Im Kino

Grün leuchtende Gegenwelt

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
20.03.2024. Wurde der Junge von einem Lehrer geschlagen? Hirokazu Kore-eda erzählt in "Die Unschuld" eine Geschichte aus mehreren Perspektiven. Nicht um die Dingfestmachung des einen, schuldigen Monsters geht es dabei, sondern um die Bedingtheit alles Sozialen. Und auch darum, jenseits des dunklen Tunnels für zwei Jungen einen utopischen Schutzraum zu errichten. 


Früh im Film findet findet Saori (Sakura Andō) ihren Sohn Minato (Sōya Kurokawa) in einem dunklen, runden, feuchten Tunnel wieder, nachdem der meist stille, in sich verschlossene Junge eines Abends nicht wie sonst von der Schule nach hause gekommen war. Wie es ihn an diesen Ort verschlagen hatte, erfahren wir erst viel später: Regisseur Hirokazu Kore-eda entwirft seinen Film als eine Art Puzzlespiel, in dem sich zunächst schlaglichthaft nebeneinander gestellte Alltagseindrücke erst nach und nach zu einem kohärenten Gesamtbild ergänzen.

In dessen Zentrum freilich eine Dunkelheit bestehen bleibt, die von Anfang an da ist und sich nicht auflösen lässt. In den nächtlichen Totalen der japanischen Kleinstadt, in der die Handlung angesiedelt ist, wird sie direkt Bild: Eine Meeresbucht, um die herum die Menschen sich angesiedelt haben, wird zum gähnenden blinden Fleck im Lichtermeer. Das Monster, auf das der japanische Orignaltitel verweist, ist immer unter uns, es lässt sich, so sehr wir uns auch bemühen, nicht wegerzählen. Was wir jedoch, vielleicht, lernen können, ist: mit ihm zu leben.

Mit anderen Worten: Wie könnten, diese Hoffnung steckt in Kore-edas Bildern, lernen, die Dunkelheit als einen Teil unserer Welt zu akzeptieren. Anstatt sie, so der nur auf den ersten Blick didaktische Einsatz dieses tatsächlich ganz und gar nicht besserwisserischen Films, zu personalisieren, alle Übel dieser Welt auf diejenigen Sündenböcke zu projizieren, die gerade zur Verfügung stehen. Wie so etwas funktioniert, führt der erste Teil des Films vor, der aus Saoris Perspektive erzählt ist. Die alleinerziehende Mutter bemerkt, dass etwas nicht stimmt im Leben ihres Sohnes. In ihrer kameradschaftlichen, allerdings auch ein bisschen hilflosen Zugewandtheit wirkt sie manchmal fast eher wie Minatos Schwester, und doch kommt sie nicht an den Jungen heran. Regelrecht stillgestellt scheint dessen junges Leben; in einer der irritierendsten, horrorfilnächsten Szenen des Films verlässt Saori die gemeinsame Wohnung, wie er sich gerade nach einem Radiergummi bückt; und als sie eine halbe Stunde später wiederkommt, hat er ihn immer noch nicht aufgehoben.



Bald beginnt Saori - uns leuchtet das zunächst durchaus ein - Herrn Hori (Eita Nagayama) zu verdächtigen, einen Lehrer an Minatos Schule: Dieser hat, so ist sie überzeugt, ihren Sohn geschlagen. Ein junger, unerfahrener Lehrer ist dieser Hori, vermutlich überfordert von seinem Job und auch sonst charakterlich fragwürdig; bei einem Hochhausbrand sei er, erzählt man sich in der Nachbarschaft, in einer Hostessenbar angetroffen worden. Als Saori die Konfrontation mit der Schule sucht, stößt sie auf eine Mauer der beflissenen Entschuldigungen. Die japanische Höflichkeitsgeste der formalen Verbeugung ist das Letzte, was ihr in dieser Situation hilft; verzweifelt sucht sie den Blickkontakt Horis, und auch den der in Passivität erstarrten Schuldirektorin (Yūko Tanaka).

Bald darauf setzt der Film noch einmal neu an: dieselbe Ereigniskette, diesmal aus der Perspektive des vermeintlichen Monsters, Herrn Hori. Der allerdings, lernen wir gleich zu Beginn dieses zweiten Kapitels, während des Hochhausbrandes keineswegs bei den Hostessen weilt, sondern das Geschehen von Weitem beobachtet. Punkt für Punkt wird im Folgenden der etablierte Verdacht entkräftet, beziehungsweise durch einen Gegenverdacht ersetzt: Herr Hori, der schon durch die rührend linkische Art, mit der er seine recht reservierte Freundin umgarnt, unser Herz gewinnt, sorgt sich um Yori (Hinata Hiiragi), einen verträumten, körperlich schwachen Schüler, der offensichtlich gemobbt wird - und zwar, vermutet Hori, von Minato. Wir sind uns da nicht so sicher. Der Film hat inzwischen eine Distanz eingezogen zwischen uns und seinen Figuren, allerdings keine, die Empathie ausschließt. Nicht die partikulare Identifikation führt bei Kore-eda zum Gesellschaftsbild, sondern die universalistische Einsicht in die Bedingtheit alles Sozialen.

Was außerdem sichtbar wird in diesem Mittelteil: Der Druck, den die Schule als Institution auf alle Beteiligten ausübt, auf Lehrer genauso wie auf Schüler, auf die Eltern, und nicht zuletzt auch auf die Direktorin. Und zwar, weil die Schule als sozialer Raum, in dem verschiedene Interessen aufeinander prallen, ein allseitiges Beobachtungsverhältnis etabliert, das weder von einer zentralen Stelle aus hierarchisch kontrolliert, noch in ein harmonisches, pluralistisches Miteinander überführt werden kann. Die Schule soll auf die Zukunft vorbereiten und produziert doch vor allem Angst vor der Zukunft: lieber nicht für den Klassenaußenseiter Partei ergreifen, sonst werde ich das nächste Opfer, lieber nicht nach einem Missbrauchsvorwurf das offene Gespräch suchen, am Ende werden wir verklagt.

Schließlich das dritte, finale Kapitel. Es widmet sich dem bislang elliptisch ausgesparten, aber, wie sich schnell zeigt, wichtigsten Bestandteil der Welt, die der Film erschließt: dem Miteinander der Kinder, dem Miteinander Yoris und Minatos vor allem; nicht zum ersten Mal erweist sich Kore-eda dabei als ein Meister in der Inszenierung einer kindlichen Kommunikation, in der dringlichstes Mitteilungsbedürfnis von einem Moment auf den anderen in tiefstes Schweigen, in radikale Kontaktabwehr kippen kann. Die Welt erweitert sich in diesem schönsten Teil des Films - vielleicht gar: in den schönsten 40 Minuten des bisherigen Kinojahres? - nicht nur in sozialer, sondern auch in topografischer Hinsicht. Hier kommt, soviel Spoiler muss sein, der dunkle Tunnel vom Beginn wieder ins Spiel, und die grüne, fast außerweltlich leuchtende Welt, die sich hinter ihm eröffnet. Eine Gegenwelt, in der sich, untermalt vom nun besonders eindringlich schmeichelnden Score Ryuichi Sakamotos, eine Freundschaft entfaltet, die ihre eigene Voraussetzung und Reichweite vorläufig im Unklaren belässt.

Ein liminaler, vielleicht ein queerer Raum. Das Dunkle, das Monströse, das auf der anderen Seite des Tunnels, in der modernen Welt, in der wir nun einmal leben und irgendwie miteinander auskommen müssen, gejagt wird, dingfest gemacht werden soll (ob nun in individueller, institutioneller, oder, das deutet der Film eher an, als dass er es ausführt, in ideologischer Form), ist auch in ihm nicht für immer gebannt. Aber nur hier, im temporären Off der beginnenden Adoleszenz, jenseits der Kontrollregime eines allgegenwärtigen Sozialen, haben zwei junge Menschen die Möglichkeit, ein Verhältnis zu sich und ihrer Zukunft zu finden, das nicht immer schon in Angst erstarrt.

Lukas Foerster

Die Unschuld - Japan 2023 - OT. Kaibatsu - Regie: Hirokazu Kore-eda - Darsteller: Sakura Andō, Sōya Kurokawa, Hinata Hiiragi, Eita Nagayama, Yūko Tanaka - Laufzeit: 127 Minuten.