Im Kino

Das stimmt

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Ekkehard Knörer
24.11.2010. Isabelle Huppert spielt in "Villa Amalia" eine Frau, die aus ihrem eigenen Leben abhaut. Regisseur Benoit Jacquot macht daraus einen mitreißenden Film. Der Isländer Dagur Kari versammelt in einer ort- und zeitlosen New Yorker Kneipe bizarre Geschichten und skurrile Figuren und stellt das unter die beziehungsreiche Überschrift "Ein gutes Herz".


Eine Dame verschwindet, versteckt war sie ohnehin schon: Ann Hidden ist das Pseudonym, hinter dem sich die erfolgreiche Pianistin und Komponistin Eliane (Isabelle Huppert) verbirgt. "Du bist Eliane", sagt Georges (Jean-Hugues Anglade) zu ihr und es ist wie eine Erweckung: Es ist Nacht, sie lauert vor einem Haus, in dem ihr Ehemann Thomas (Xavier Beauvois) sie betrügt, Georges sieht sie dabei zufällig, ist, als solcher zunächst unerkannt, Freund aus Kindheitstagen, spricht sie an. "Du bist Eliane" - und Ann, samt Eliane, nimmt ihr Verschwinden in Angriff.

War es der Ehebruch? War es die Begegnung mit Georges? Benoit Jacquot, der hier den gleichnamigen Roman von Pascal Quignard verfilmt, belässt es, wie auch in vielen anderen Dingen, bei Andeutungen, Verknappungen aufs allernotwendigste. Nur soviel: Fortan verschwindet Ann - Kontoauflösung, Wohnungsauflösung, Karriereauflösung. Fotos, CDs, Erinnerungsstücke: landen im Feuer. Kein Handy, keine E-Mail, keine Kreditkarte, kein Konto. Auswandern in die USA? Kommt nicht in Frage, die Fluggesellschaft übermittelt Passagierlisten.

Wie Isabelle Huppert das mit jeder Faser spielt, eine Frau, die sich minutiös aus allen sozialen Registern entfernt, ist sagenhaft: Angespannt, impulsiv, bestimmt, verunsichert. Immer wieder verlässt sie schlagartig eine Szenerie, dreht sich um, rennt fast schon, flieht. Immer wieder durchzuckt es sie, verschiebt sich ihr Ausdruck um die eine, die entscheidende Nuance. "Das stimmt", sagt sie andauernd und als Georges ihr das sagt, sagt sie das noch einmal: "Das stimmt." Fortan wird sich an jedes "Das stimmt" ein kleines, verunsichertes Lächeln anschließen, als ob Ann sich selbst ertappt. Verhärmt, verknöchert wie die Klavierspielerin in Michael Hanekes gleichnamigen Film ist sie, trotz gelegentlich ähnlicher Anlage der Figur, gerade nicht: Immer wieder blitzt ein Splitter kindlichen Gemüts durch. Als sie sich die langen Haare abschneiden lässt, jauchzt sie vor dem Spiegel auf - und schon hat Jacquot wieder einen seiner oft rasanten, fast immer harten Schnitte gesetzt. Szenenwechsel.



Das Verschwinden ist ziemlich genau nur die erste Hälfte des Films. Im zweiten zieht die verloren Gegangene von Paris aus durch Europa, wandert durch die Alpen, landet an der italienischen Küste, wo sie auf einer Klippe ein leer stehendes Haus für sich entdeckt. Blick über's Meer: Ende der Welt. Und mit einem Mal gewinnt Hupperts Spiel eine gelassene Qualität. Wenn man sie an einer Stelle von hinten sieht, wie sie mit Stiefeln, im Kleid, mit nun gekürzten Haaren einen Berg raufstapft, könnte man sie für ein Mädchen halten, das seine Bewegungen noch nicht zurechtgeschliffen hat. Aus der französischen Ann wird eine italienische Anna, die eine Welt erkundet.

Sie bändelt mit Giulia (Maya Sansa) an, Georges kommt zu Besuch, wird von Dorfjugendlichen derb verdroschen und von Anna gepflegt, zu Hause stirbt die Mutter (Michelle Marquais), Begegnung mit dem Vater (Peter Arens), dem sie vorwirft, sie nie geliebt zu haben. Es ist keine wohlfeil wattiert erzählte Befreiungsfantasie, die Jacquot erzählt, keine Geschichte eines zweiten Frühlings, sondern eine genau beobachtete, konzentriert inszenierte Abfolge von Handlungen, Relationen und nicht zuletzt Gesten: Kurz bevor Annas Vater, ein rechtes, aber sich distinguiert gebendes Scheusal, hinter der Aufzugstür verschwindet, streicht Anna ihm plötzlich übers Gesicht. Der zuvor so souverän sich gebende Vater verliert die Fassung um einige Zentimeter, am Ende öffnet Anna die Fenster. Nichts wird erklärt, alles bleibt klar.

(P.S.: Der Film hat nur einen winzigen Kinostart. Bei amazon.de bekommt man ihn aber sowohl als französische wie auch als englische DVD-Edition.)

Thomas Groh

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Jacques will nicht sterben und kommt dem Tod doch von Herzinfarkt zu Herzinfarkt näher. Lucas, der mit einem Kätzchen auf der Straße lebt und zu gut und zu schwach und zu naiv scheint für diese Welt, unternimmt einen Selbstmordversuch. Sein Herz ist das gute des Titels, das kann man metaphorisch, aber auch wörtlich verstehen, mit allen Konsequenzen. Bett an Bett landen die beiden im Krankenhaus. Der Zyniker Jacques, ein Mann nicht unorigineller Schimpfwortkanonaden ("you son of a motherfuckin' lesbian bitch"), erkennt ausgerechnet in seinem Gemüts-Antipoden Lucas etwas, vielleicht ein früheres Selbst. Ein schlechtes Herz und ein gutes: Es kommt zum Austausch nicht nur von freundlichen Worten.

Die willkürlich einander ganz entgegengesetzt entworfenen Männer macht der isländische Autorenfilmer Dagur Kari in seinem ersten englischsprachigen Werk zur beweglichen Achse, an die er weitere Figuren und Konstellationen kaum weniger willkürlich anlagert: eine Gans namens Estragon, eine Stewardess namens April, die wegen Flugangst in New York strandet, nur zum Beispiel. Versammelt werden sie alle in einer finstren Spelunke irgendwo in Manhattan, die Jacques unter Einhaltung festgeschriebener misogyn-misanthropischer Regeln betreibt. (Nur Stammgäste akzeptieren. Aber diese niemals freundlich behandeln. Keine Frauen.) Lucas, das ist der Fadenschein eines Plots, wird als Nachfolger angelernt, ein Naturtalent in Widerlichkeit ist er, wie Jacques sagt und sich hätte auch vorher schon denken können, ganz sicher nicht. Der Film bezieht vom Wankelmotor seiner zwei gegensätzlichen Helden die Vorwärtsbewegung (oft droht freilich völliger Stillstand) und unternimmt einerseits wenig, das Hergeholte als zwanglos Plausibles erscheinen zu lassen. Er stellt die Willkür der hier und da aufgelesenen Figuren mit ihren so oder so ausgedachten Geschichten andererseits auch nicht aus.

Das Willkürliche, das seine Künstlichkeit gerade nicht ausstellt, die Versuchsanordnung, die sich selbst als die bare Münze einer mit dem Herzen zu fassenden Erzählung gibt, ist stets ein Problem. Der letzte Idiot sieht doch die Hand noch im Bild, die die Figuren und ihre Geschichte zur Erzählung geklittert hat. Durchaus widersinnig, aber sehr üblich, ist, worauf Dagur Kari mit "Ein gutes Herz" statt auf die Transparenz seiner Verfahren setzt. Zum einen sind das seine Darsteller Brian Cox und Paul Dano. Beide hat man zuvor in wichtigen Nebenrollen überzeugend erlebt. Dano etwa als fanatischen Priester in Paul Thomas Andersons "There Will Be Blood", den Schotten Cox zuletzt in Woody Allens "Match Point" und David Finchers "Zodiac". Als französische Schönheit dazwischenplatziert wird die auch als Regisseurin unbedingt verehrungswürdige Isild Le Besco.



Als Darsteller aber, die eine hergeholte Geschichte über Ausprägung von Charakterfiguren plausibel machen sollen, sind Dano und Cox auf verlorenem Posten. Schlimmer: Sie retten sich in die Schauspielerei. Das so recht Lebensechte, das knorrig Vitale und anämisch Halbtote wird in jede einzelne Geste, in jeden Satz als Darstellungsaufwand gesteckt. Und weil die Geschichte, geradaus erzählt, den Anschein der lächerlich überdeutlichen Klischiertheit niemals vermiede, wird sie eben nicht geradaus erzählt. Sondern mit leicht bizarren Vorfällen und skurrilen Zusatzfiguren verzwirbelt, die in nichts gründen als, ganz wie im schlechten Regietheater, halt dem einen oder anderen Einfall. (Die Gans, die Stewardess mit Flugangst, der Romanautor-Stammgast etc.)

Nicht weiter motivisch oder narrativ verankerte Einfälle jedoch sind immer überflüssig und gratis. Die kann jeder haben, die braucht keiner. In "Das gute Herz" sollen sie nur behauptete Figuren über die Runden retten in einer Geschichte, die nichts, das nicht jeder wüsste, zu sagen hat und die im Grunde nirgendwo und jederzeit spielt. Das einerseits absehbare, andererseits kaum glaubliche Finale des Films (Spoiler: Lucas kommt ums Leben, sein gutes Herz wird in Jacques Körper verpflanzt) trägt dann interessanterweise den ganzen Widersinn der Konstruktion in sich. Als Operation am offenen Herzen der eigenen Ästhetik stellt Dagur Kari, von allen guten Geistern glücklich verlassen, das atemberaubend Ausgedachte seiner Geschichte dann doch noch aus. Das Problem: Entweder alles Vorangegangene oder dieses Ende findet man lächerlich. Wenn das mal keine Lose-Lose-Situation ist.

Ekkehard Knörer

Villa Amalia. Frankreich / Schweiz 2009 - Regie: Benoit Jacquot - Darsteller: Isabelle Huppert, Jean-Hugues Anglade, Xavier Beauvois, Maya Sansa, Clara Bindi, Viviana Aliberti

Ein gutes Herz. Dänemark / Island / USA / Frankreich / Deutschland 2009 - Originaltitel: The Good Heart - Regie: Dagur Kari - Darsteller: Brian Cox, Paul Dano, Isild Le Besco, Stephanie Szostak, Damian Young, Clark Middleton