Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Elke Schmitter: Veras Tochter. Teil 2

13.03.2006.
Margarete Sartoris lebt in der Provinz. Sie ist verheiratet, hat eine wenig geliebte Tochter und eine wunderbare Schwiegermutter, fährt gern ihr eigenes Auto, mag ihren Job ..., aber sie langweilt sich. Als sie Michael kennenlernt, ist es um sie geschehen: Sie verfällt diesem Mann - Kulturamtsleiter der Stadt, Familienvater - und plant die gemeinsame Flucht. Ihrem Ehemann hinterläßt sie einen Abschiedsbrief, als sie bei Nacht und Nebel das Haus verläßt, um Michael an einer Autobahnauffahrt zu treffen. Sie wartet dort stundenlang; ihr ganzes Leben geht ihr noch einmal durch den Sinn ... Die Enttäuschung ist vorprogrammiert. Faszinierend ist die Geschichte dennoch - nicht nur wegen der präzisen Milieuschilderung, sondern auch wegen eines Kriminalfalls, in den Frau Sartoris verwickelt ist. Ein Mann ist zu Tode gekommen, durch einen Autounfall mit Fahrerflucht, und Margarete saß am Steuer, wie der Leser weiß ...
     Elke Schmitter: "Frau Sartoris" Roman
     BVT, 160 Seiten, 7,90 Euro


Etwas begriff ich sofort: Das konnte kein Zufall sein. Es war ein Schlag in die Mitte, einmal und tief, von einer riesigen Faust geführt. Mein Magen hob sich, ich hielt instinktiv die Hand vor den Mund und schloß die Augen, konzentrierte mich nur darauf, das Würgen niederzuhalten. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich wieder in den Spiegel sehen konnte, in ein erbleichtes Gesicht, mit einem erstarrten Ausdruck. Ich fror. Meine Füße tanzten unkontrolliert auf der Metallstange, die vorn am Stuhl befestigt war,während mein Oberkörper sich steif hielt wie eingegipst - und dieser Sascha oder Daniel weiter mit seiner Schere hantierte. Er war wohl mit einer Kontur beschäftigt, die seine volle Aufmerksamkeit beanspruchte, oder es war ihm öde geworden, um die meine zu werben; jedenfalls ließ er mich in Ruhe in diesen Minuten, die so waren, wie ein Schock eben ist: rasender Stillstand, hellwache Betäubung, fühlloser Schmerz, sinnlose Einsicht. Etwas war unbegreiflich, und etwas anderes faßte mich an, nicht zu widerrufen und unausweichlich. Natürlich gab es immer wieder, überall, absurde Ähnlichkeiten, merkwürdige Übereinstimmungen,und bestimmt ist dieWirklichkeit viel reicher und chaotischer, als wir erfassen können. Doch das konnte kein Zufall sein.

     Ich weiß nicht, mit wem meine Mutter darüber sprach. Sie hatte eine gute Freundin - "Busenfreundin", sagte man damals -, die nicht zu dem Kreis gehörte, der meine Eltern umgab: diese freundlichen übergewichtigen Menschen, die sommers bei uns im Garten saßen, Karten spielten und tranken, mit denen sie den Rhein hinauffuhren, einmal nach Dänemark und dann nach Paris. Aus Paris brachten sie mir ein Nachthemd mit, das einen rosa Spitzensaum hatte und mit kleinen Röschen bestickt war, verpackt in einem flachen Karton, unter Lagen von mintgrünem Seidenpapier, das betörend knisterte. Sie wechselten einen Blick, als ich das Hemdchen hochhielt und damit vor den Spiegel lief; ich fühlte mich unwohl dabei: als wäre das Ding nicht für mich bestimmt, als fände hier eine Aufführung statt, in der ich meine Rolle nicht kannte; ich stieß begeisterte Laute aus und tanzte ein bißchen herum - Position vier und fünf, eine Glissade und so weiter.Die beiden klatschten; im Hintergrund stand Hermine regungslos, was mich erst recht spüren ließ, daß etwas nicht ganz in Ordnung war. Aber ich kam nicht heraus aus der Rolle, die ich nicht kannte. Ich war wütend auf meinen Vater, daß er mich so schauspielern ließ; ich näherte mich tanzend der Treppe, das Ding auf den Rippenpulli geklebt (es war ein bordeauxroter Rollkragenpullover, in dem man schwitzte wie ein Schwein und der einen elektrisch auflud wie einen Zitterrochen), Arme und Hände flatternd- pathetisch gespreizt, und dann lief ich die Stufen hinauf,die achtzehn Stufen auf einem braungrün gemusterten Läufer, der die Schritte bremste und, trotz der Metallstäbe, damals schon nachgab und rutschte, lief anfangs scheinbar spielerisch, dann aber in wirklicher Eile, wollte, ich weiß nicht, warum, dieser Familienidylle entfliehen, hinauf in mein Zimmer unter dem Dach, zu Pferdepostern und Kassettenrecorder,lief immer schneller, stolperte schon vor der ersten Etage, fiel vornüber, schlug mit der Nase auf und stützte mich ab, hörte das Nachthemd reißen und sah, wie in einem Splattermovie, Blut in den gemusterten Teppich sickern und in den weißen Batist, durchbrochen und mit roten Röschen bestickt.
     Natürlich war das nur ein kurzer Moment. Schon des Teppichs wegen. Aber in meiner Erinnerung war es eine Ewigkeit, die ich dalag, hilflos und steif vor Schreck, noch fühllos in der Angst vor einem Wutausbruch und unfähig, mich zu bewegen, das Auge auf dieses Sickern gerichtet und auf den verlaufenden Fleck, die Hände in den Batist gekrallt und das Reißen des Stoffs noch im Ohr. Eine Ewigkeit, in der ich die anderen unter mir sah, durch das Geländer hindurch, eine Versammlung von Entsetzen und Fassungslosigkeit, jeder für sich erstarrt, ohne Verbindung. Denn so dick das Band zwischen Oma und meinem Vater war - sie hielten fast immer Kontakt, im Reden oder mit Blicken; er schob ihr ein Kissen in den Rücken, sie schenkte ihm Bier nach, sie teilten sich morgens die Zeitung, oft sangen sie auch zusammen -, an diesem Abend war es nicht da, oder noch nicht wieder da. Seit sie den Vorgartenweg hinaufgetrieben waren, schon ein bißchen zu eng für die beiden, nicht nur der Wintermäntel halber und der Wohlstandsdickleibigkeit, sondern auch wegen ihrer Bewegungen, ihrer agitierten Stimmen, dieser Wir-kommen- aus-Paris-Begeisterung, seit dieser Sekunde war es doch anders, als es sonst war; Oma und ich standen dabei wie Publikum bei einer Freilichtaufführung, aber es schien zu regnen, oder es war zu kalt, denn wir zogen uns unwillkürlich zusammen.Wir drückten uns in der Diele fast gegenseitig an die Wand; Vera trug einen neuen Hut, der nicht auf die Ablage paßte, zu breit in der Krempe, und den sie, lachend, "von jetzt an immer" aufbehalten würde, "auch im Bett!", und mein Vater hängte ihren dunkelblauen Popeline sorgsam auf einen Bügel und knöpfte ihn zu, als könnte er knittern. Wir schoben in die Küche - wir waren schließlich nur vier, doch in meiner Erinnerung fühlt es sich an wie ein Pulk, eine bewegliche, leicht bedrohliche Masse, deren Teil ich war, doch am Rand - und standen dort um den Tisch. Oma und ich hatten eine Platte mit Broten vorbereitet, mit Radieschen und Gürkchen verziert, und sie hatte ein altes Pappschild vorgeholt, das wir mal gemeinsam gebastelt hatten, mit einem Willkommensgruß drauf, das lehnte an der blauen Vase und wackelte, als mein Vater die Kühlschranktür öffnete, und die verklebten Wollfäden der Schrift, die sich bereits gelöst hatten, zitterten im Luftzug mit. "Ich brauche jetzt erst mal ein Bier", sagte er.Doch ehe er noch die Hand ausstreckte, wandte er schon den Kopf, um meine Mutter zu fragen: "Trinkst du einen Piccolo, Schatz?" Und hatte das Fläschchen schon in der Hand, und fragte erst dann meine Oma, was sie denn wohl trinken wollte - "Wie wär s mit einem Likörchen?" -, und mich vergaß er dann ganz. Das war so ungewöhnlich, daß ich es behalten habe, auch die Reihenfolge stimmte nicht mehr, und während ich später dachte, er sei vielleicht betrunken gewesen (er vertrug unheimlich viel, ohne zu schwanken oder zu lallen), glaube ich inzwischen, daß er einfach nervös war, daß er zu Hause ein bißchen aus der Rolle fiel, weil sie mehr Ehepaar waren als wahrscheinlich je zuvor. Doch vielleicht hätte ich all das gar nicht bemerkt - und würde es, vor allem, nicht mehr wissen -, wenn er nicht, als er sich umdrehte, mit dem falschen Bein Hexi getreten hätte. Das fiepsige Jaulen, eigentlich ein Schrei, der in ein Wimmern überging (nach einem ganz kurzen Gellen, so hoch, daß ich dachte, die Kühlschranktür würde quietschen), fuhr uns durch die Glieder - jedem für sich, aber allen gemeinsam.

Als ein bewußt lebender Mensch würde man nun sagen: Stop. Hier stimmt etwas nicht. Jedenfalls ich bin inzwischen darauf getrimmt, die Zeichen zu lesen. Ich weiß, daß ich aufhören muß, wenn ich lange nach Dingen suche, mir in den Finger schneide, Namen verwechsle; ich weiß, das ist ein kleiner Alarm: etwas fließt nicht mehr, ich habe einenWiderstand oder mich über etwas geärgert, das ich nicht hochkommen lassen wollte. Ich suche mir einen Ort,wo ich einige Minuten ungestört bin, und mache ein paar Yoga-Übungen, sitze dann da, ganz ruhig, und lasse die Gedanken ziehen wie Wolken. Früher oder später wird mir klar,was da in mir gegen mich tätig ist, und meist ist es viel harmloser, als die Folgen des Symptoms es wären. Zumindest bin ich lieber wütend auf Uli, als mein Portemonnaie zu verlieren oder das Auto an einen Poller zu setzen.
     Aber niemand von uns war wirklich bewußt. Niemand konnte je innehalten - außer Hermine möglicherweise, die manchmal über ihrem Strickzeug saß, ohne sich zu bewegen, und während wir sicher annahmen, sie zählte ihre Maschen, hat sie wahrscheinlich nachgedacht, die Atmosphäre auf sich wirken lassen, eine kleine Auszeit genommen.Aber mein Vater und Vera, die machten immer weiter, einfach so; sie fuhren Auto, tranken Bier und Wein und später Schnaps, kauften ein, aßen alles auf und spielten Skat,immer und immer weiter, als wäre das Leben ein Wetter, das man über sich ergehen läßt; Hauptsache, man hat es gemütlich unter dem Schirm. Sie änderten nur das Tempo. Oder vielleicht änderte sich auch mehr. Als sie mich damals fortschickten, war jedenfalls etwas passiert - sie standen noch unter dem Schirm,aber gemütlich war es nicht mehr.Vielleicht hat sie ihn da umgebracht.

Teil 3