Vorgeblättert

Leseprobe zu Vladimir Zarev: Familienbrand. Teil 2

02.03.2009.
Assen ging den Boulevard des "Befreier"-Zaren entlang, der nach dem russischen Zaren Alexander II. benannt war, am Schloss vorbeiführte und wie eine Achse das ganze alte Zentrum durchschnitt. Kutschen überholten ihn, raschelnde Kleider und Automobile mit schmutzigen Speichen. Ein Piccolo in blauer Dienstuniform, die mit goldenen Tressen besetzt war, bohrte sich vor dem "Grandhotel Bulgaria"in der Nase. Er hielt erst vor dem Mineralbad neben den altrömischen Thermalquellen an und trank aus einem der Hähne das heiße, leicht schwefelhaltige Wasser. In seinem Magen blubberte es wie an heißen Tagen in den Widiner Sümpfen. Er schaute hoch zu dem Engelchen, das aus schlechter Bronze gegossen war, und sagte sich mit der nüchternen Müdigkeit des Profis, der etwas von seiner Arbeit verstand und allzeit bereit war: Hungrig sein - wundervoll ?

2

Seine Arbeit für die revolutionäre Zelle Bai Michals isolierte ihn extrem; doch die Einsamkeit in Sofia hatte er schon vor dem zustandekommen dieser Verbindung kennengelernt. Sie war für ihn nichts Neues, sondern etwas, das ihm seit seiner Kindheit vertraut war. Der Unterschied zwischen Widin und Sofia bestand nur darin, dass die Stadt, in der er aufgewachsen war, einem Fluss glich, einer einfachen und eindeutigen Richtung, in der immer wieder neu immer wieder das Gleiche floss, so dass eine Nähe zwischen den Menschen herrschte, die einen Anfang und Ende zusammen denken ließ. Sofia hingegen glich einem Meer, bei dem jede Bewegung gleichgültig und gedächtnislos wie eine Welle die vorhergehende Welle auslöschte. Ruhig in den Morgenstunden, wenn schlaftrunken Tische und Stühle vor die Cafes gestellt wurden und die kleinen Läden öffneten, in denen sich die Sofioter das dickflüssige Gerstengetränk Bosa kauften; wild wogend ab Nachmittag, wenn die Arbeiter ihre Fabriken verließen und die Kaufleute, Offiziere und Liebespärchen sich auf dem Boulevard des "Befreier"-Zaren zum Korso einfanden.

Seit er für das Bestattungsunternehmen "Alexiev & Sohn"arbeitete,
hatte er einen guten Einblick in die gewaltigen Dimensionen der Großstadt bekommen. Hier starben die Leute anonym. Nur ein paar bedruckte Zettel mit einem Nekrolog von der Stange, die traditionell im öffentlichen Raum aufgehängt wurden, folgten ihrem Tod. Sie wurden bald von Wind und Regen fortgetragen, aufgeweicht, und verschwanden in diesem Meer des Vergessens. Gemessen an der Größe dieses Meeres, war ihr Leben alles andere als ein Ereignis, ja es war sogar fraglich, ob es überhaupt sichtbar genug war, um ins Gedächtnis der Gemeinschaft einzugehen!

Eines Tages hatte Bai Michal ihn in seine "Zentrale"rufen lassen, einen Kellerraum, der früher als Weinkeller genutzt worden sein musste, denn er war vollgestellt mit alten undichten Fässern. Als Assen sich durch ein paar Schichten Spinnweb zu dem alten Strategen vorgearbeitet hatte, sagte dieser zur Begrüßung: "Wir haben von dir gehört, Genosse ? In Sofia wirst du dich mit etwas spezielleren Aufgaben befassen!"

Nachdem er einige konspirative Treffen hinter sich hatte, kam ihm das Mineralwasser aus den Thermalquellen schon nicht mehr heiß vor, und der Beigeschmack von Schwefel erinnerte ihn an den Geruch nach einem Pistolenschuss. Neben ihm hielt ein armer Rentner mit seligem Gesichtsausdruck seinen Mund unter das aus dem Hahn sprudelnde Nass; zu seiner anderen Seite wusch eine alte Frau mit Basedow-Augen ihre große Korbflasche aus. Die wichtigen Ratschläge Bai Michals kamen ihm in den Sinn. "Hütet euch vor denen, die ganz gewöhnlich aussehen, aber gute Überschuhe tragen. Auch vor den Schieläugigen. Besonders gefährlich sind die Kurzsichtigen! Aber auch die Glatzköpfigen und Verschwitzten, die Eleganten und die Behinderten. Achtung bei Leuten, die euch fragen, wie spät es ist oder wie sie zum Perlovska-Bach kommen. Nicht zu vergessen die Schweigsamen! Sehr gefährlich: die dünnen Bohnenstangen und die Tuberkulose-Kranken! Vor all diesen hütet euch, nehmt euch in Acht, passt auf - denn ihr müsst sauber am Ort des Geschehens eintreffen."

Assen linste aufs Zifferblatt der Uhr des in seiner Seligkeit erstarrten Rentners und sah, dass er noch eine halbe Stunde Zeit hatte. Er wischte sich den Mund ab und machte sich, ohne zu zögern, auf den Weg, um die Wartezeit auf das Labyrinth der Passagen der Graf-Ignatiev-Straße zu verteilen, wo es nach gewaschenen Bodenfliesen und nach Urin roch.


3

Ja, genau hier, sagte sich Assen erleichtert und atmete seufzend die ganze Leere seines Magens auf einmal aus. Im marmornen Vestibül des Justizpalastes war es kühl und feierlich wie auf einem Friedhof. Stimmen und Schritte dekorierten den Stein mit Echo und Nachhall. Genau hier, unter dem unversieglichen Wasserfall menschlicher Untaten.

Er hatte sich unter Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, gestellt, die in klassischer Weise auf dem riesigen Glasfenster abgebildet war, mit der Waage in der Hand und verbundenen Augen. "Justitia ist blind«, hatte Professor Jowtschev vom Katheder herab doziert, "aus folgendem Grund: Wäre sie es nicht, sondern sähe im Gegenteil alles, wäre die Folge eine Ordnung von barbarischer Grausamkeit, die uns die letzte Überlebenshoffnung rauben würde. Denn wer von uns ist schon vollkommen unschuldig? Wenn wir daher Justitia mit der unheilvollen Macht versehen haben, der Macht, uns zu richten, dann mussten wir ihr im Tausch dafür wenigstens so viel nehmen, dass sie uns nicht auslöschen konnte. In der Rechtsprechung, liebe Kollegen, ist die Lüge manchmal humaner als die Wahrhaftigkeit."

Assen hatte den Moment seiner Bestimmung sauber erreicht. Nun wartete er darauf, dass er und sein Kontaktmann sich kaum merklich anrempelten, so, als hätte eine Strömung sie aufeinandergeschubst. Dann würde er fragen: "Wissen Sie, wo das Zimmer von Richter Ankov ist?" Und jener müsste dann antworten: "Richter Ankov hat hier kein Zimmer!" Ein feines Lächeln des Erkennens würde sie einander gefährlich annähern. Und wenn Justitia, diese käufliche Dame, doch etwas sah?

Bei ihrer geheimen Zusammenkunft hatte Assen Bai Michal gefragt: "Hast du schon mal jemanden umgebracht?"Der aber musterte ihn nur, als sei er ein Feldweg, der sich in der Ferne verlor. Er schüttelte sein weiß gewordenes Haupt und antwortete: "Ich weiß es nicht." Diese Antwort hätte Professor Jowtschev gefallen. Er hätte sie, eingepfercht zwischen die Eichenschränke seines Sprechzimmers und die Attacken seines Heuschnupfens, als gedankliche Herausforderung zu allerlei Interpretationen aufgefasst, nicht aber als Realität. Denn er kannte nicht jene Räume im Keller der Bezirksverwaltung von Widin, wo der beste Schläger aus Bobozovs Riege mit der Sachkunde eines Chirurgen versucht hatte, Assen faustweise die Nieren aus dem Körper zu schlagen und seine letzten Hoffnungen auf Gerechtigkeit aus seinem ohnehin schon getrübten Bewusstsein. "Ich weiß es nicht", sagte Bai Michal - einfach nur, um aufrichtig zu sein und nichts Falsches zu sagen.

Assens Füße kribbelten und pochten. Er versuchte, sich auf die Wanduhr zu konzentrieren. Jener hatte schon über fünf Minuten Verspätung. Hatte er in seinem Bemühen, sauber zum Treffpunkt zu gelangen, aus Sicherheitsgründen einen Umweg gemacht? Oder war es ein Neuling und so aufgeregt, dass er beim Anblick des ersten schlafmützigen Polizisten wie auf Knopfdruck gesagt hatte: "Richter Ankov hat hier kein Zimmer"?

Die nächsten drei Minuten verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Aus der Nebentür zwängte sich ein älterer Schreiber mit Satin-Ärmelschonern; ein flinker Anwalt überzeugte einen bärtigen Dörfler von der Richtigkeit seiner Sicht der Dinge, und eine zwielichtige Gestalt, mit Sicherheit ein Zeuge, der berufsmäßig für das aussagte, was ihm am besten bezahlt wurde, zog seine Taschenuhr auf. Assen ahnte, dass jener wohl nicht mehr kommen würde. Der Zeitpunkt für das Treffen war abgelaufen. Jede weitere Minute des Verweilens war jetzt gefährlich. Er schaute in die in der Dämmerung erlöschende Blindheit Justitias und mahnte sich vernünftig: "Jetzt muss ich etwas essen."


4

In den Geschäftsräumen der Bestattungsfirma "Gutes Ende mit Alexiev & Sohn" war es still. Das Klappern der "Erika"-Schreibmaschine von Fräulein Pastuchova war verstummt, und Herr Alexiev, der Chef, der sich immer mit hinter dem Rücken verschränkten Armen und vorgerecktem Trommelbauch bewegte, über dem das Kettchen seiner silbernen Taschenuhr hüpfte, verstand sich aufs lautlose Gehen. Das Schaufenster war derart verschmutzt, dass das Licht nur trübe und schwach hindurchdrang. Das Regal war so gut wie leer, wenn man einmal vom Staub auf den Brettern absah. In dieser Firma erweckte es den Eindruck eines teuren Sarges, der als Ausstellungsstück diente. Über den Schreibtisch lagen Muster verstreut, von einfachem schwarzem Satin bis zu dunkelviolettem Samt, der glänzte wie das Fell eines Rassepferdes. Der einzige helle Gegenstand war ein kleiner Gips-Amor, der in den fernen Jugendtagen des Herrn Alexiev wohl einmal weiß gewesen sein musste, nun aber vergilbt war wie das Gesicht eines Toten.

"Einen Eichensarg, mit Stoff bezogen, in den angegebenen Maßen", fuhr Assen monoton fort, seine Bestellung weiterzugeben, bedrückt von seinem unterschwelligen Verlangen, das Fenster zu öffnen oder mit dem Ärmel den schmierig-verstaubten Lockenkopf der Armor-Statuette abzuwischen.

"Und was ist mit dem Grabstein?", unterbrach Herr Alexiev ihn schroff. "Mittelgroß, aus weißem Marmor. Darauf Engel mit ausgebreiteten Flügeln. Aufschrift: 'Ewig unvergessen'."


Teil 3