Im Kino

Bukolisch, idyllisch, eklektisch

Die Filmkolumne. Von Stefanie Diekmann
20.09.2023. Mit 25 Orlandos gegen die Heteronormativität binärer Geschlechterzuordnungen. Paul B. Preciados Debütfilm "Orlando, meine politische Biografie" ist mit den Topoi des queeren Kinos in bestem Kontakt.


Die politische Biografie ist kollektiv. "In diesem Film werde ich Orlando sein" erklären zwei, fünf, zehn, fünfzehn, zwanzig Personen bei ihrem Auftritt in Paul B. Preciados Debütfilm "Orlando, meine politische Biografie". Am Ende sind es mehr als 25, die Orlando heißen, und dass es jederzeit mehr werden könnten, steht außer Frage.

Orlando, das ist, beinahe selbstverständlich (und doch bei jedem Auftritt explizit genannt): "Orlando von Virginia Woolf", Protagonist:in von Zeitreisen und Ortswechseln, von Verwandlungen der Gestalt, des Status und des Geschlechts; eine Figur der multiplen Transitionen, die intrikater verknüpft sind, als sich auf den ersten Blick vermuten ließe. Preciado, selbst Autor:in von Studien über Topologie, Gender und Gestalt (unbedingt: "Pornotopia", dt. 2012), über kategoriale und nicht-kategoriale Geschlechterkonzeptionen ("Kontrasexuelles Manifest", dt. 2003) sowie über die Modellierung des Körpers durch Technologien, Substanzen, Performanzen ("Testo Junkie", dt. 2016), begegnet Woolfs Roman im Modus der Hommage wie der Kritik. Es ist eine visionäre Geschichte, die damals, 1928, publiziert und sogleich beinahe verboten worden ist. Aber es ist auch eine, in der sich die Transitionen sehr beiläufig vollziehen, was der Realität von trans*-Existenzen nicht unbedingt entspricht.



Die politische Biografie ist daher auch individuell. Diverse Körper, Blessuren, Irritationen und ebenso: diverse Reenactments, die Episoden behandeln, in denen Orlando Janis, Orlando Oskar, Orlando Emma, Orlando Jenny et al dem institutionellen Zwang zur kategorialen Identifizierung begegnen. Beim Psychologen (Frédéric Pierrot, Hauptdarsteller der penetrant heteronormativen arte-Serie "En thérapie") oder beim Check-in an der Hotelrezeption, in der Pressekonferenz oder in der Fremdbeschreibung bleibt der Imperativ der binären Zuordnung präsent. Und bildet die Kontrastfolie zu der Idee, trans* nicht als den Übergang von einer Kategorie zu einer nächsten zu betrachten, sondern als eine Existenzform, in der an Klassifikation und Zuordnung kein Interesse besteht.

Preciado ist eine zentrale Figur jener Theoriebildung, die gegen die kategoriale Konzeption von Gender und Sexualität gerichtet ist. In den Büchern entwickeln sich die entsprechenden Ausführungen wortreich, teilweise erratisch, nicht durchweg plausibel und immer etwas over the top. Im Film "Orlando" und unter dem Einfluss der Romanvorlage entfalten sie sich leichthändig und relativ fluide, entlang einer entspannten Partitur, die Auftritte, Äußerungen und Autorschaften ineinander übergehen lässt, in der Statements nie gänzlich auf die Figur zu beziehen sind, die gerade spricht, und in der das, was gesprochen wird, immer mehrere potenzielle Quellen hat, zu denen Woolfs Roman ebenso gehört wie Preciados Texte und die jeweilige trans* Biografie.

Die Mise en scène wiederum ist dem Prinzip des Tableaus verpflichtet. Kulissen (bukolisch, idyllisch, eklektisch), Filmsets, Interieurs; vielfach Vorgänge der Kostümierung und Staffierung; die gefältelte Halskrause ist ein zentraler Marker des Auftritts, künstlicher Schnee wird ebenso aktiviert wie teils sehr bunte Farben. Die Elemente der Ausstattung evozieren immer wieder andere Epochen; und den Konstruktionscharakter einer Figur zu betonen, ist allemal wichtiger als die Kohärenz von Erscheinungsbildern. In mancher Hinsicht ist "Orlando" ein konventioneller Film: mit den Topoi des queeren Kinos in bestem Kontakt, was indes nicht gegen eine Sichtung spricht und erst recht nicht dagegen, seine Agenda ernst zu nehmen.

Stefanie Diekmann

Orlando, meine politische Biografie - Frankreich 2023 - Regie: Paul B. Preciado - Laufzeit: 98 Minuten.