Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Etel Adnan: Von Frauen und Städten. Teil 2

16.02.2006.
Das wichtigste Ereignis dieses Sommers ist natürlich die Rückkehr der durch den Krieg Exilierten. Jeder spricht von den kostspieligen, unerhörten, irrsinnigen Empfängen, die man gab und noch immer gibt. Nicht weniger als dreihundert Gäste pro "Abend"! Die Gespräche der Leute drehen sich um Kleider, das Geld, das sie ausgeben, die Bankette. Dieser Exzess hat einen Beigeschmack des Todes. Er kommt von weit her, aus Vorzeiten, wo in diesem Teil der Welt jedes Fest mit Opferritualen verbunden war. Dennoch muss man zugeben, dass die Sorgfalt, sei es bei Arm oder Reich, die auf die Zubereitung des Essens verwendet wurde, selbst als die Bomben fielen, während der Belagerung und in den Luftschutzkellern, die Basis für das Überleben jener Menschen war, die so tragisch in der Falle saßen. Die luxuriösen Lebensmittelgeschäfte sind immer noch magische Orte, ebenso die Restaurants, die geöffnet blieben. Nichtsdestoweniger hat die Woge opulenter Partys etwas Beunruhigendes. (So früh! Der Frieden ist derart zerbrechlich, dass die Angst prompt das Herz durchzuckt.)
     Hier und da sind einige Bettler zu sehen, meist Frauen, die kranke oder versehrte Kinder auf dem Schoß halten. Sie sitzen auf eingefallenen Gehwegen, neben Abfalleimern, als fühlten sie eine geheime und mächtige Verwandtschaft zwischen ihrem Zustand und den Ruinen.
     Ruinen, Ruinen, sterbende Gebäude, deren Skelette durch die Zerstörung bloßliegen, und eine Besessenheit von Häusern, vor allem bei den Frauen.
     Die großen Apartments der Reichen wurden rasch wieder instand gesetzt, als wäre Eile nötig, um Unglück abzuwenden. So könnte man in manchen Vierteln den Eindruck gewinnen, als sei nichts geschehen, aber hier handelt es sich um eine Art von Halluzination. Die Zerstörung ist Wahrheit geworden.
     Es sind die Frauen, die vom Krieg sprechen. Die Männer neigen zum Schweigen: Vielleicht trachten sie danach, das Entsetzen zu verbergen, aus Scham über ihr ganzes Geschlecht und über sich selbst. Schrecklich ist nur, dass die Männer bei den wenigen Gelegenheiten, wo sie über den Krieg sprechen, anderen die Schuld daran geben; sie berufen sich immer darauf, dass sie in der Falle saßen; sie behaupten praktisch, dass sie nichts damit zu tun hatten. Wer beging dann die Verbrechen, die Massaker, die Gräuel? Und selbst, wenn man nur eine Spielfigur ist, trägt man nicht trotzdem die Verantwortung dafür, die Rolle akzeptiert zu haben? In diesem Teil der Welt scheint es ein gewaltiges Realitätsproblem zu geben!
     Die Frauen reden; ja, sie sind dazu bereit, und sie sprechen über die Häuser: Mit der Genauigkeit eines Architekten oder eines Arztes beschreiben sie, was jedem einzelnen Haus widerfuhr, jedem Balkon, den verkohlten Wänden, den entstellten Fassaden, den ausgebrannten Räumen. Krieg ist der Feind des Heims.
     Allein durch ihre Dimensionen scheinen sich große Ereignisse selbst auszulöschen. Bald wird der Krieg aus den Gesprächen verschwunden sein, er wird die Flüchtigkeit eines Albtraums annehmen. Er wird im Gedächtnis der Menschen verstaut und nur als Mythos wieder zum Vorschein kommen. Er wird sterben und im Land der Toten bewahrt. Er wird zur Legende in einem Land, wo Legenden immer als Tatsachen genommen wurden.
     Der Mond, der an diesem Abend aufgeht, sieht aus wie ein betendes Gesicht. Über dem Sannine schiebt er sich in den Himmel. Er erscheint dort, wo am Morgen die Sonne aufging.
     Aber, mein lieber Fawwaz, jede Analyse erübrigt sich. Wenn sie auf die Probleme trifft, denen diese Menschen gegenüberstehen. Ein blutiges Fest ist beendet, und am nächsten Morgen finden sich die Menschen mit dem Essen wieder, das zu verderben droht, mit dem schmutzigen Geschirr, den halb gefüllten Gläsern, dem Abfall und dem Katzenjammer. Die Orgie der Gewalt ist vorbei, nun beginnt der Gedächtnisschwund, und die Rechnung muss bezahlt werden.
     Dennoch fühle ich mich getröstet durch die Geschichten der Frauen über das Verhalten anderer Frauen während des Krieges. Ihre Klarheit hat anscheinend unversehrt überlebt, und sie sind standhaft trotzig, denn da sie das Schlimmste gesehen haben, müssen sie nichts mehr fürchten. Sie haben einen kalten Mut in sich, was die Geschichte der Frau aus den südlichen Beiruter Vorstädten zum Ausdruck bringt, der in einer Bombennacht die Leiche ihres Sohnes gebracht wurde, die sie wortlos entgegennahm, ohne einen Schrei, und die Situation meisterte, da sie um die Notwendigkeit wusste, ihre anderen Kinder vor Panik zu bewahren.
     Unglücklicherweise schaffen die Widersprüche und Zwänge neue Höllen. Da es die Libanesen ihrer unwürdig erachten, das Rad zu nehmen, fahren sie Autos, die alles verpesten und auseinanderfallen. Da sie ihre neue und zermürbende Armut nur widerwillig anzunehmen scheinen, gehen sie nicht bei Sonnenuntergang zu Bett oder benutzen die alten Acetylen- oder Öllampen; sie haben hingegen große Generatoren in ihren Unterkünften installiert, damit sie weiterhin fernsehen und Partys geben können. Das Problem besteht darin, dass die Generatoren einen Höllenlärm machen, der das Elend der Stadt an einen Sättigungspunkt bringt. Ich frage mich, ob das Verlangen, die Niederlage zu bestreiten, so lobenswert es auch sein mag, nicht zum Verhängnis wird, wenn es zu einem Bestreiten der Realität führt, eine der wesentlichen Ursachen für die furchtbare Länge dieses Kriegs.
     Ja, ich betrachte das Meer, was sollte ich anderes tun? Eintauchen. Kälteschauer gefolgt von Hitzewellen, die den Körper durchziehen. Es gibt keine Trennung zwischen dem Meer und einer Frau, und es ist zwecklos, sich weitere Gedanken zu machen oder die Erfahrungen anderer zu Rate zu ziehen, um sich dem Wesen dessen zu nähern, was weiblich ist: Wasser, Salz, Phosphor, Plankton, alle Mineralien in flüssiger Form, und die Sonne, die sich darüber breitet. Sich dem Meer nähern, hineinblicken bis nichts anderes mehr sichtbar ist und schließlich, für den Bruchteil einer Sekunde, im Blick dieser wogenden Masse enden, die weder Anfang noch Ende hat ? Das Meer betrachten, heißt, werden, was man ist.
     Wäre das Meer nicht, so hätte Beirut seine Verwüstung nicht überlebt. Aber hier gibt es Salz, in unseren Mündern, an unseren Kleidern, in unseren Händen; etwas, das der Fäulnis widersteht.
     Die Zeitungen befinden sich in einem erbarmungswürdigen Zustand. Ihre Seiten sind mit giftigen politischen Streitigkeiten übersät, und niemand ist bereit, zuzugeben, dass dieser Krieg mit einem Unentschieden endete.
     Aber die "Straße" hat sich verändert. Eine Frau, allein auf der Straße, kann nirgendwo Halt machen; zu wenige Cafes, die zu weit auseinander liegen. Die Stadt, par excellence der Ort der Frau, wurde zur ausschließlichen Domäne der Männer.
     Das gibt den Straßen den Anschein von Sicherheit. Zwischen den geschwärzten Gebäuden, neben den zerstörten Gehwegen und den heruntergekommenen Fahrbahnen sorgt die pure Anwesenheit der männlichen Welt für ein Gefühl der Sicherheit, sagt, dass Überleben möglich ist. Das ist höchste Ironie: Diejenigen, die diese Tragödie verursachten, müssen unsere Verbindung zum Leben bleiben.
     Aber wo sind die Frauen? Vielleicht in einigen Geschäften. Natürlich im Haus. Und, wenn sie reich sind, in ihren Autos. Aber die Straße, diese lebendige Blutbahn, schließt sie aus. Eher aus Gleichgültigkeit denn aus Feindschaft. Der Krieg war Männersache. Wenn ich diese Straßen entlanggehe, fühle ich mich von den Dingen abgeschnitten, als käme ich aus einer anderen Welt. Ich gebe mich dem Glauben hin, dass, gingen mehr Frauen hinaus in die versehrten Viertel (und nicht nur an Sommerabenden an den Strand) und bildeten eine Menge, diese überreizten, erschöpften Männer, verbarrikadiert in ihren Geschäften und Betrieben, noch immer bekümmert und gedemütigt, in sich selbst wieder eine Kraft zur Zärtlichkeit finden würden, eine Befreiung.
      Auf dem Weg vom Stadtzentrum nach Ras-Beirut, dorthin, wo mein Herz schlägt und die Sonne untergeht, während ich versuchte, über die Lage der Frauen nachzudenken, traf ich dagegen die männlichen Einwohner und hatte das Empfinden, als teilte ich ihr Leben und verstünde sie viel besser: Mechaniker, Sackkarrenverkäufer, Penner, Bettler und Strichjungen ? sie alle haben Augen, Falten, Sorgen und Schwierigkeiten, was ich auf die Art betrachte, mit der ich das Meer betrachte. Ein tiefes Gefühl von Heimkehr überwältigt mich, von Einigung in diesem strahlenden August.
     Es ist unmöglich, zum Schluss zu kommen. Jede Theorie ist ein Begräbnis. Es gibt nichts zu sagen. An diesem Ort sterben alle Banalitäten.

Ich war in der Altstadt, der Mutter, der Matrix der Stadt. Sie ist weitläufig, golden und grün. Und vor allem ist sie eindrucksvoll, so "bewundernswert" wie Baalbek. Der arabische Osten scheint mit der Ruinenkunst vertraut; die Ruinen sind immer beeindruckender als die originalen Bauten. Sie wurden immer von tragischen Mächten gestaltet. Dank dieses sonderbaren architektonischen Ensembles, das durch seine ihm eigene Harmonie und seinen Charakter als die von einem Gott geschaffene Opernbühne erscheint, können wir uns die Stadt als epische Erzählung vorstellen, ein ewig unbewegliches Wehr, eine mit Stein geschriebene Saga, unsterblicher Ort, an dem Sterbliche auftreten können.
     Die christlichen Milizen aus dem Osten Beiruts konzentrierten ihre Angriffe, als wollten sie das im wesentlichen muslimische Zentrum der Stadt, ihre Schönheit, vernichten - und die Erinnerung. Sie handelten, als wenn sie glaubten, Geschichte zerstören zu müssen, um ihre Besonderheit zu behaupten. Aber wie der Mann, der die Frau getötet hat, die er liebte, werden die Libanesen beginnen - oder sind bereits dabei -, irrsinnig Liebende des alten Beirut zu werden. Sie sammeln jeden Krumen an Erinnerung, verschließen sich selbst in einer Vergangenheit, die unsere Seele wie ein Wirbelsturm in Aufruhr bringt, und die wir mit unseren eigenen Händen zerstörten, Hände, die nun nach Phantomen tasten. Unser altes Beirut ist so weit von uns entfernt wie die Steinzeit.

Bereits der 3. September, und es wurde kühler. Gold und Purpur wetteifern um den Abendhimmel. Die Straße ist schrundig, aber der Himmel herrschaftlich. Alles ist möglich!
     Es fällt mir nicht leicht, mich in diesen Straßen zu bewegen, wo es nur vereinzelt Frauen gibt: Das Leben ist schwer. Man darf niemals unaufmerksam sein: Ständig behindern Löcher, Reifen, schmutziges Wasser und Schrott den Weg. Und der schlimmste, der schmerzhafteste Anblick: verstümmelte Kriegsopfer mit unerträglichen Leiden. Einige von ihnen kriechen zwischen den Autoreihen, die weiterfahren, als gehörten sie zu einer Beerdigung. Und diese seltsamen Blicke, die man auf sich zieht, und dass man sich selbst fühlt, als würde man eine Vernehmung durchführen: Wen haben sie getötet? Welche unsagbaren Taten haben sie begangen? Mir gelang es nicht, in ihnen zu lesen; zu oft sind sie für meine Augen undurchlässig. Ist das Verrücktheit, Verbrechen oder eine neue Ordnung der Dinge?
     Die Kämpfe wurden eingestellt, aber die Gewalt bleibt. Nur notdürftig verborgen.
     Wie ein Kind, das einen Soldaten erblickt, ist alles, was man fragen will, wenn man jemandem begegnet: "Hast du getötet? Bestimmt einen Unschuldigen?!" Ich wünschte, dass die Menschen mehr reden würden.
     Dann siehst du plötzlich ein Kind, einen alten Mann, einen Arbeiter, der einer Tätigkeit nachgeht, und du bist entwaffnet ? Das andere Gesicht des Libanon erscheint: seine volkstümliche, zivilisierte, weise, "uralte" Seite, seine Fähigkeit, Schicksalsschläge zu ertragen, ohne daran zu zerbrechen, und der Zeit zu gestatten, sich die nötige Zeit zu nehmen, geduldig zu warten ?
     Ja, es scheint, als wenn das Unheil einige Sorgenfalten gegraben hat, und dass der Libanon genesen wird. Wird das Land zu einem gigantischen Supermarkt, einer trudelnden Spielbank oder zu einem "realen" Land? Werden sich die neuen Formen des Denkens, die für unser Überleben entscheidend sind, jemals entwickeln? Im Moment ist alles erstarrt.
     Aber ich fühle mich sehr wohl in diesem schäbigen Apartment, trotz der Tatsache, dass ich jeden Abend nach der Pracht und Herrlichkeit des Himmels keuchend und schwitzend elf Treppen hinaufsteige, in der Hand eine Kerze, die mir die Hitze noch vergrößert, und ich sage mir, dass man in Beirut glücklich sein kann, und dass die Menschen seltsamerweise glücklich sind: Vielleicht lehrten uns die uralten Rituale des Todes auch die Rituale der Wiedergeburt.
     Ich beende diesen Brief ungern, denn sein Abschluss bedeutet, dass es Zeit wird, Beirut zu verlassen und den Rest in Schweigen zu hüllen.
     Ich werde für zehn Tage nach Griechenland fahren und Dich dann in Paris treffen.
Alles Liebe,
          E.

Mit freundlicher Genehmigung der Edition Nautilus

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