Im Kino

Die zurückgeholte Zeit

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
21.05.2019. Das Festival von Cannes changiert in diesem Jahr zwischen der Nostalgie alter Männer wie Claude Lelouch und Pedro Amodóvar, die durchaus auch zu einem Meisterwerk führen kann, und Filmen von Frauen, die nach vorne weisen, allen voran Céline Sciammas Meisterwerk "Portrait de la Jeune Fille en Feu"
Im vergangenen Jahr wurden dem legendären Filmregisseur Claude Lelouch bei der Rückkehr aus dem Urlaub zwei Reisetaschen aus dem Kofferraum geklaut. In einer der Taschen waren Notizbücher mit Aufzeichnungen aus fünfzig Jahren sowie ein Computer, auf dem unter anderem das einzige Exemplar des Drehbuchs gespeichert war, aus dem Lelouchs nächster Film werden sollte. Für den Altmeister des französischen Kinos war es ein Schock. "Als ob ich auf einmal Alzheimer hätte, ohne wirklich Alzheimer zu haben", sagte Lelouch jetzt in einem Interview. Im Mai vor 53 Jahren ist Lelouchs Liebesfilm "Ein Mann und eine Frau" in letzter Minute ins Programm der Filmfestspiele in Cannes aufgenommen worden, er gewann prompt die Goldene Palme. Jetzt hat Lelouch die Stars von damals, Jean-Louis Trintignant und Anouk Aimée, wieder zusammengebracht in einem Film voller Nostalgie und Rückblenden, der natürlich auch wieder in Cannes Premiere feierte, wenn auch dieses Mal außer Konkurrenz. "Les plus belles Années d'une Vie", die Rückschau zweier alter Menschen auf eine große Liebe, die verloren ging, wurde trotz des Diebstahls fertig. Für die Erinnerung an das Wesentliche braucht es keine Aufzeichnungen.

Die Erinnerung ist eines der großen Themen auch dieses Jahr in Cannes. So sagt die Rückkehr von Lelouch, 81, Trintignant, 88 und Aimée, 87 an die Côte d'Azur viel über den Geist, den das wichtigste Filmfest der Welt in den vergangenen Jahren etabliert hat. Warme Rückblicke von den Großen des Autorenkinos auf die große Zeit des Autorenkinos und manchmal auch auf die Großartigkeit der eigenen Vergangenheit könnten inzwischen fast eine eigene Festivalsektion bilden. Die zurückgeholte Zeit, die in ein warmes Licht getaucht wird, ist nun aber leider oft auch diejenige der alten weißen Männer und dekorativen Frauen, die in den barocken Regeln auf dem Roten Teppich und bei vielen Bühnenauftritten noch so lebendig ist.

Aber diese wird zugleich zurückgedrängt von den Protesten, öffentlichen Debatten und Hashtags. Und dieses Jahr sogar auch von den Filmen. Von Filmen, die von der Selbstermächtigung handeln, von jungen Frauen, die keine Männer brauchen und nach dem Leben greifen, von Senegalesinnen, Marokkanerinnen, Frauen in Algerien und manchmal auch Frauen im 18. Jahrhundert im feudalen Frankreich. Filme die zeigen, wie es aussähe, wenn die Utopie Wirklichkeit würde. Aber auch Filme die keinen #aufschrei mehr brauchen und kein #metoo, sondern, die sich nehmen, was sie brauchen, ästhetisch wie gesellschaftspolitisch.

So ist der Besucher in Cannes dieses Jahr hin- und hergerissen. Manchmal kann man die Jämmerlichkeit und die Schönheit dieser seltsamen Veranstaltung gleichzeitig spüren. In den vergangenen Jahren drohte das Filmfest vor lauter Nostalgie und höfischem Gehabe den Anschluss zu verlieren, wie das ganze Land, in dem es stattfindet. In besseren Jahren wie diesem aber kann Cannes einen Weg aufzeigen von den goldenen Jahren des Autorenkinos zu so etwas wie Zukunft. Das sieht so ähnlich aus wie in dem berühmten Trailer, der hier vor jedem Film zeigt, wie die Treppe mit dem roten Teppich von der Unterwelt bis zu den Sternen führt, immer mit dem unumgänglichen Weg über unser metaphorisch schwer aufzuladendes Jetztzeitlevel. Es funktioniert eben, wenn die Filme funktionieren. So wie Lelouchs Rückkehr an den Strand von Deauville. Oder so wie Pedro Almodóvars Alter-Mann-blickt-auf-sein-Leben-zurück-Melancholie "Dolor Y Gloria", die zu Recht zu einem der Festivalfavoriten wurde (dazu später mehr). Was mit Quentin Tarantinos "Once Upon A Time ... In Hollywood" ist, das als Rückblick auf die Glanzzeit der Traumfabrik angekündigt ist, werden wir erst in Kürze wissen. 

Szene aus "Dolor y Gloria" von Pedro Almodovar



So hängt der Gegensatz noch etwas unverbunden in der Luft. Wir sehen also Trintignant in dem Lelouch-Film noch einmal den Rennfahrer Jean-Louis Duroc spielen, "der nicht nur den Kurven nachjagt, sondern auch den Schürzen". Wir sehen ihn, wie er jetzt als Greis immer noch jede Frau fragt, ob sie mit ihm schlafen will: Pflegerinnen, Krankenschwestern, Ärztinnen und schließlich auch seine lang Verflossene Anne, die ihn einst wegen seiner Untreue verließ. Und weil wir im Reich der Legenden sind, gibt nichts uns einen Hinweis, dass wir das empörend finden sollten oder ein bisschen aus der Zeit gefallen. Ach, er ist doch immer noch der alte Charmeur! Er sitzt im Rollstuhl und verliert zuweilen die Erinnerung - wie sollten wir da nur auf die Idee kommen, dass solches Verhalten übergriffig wäre? Die angesprochenen Frauen lächeln. Vielleicht ist es das letzte Mal, dass wir einen Mann im Kino dergleichen tun und sagen sehen, ohne dass er dafür sanktioniert wird.

Exakt diese Ungleichzeitigkeit stellte sich bei der Debatte über Alain Delon ein, dem das Festival eine Ehrenpalme verliehen hat, wogegen es Proteste gab, unter anderem, weil Delon freimütig darüber gesprochen hat, dass er schon mal Frauen geohrfeigt habe. Cannes-Direktor Thierry Frémaux versuchte die Debatte mit dem Hinweis abzutun, man verleihe Delon "ja nicht den Friedensnobelpreis".

Den größtmöglichen Gegensatz zu dieser Welt markiert dann ein Film wie Céline Sciammas Meisterwerk "Portrait de la Jeune Fille en Feu" ("Portrait Of A Lady In Fire"). Obwohl die Geschichte auf den ersten Blick aussieht, wie ein klassisch erzähltes Kostümdrama: Marianne (Noémie Merlant), eine junge Portraitmalerin, landet 1770 auf einer wind- und wellenumtosten Insel, die beherrscht wird von dem steinernen Herrenhaus. Sie soll die Tochter des Hauses malen, Héloïse (Adèle Haenel). Die sich aber dem Bildnis verweigert, unter anderem, weil sie einem Adeligen in Mailand versprochen ist, diesem aber vorgezogen hätte, weiter im Kloster zu bleiben, weil es dort immerhin Zugriff auf Bücher gibt und Gleichheit unter den Schwestern. Außer der Malerin und ihrem unwilligen Modell gibt es noch die strenge Mutter und das Dienstmädchen. Wir sind also auf einer Insel der Frauen und es ist nicht so, dass Männer hier vermisst würden.

Szene aus Céline Sciammas "Portrait de la Jeune Fille en Feu"



Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich eine Liebesgeschichte, die von einer zwingend tragischen Spannung ist. Diese wird mit Dialogen vorangetrieben, so leichthin gesprochen wie scharf formuliert, von der bewegten Natur der Insel, die die Freiheit ist und den steinernen Zellen des Hauses, die die Wirklichkeit sind. Als die Liebesgeschichte sich langsam zu entspinnen beginnt, erlaubt die Mutter Héloïse zum ersten Mal nach langer Zeit hinauszugehen in die Natur, zum ersten Mal ohne Kontrolle durch Marianne. "So haben Sie ihre Freiheit," sagt diese zur Tochter des Hauses. "So hat man also hier seine Freiheit nur, solange man allein ist," entgegnet Heloïse. Zurück von dem Spaziergang sagt sie, sie habe die Freiheit ebenso gespürt wie das Fehlen der Anderen. Das Ganze ist nicht nur eine schöne Liebesgeschichte sondern die ganze Zeit auch eine unheimlich intelligent gebaute Reflexion über ein Thema, das genauso alt ist wie es Sciamma in dem Film zu einem Neuen macht: Wie kann man lieben und loslassen? Aber vor allem: Wie kann man etwas Geliebtes in der Kunst festhalten, ohne ihm das Leben zu nehmen?

Denn so ist es, bei dem Bild, das die Malerin von Héloïse fertigen soll: Sobald es vollendet ist, wird es nach Mailand zum Bräutigam geschickt und die Geliebte hinterher. So ist es mit dem Mythos von Orpheus und Euridike, über den die beiden jungen Frauen mit dem Hausmädchen diskutieren: Warum nur Orpheus sich umdrehte, obwohl er wusste, dass das ihm die Geliebte für immer entzöge? "Vielleicht hat er nicht als Liebender gehandelt, sondern als Poet," stellt die junge Malerin fest. Das alles mag hier nach akademischen Geplänkel klingen, nach geistiger Dehnübung. Aber es ist die Leistung von Sciammas Arbeit, dass es überhaupt nicht so aussieht, sondern wie ein Film über zwei Frauen, die das Leben wollen und die Unmöglichkeit, es zu kriegen.

Und es ist erstaunlich, wie viele der Filme dieses Jahr in Cannes nach all den Quoten- und Metoo-Diskussionen dann doch eben tatsächlich davon handeln: Mati Diop erzählt in ihrem franko-senegalesischen Wettbewerbsfilm "Atlantique" von einer jungen Frau aus dem Dakar von heute, die immer noch wie Heloïse in Frankreich 1770 einem Mann versprochen ist, der so viel Unglück wie soziale Absicherung bedeutet. Und sie erzählt von den jungen Männern der Stadt, für die oft Flucht auf einem wackligen Boot nach Spanien der einzige Ausweg ist. Diese jungen Männer kehren in Diops Film schließlich nur als Geister zurück.

Zwei weitere Filme dieser Art laufen in der - dieses Jahr überhaupt sehr starken - Nebenreihe "Un Certain Régard": Mounia Meddour erzählt in "Papicha" von einer Gruppe Studentinnen im Algerien der 1990er Jahre. Ihre Hauptfigur Nedjma will auf ihre Träume nicht verzichten, obgleich der Aufstieg der Islamisten immer stärker in ihr Leben eingreift. Das Ende ist die Katastrophe. "Adam" von Maryam Touzani führt in das Casablanca der Jetztzeit, es ist die Geschichte einer jungen Schwangeren, die vielleicht eine unglückliche Verbindung hinter sich hat, vielleicht sogar eine Vergewaltigung. Jedenfalls gibt es keinen Platz für sie im Marokko von heute, bis sie durch glückliche Zufälle im Haus der verwitweten Bäckerin Abla und ihrer achtjährigen Tochter Warda Aufnahme findet. In dem Haushalt der drei Frauen werden plötzlich Dinge möglich, die im ganzen Land nicht möglich sind. Die nach allen Regeln des klassischen Dramas entwickelte Geschichte hätte auch gut in den Wettbewerb gepasst.

Bislang sind somit zwei Filme die Favoriten für die Goldene Palme, die beide Seiten von Cannes vertreten: Sciamma mit "Portrait de la Jeune Fille en Feu" einerseits. Und andererseits Almodóvar. Sein neuer Film "Dolor Y Gloria" ist mal kein Alter-Mann-Rückblick der süßlichen und larmoyanten Art. Sondern ein Film voller Rückenschmerzen, Schreibhemmung, Medikamente und Drogen, eingestandener Fehler. Und voller sentimentaler Herbeirufung von Almodóvars Jugend und Mutter, über die man eigentlich schon alles zu wissen glaubte aus einer Reihe seiner alten Filme. Almodóvars neuer Film aber ist wie der von Sciamma ein Nachdenken über die Voraussetzungen für das Entstehen von großer Kunst. Almodóvars Alter Ego in der Geschichte heißt Salvador, er glaubt, dass er keine Filme mehr machen kann. Er gibt die Schuld nur den Schmerzen, aber wahrscheinlich liegt es genauso sehr an seinem selbstmitleidigen Alte-Männer-Syndrom und dem Schwelgen in den Großtaten seiner Vergangenheit. Almodóvars Botschaft hier ist: Wenn man das erst überwunden hat, dann kommt wieder Großes dabei raus. Auch das wäre eine auszeichnungswürdige Erkenntnis in einem Jahr der Rückblicke und Aufbrüche.      

Lutz Meier