sie die niedrigen Stufen zum Speisepavillon, setzte sich ­neben Papa und legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel. Papa ließ das Notizbuch sinken und wandte sich ihr zu. "Sie hat es nicht so gemeint, weißt du. Es war eine ganz harmlose Frage."
Er sprach von mir. Ich senkte die Lider, damit sie glaubten, ich schliefe.
Papa fuhr fort: "Les Khmer Rouge, Kommunisten, Marxisten … Wie immer wir Erwachsenen sie auch nennen, das sind bloß Wörter für ein Kind, nichts weiter als seltsame Laute. Sie weiß nicht, wer sie sind, noch was diese Wörter bedeuten."
Ich versuchte, die Namen im Stillen zu wiederholen - Les Khmers Rouges … Kommunisten … Sie klangen so ungewöhnlich und rätselhaft wie die Namen der mystischen Figuren in den Legenden vom Reamker, die ich immerzu las: wie die Devarajas, die Abkömmlinge von Göttern, oder der Dämon Rakshasa, der sie bekämpfte und ­dicke Kinder fraß.
"Früher hast du ihre Ansichten geteilt", sagte Mama und lehnte ihren Kopf an Papas Schulter. "Früher hast du mal an sie geglaubt."
Ich fragte mich, was das für eine Menschensorte war.
"Nein, nicht an sie. Nicht an die Leute, aber an ihre Ideale. Anstand, Gerechtigkeit, Integrität … Daran habe ich geglaubt und werde es auch weiterhin tun. Nicht nur meinetwegen, sondern auch wegen unserer Kinder. Das alles hier" - er sah sich im Hof um - "wird kommen und gehen, Aana, Privilegien, Wohlstand, unsere ­Titel und Namen sind vergänglich. Aber diese Ideale sind zeitlos, sie sind das Wesen der Menschlichkeit. Ich will, dass unsere Mädchen in einer Welt aufwachsen, in der zumindest diese Ideale gelten. Eine Welt ohne diese Ideale ist Wahnsinn."
"Und was ist mit dem derzeitigen Wahnsinn?"
"Ich hatte sehr gehofft, es würde nicht so weit kommen." Er seufzte. "Manche haben das Land schon bei den ersten Anzeichen von Aufruhr verlassen. Und jetzt sind auch noch die Amerikaner gegangen. Ja, die Demokratie ist besiegt worden. Und unsere Freunde bleiben nicht hier, um ihre Hinrichtung mitanzusehen. Sie sind gegangen, als es noch möglich war. Wer sollte ihnen das übel nehmen?"
"Was ist mit uns?", fragte Mama. "Was geschieht mit unserer Familie?"
Papa schwieg. Nach einer scheinbaren Ewigkeit sagte er dann: "Unter diesen Umständen ist es außerordentlich schwierig geworden, aber ich kann immer noch dafür sorgen, dass du und die Familie nach Frankreich gehen."
"Ich und die Familie? Und was ist mit dir?"
"Ich bleibe. So übel es auch aussehen mag, es gibt immer noch Hoffnung."
"Ohne dich geh ich nicht."
Er sah sie an, dann lehnte er sich hinüber und küsste ihren Nacken, seine Lippen tranken von ihrer Haut. Eine nach der anderen nahm er ihr die Blüten aus dem Haar, öffnete es und ließ es ihr über die Schultern fallen. Ich hielt die Luft an und versuchte, mich unsichtbar zu machen. Schweigend standen sie auf, gingen zur Vordertreppe, stiegen die frisch gebohnerten Stufen hinauf und verschwanden im Haus.
Auf der Teakholzbank schliefen noch alle. In der Ferne hörte ich ein Dröhnen. Es wurde lauter, fast ohrenbetäubend. Mein Herz klopfte, und mir brummten die Ohren. Ich sah auf, spähte über das rote Ziegeldach des Haupthauses hinweg, blickte über den Wipfel des Banyanbaums und die hochgewachsenen Palmen am Eingangstor. Dann sah ich ihn! Hoch oben am Himmel, wie eine riesige schwarze Libelle, deren Flügel die Luft durchschnitt.
Der Hubschrauber begann den Sinkflug und erstickte alle anderen Geräusche. Ich kletterte auf die Teakholzbank, um bessere Sicht zu haben. Plötzlich stieg er wieder auf und drehte ab. Ich streckte mich und versuchte, übers Tor zu schauen. Aber er war weg. Einfach so, komplett verschwunden, als wäre er nur ein Gedanke gewesen, ein eingebildetes Pünktchen am Himmel.
Dann … Pschkuuu! Pschkuuu! Pschkuuu!
Der Boden unter meinen Füßen bebte.

                                                   *

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlages
(Copyright Unionsverlag)


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