Im Kino

Alles ins Museum

Die Filmkolumne. Von Patrick Holzapfel
29.06.2023. Ein kaum gealterter Harrison Ford schwingt erneut in "Indiana Jones und das Rad des Schicksals" die Peitsche, begibt sich auf eine Zeitreise und schnappt den Nazis ein mythisches Ding weg. Das kann man genießen. Oder in der Selbstreferentialität des Films ersticken. Regisseur James Mangold erzeugt in "Indiana Jones" keine Gefühle. Wichtig ist, dass sich die Gefühle einstellen, die man einst hatte. Das ist die eigentliche Zeitreise.


Der in 82 Teilen fragmentarisch erhaltene Mechanismus von Antikythera stellt die Wissenschaften seit seinem Fund 1901 vor Rätsel. Einige Schwammtaucher fanden das zerstückelte Messingobjekt im Wrack eines römischen Handelsschiffes vor Kreta. Schon bald wurde festgestellt, dass der auf circa 70 v. Chr. datierte Apparat in seiner Feinmechanik weit übertraf, was man den Hellenen zugetraut hatte. Der Apparat kombinierte Erkenntnisse der babylonischen Astronomie, astronomische Überlegungen der alten Griechen und mathematische Theorien Platons, um, so denkt man, Planetenkonstellationen zu berechnen. Ein bisschen was von allem steckt also in diesem Gerät, ganz so wie im Film, der sich um diese wundersame Entdeckung dreht. Im fünften Teil der "Indiana Jones"-Serie soll Antikythera, wie der nach der mediterranen Insel benannte frühzeitliche Computer kurz genannt wird, sogar Zeitreisen ermöglichen.

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Er ist sozusagen ein Vorläufer des Kinos selbst. Angeblich wurde er vom großen Denker Archimedes entworfen, der im Film den idealen Zuschauer von Indiana Jones gibt, nämlich den, der nicht möchte, dass die Zeit unaufhaltbar weitergeht, der größte Nostalgiker von allen. Ein Nostalgiker, aber auch ein Mathematiker, das heißt, jemand der mit der Nostalgie der anderen rechnet. Da stehen ihm Walt Disney und Lucasfilm kein bisschen nach. Selbstverständlich wollen auch die Nazis und später die ehemaligen Nazis (die Zeit schreitet nicht voran, wir kennen das aus Deutschland) durch die Zeit reisen, um den Zweiten Weltkrieg doch noch zu gewinnen. Ihnen einen Schritt voraus ist die trotzige Helena Shaw, Tochter eines verstorbenen Experten für den Antikythera und engen Vertrauten eines gewissen Dr. Jones. Und Indiana selbst? Der murrt ab und an, dass das doch eigentlich alles ins Museum gehöre und meint damit vermutlich auch sich selbst und diese ganze Form des Unterhaltungskinos. Aber Hollywood hat längst bewiesen, dass Vergänglichkeit unvergänglich ist und dass man alles aus dem Museum holen kann, man muss es schlicht etwas aufpeppen, "modernisieren" und die reaktionären Tendenzen der Vergangenheit gegen die der Gegenwart austauschen.  



Es gäbe viele Gründe, durch die Zeit reisen zu wollen. Im Kino lassen sich diese Gründe allesamt verkaufen. Da unterscheidet sich dieses Medium nicht von anderen Vertretern der boomenden Verjüngungs-, Erinnerungs- und Anti-Aging-Industrie. Doch selbst ohne Expertise in den kausalen Fragen der Zeitreiseliteratur lässt sich erahnen, dass man, wenn man zu oft in die Vergangenheit reist, irgendwann nur noch sich selbst antreffen wird. Man erstickt in Selbstreferentialität. Das mag manchen, die ihr Haus aus verständlichen Gründen nur selten verlassen, Freude bereiten, aber es trägt auch zum allgemeinen Gefühl der Irrelevanz eines Mediums bei, das den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hat. Man schaut und vergisst. Ob es den Film gibt oder nicht, ob er von gestern oder heute ist, spielt keine Rolle. Letztlich existiert er, damit sich alle an die alten Indiana-Jones-Filme erinnern können. Die Feuilletons überschlugen sich dementsprechend mit Rekapitulationen der ursprünglichen Trilogie. Das Kino kreiert keine Mythen mehr, es verwaltet die bereits erzählten. Und dann entbrennen kurzlebige Diskussionen darüber, ob darin eine Rückbesinnung auf alte Qualitäten Hollywoods zu erkennen ist oder nur absolute Einfallslosigkeit.  

Die endlose Faszination an dem, was verloren schien, bleibt das Symptom einer Gesellschaft, die ihre Gegenwart rechtfertigen möchte und sich die Zukunft nicht mehr vorstellen kann. Das Bergen von Vergangenem, das sich mal gefährlich nah an Verschwörungstheorien und religiösen Fanatismen, mal entlang fiktionaler Höhenflüge bewegt, löst sich in "Indiana Jones und das Rad des Schicksals" doppelt ein. Denn nicht nur die begehrten, stets die Weltherrschaft versprechenden Objekte sind aus der Zeit gefallen, auch der Film und sein Protagonist sind es. Das liegt nicht am Alter von Jones oder seinem ikonischen Kleidungsstil, die in den von Mondreisen und bunten Farbpaletten besessenen 1960er Jahren besonders herausstechen. Es liegt an der selbstverständlichen Unbedarftheit, fast könnte man sagen, selbstbewussten Dusseligkeit, mit der dieser alte, sehr amerikanische Mann die komplexesten archäologischen Rätsel löst. Nie wirkte ein Mensch, der sämtliche Sprachen beherrscht, egal ob ausgestorben oder nicht, so stumpfsinnig wie Indiana Jones. Nie hat ein Höhlenkletterer so unsportlich ausgesehen. Einen solchen Charakter kann sich heute, im Zeitalter der zigfachen moralischen und dramaturgischen Absicherung jeder Heldenfigur, kein Autor in keinem Writer's Room mehr ausdenken. Das gereicht dem Film durchaus zum Vorteil, wenn man ins Kino geht, um die Welt zu vergessen. Geht man stattdessen, um etwas von der Welt zu sehen, ist es ratsam, die Augen zu schließen. Ein Beispiel: Um sich aus einer ausweglosen Situation zu befreien, stürzt sich dieser Wissenschaftler in Regale voller archäologischer Funde, um alles zu zerstören, was natürlich nicht verhindert, dass er doch noch gefangen wird. Die Objekte sind ihm und dem Film egal, obwohl es doch gerade um sie zu gehen scheint. Sie verschwinden aus dem Geist, sobald sie aus dem Bild sind. Da ähneln sie den Kriechtieren und Spinnen, die auch im neuen Teil, einmal vom Körper abgestreift und aus dem Bild gefallen, keine Gefahr mehr darstellen, obwohl sie gemäß der physikalischen Gesetze zu Füßen der Figuren liegen müssten. Attraktionskino eben, nichts für Realisten.  



Die ewige Jugend des Helden zeigt nur leichte Brüche, es wird etwas mehr geächzt als vor 40 Jahren, und ein 80jähriger Schauspieler darf sich immerhin geben wie ein 50jähriger. Eigentlich nur einmal, wenn Ford seinen gealterten, wenn auch von digitaler Kosmetik geglätteten Oberkörper ins Bild reckt, wird so etwas wie Altern sichtbar. Sonst scheint es nur aus Bedauern und Melancholie zu bestehen, die Jüngeren unter uns können beruhigt sein, nichts wird sich ändern. In einigen Flashbacksequenzen sowie im langen Prolog rund um eine klassische Zugverfolgungsjagd während des Zweiten Weltkriegs wird Ford noch stärker digital verjüngt als im Rest des Films, dann bekommt die Figur etwas seltsam Entrücktes, Künstliches. Die erstrebte Zeitlosigkeit des aus der Zeit Gefallenen lässt ihn zu einem künstlich erzeugtem Begehrensavatar werden, nicht unähnlich den Hologrammkonzerten Abbas oder Repräsentationen von Fußballern in Videospielen. Man erzeugt ein falsches oder zumindest unheimliches technisches Bild der Vergangenheit und verlässt sich darauf, dass die Zuschauer es mit ihren eigenen Erinnerungen so anreichern, dass es organisch wird. Am Ende wird gar nichts gezeigt, lediglich mit den Erwartungen und Erinnerungen derer gespielt, die das Bild unablässig abgleichen mit anderen Bildern, die sie kennen. Es ist nicht so, dass wir nicht darauf trainiert worden wären in der Popkultur. Das post-auratische Kino regiert in allen Facetten. Trotzdem ist die Verarmung der Kunst, die ein solcher Film zeigt, frappierend. Er macht nichts mehr sichtbar, nur erkennbar. Er erzeugt keine Gefühle, reproduziert sie nur mehr. Er erzählt nichts, bedient nur Erwartungen.

Dieser mal schmunzelnde, mal seufzende Grabräuber mit dem Cowboytouch taucht stets dort auf, wo er nicht sein sollte, um das zu finden, was er suchte. In "Indiana Jones und das Rad des Schicksals" sind das unter anderem Sizilien, New York (gefilmt in Glasgow) und Fez. All diese Orte sehen aus wie die Postkarten, die es von ihnen gibt. Wenn Jones handeln sollte, kommt ihm jemand zuvor. Wenn er abwarten sollte, handelt er. Das klingt recht amüsant, ein bisschen so, als wäre er einer jener fantasievollen Rebellen gegen die Moderne und sein aufregend gefilmter Ritt zu Pferde durch die New Yorker U-Bahnschächte passt in dieses Bild. Aber zu solch einem romantischen Helden taugt Indiana Jones nicht, denn, man muss es sagen, er ist ganz und gar leer, hat weder Ideale noch ein zu erahnendes Leben jenseits der Filme, er ist eine Nicht-Figur, deren emotionale Konflikte so überraschend in die Filme treten, dass man sich fragt, ob man etwas verpasst hat. Es wäre nicht weit hergeholt zu behaupten, dass der Restcharme der Figur mehr mit den Erinnerungen an Han Solo zu tun hat als mit Steven Spielberg oder James Mangold, der hier die Regie übernommen und zumindest verstanden hat, dass alles egal ist, wenn man Indiana Jones filmt. Anything goes, wie es im zweiten und besten Teil der Reihe heißt, und das betrifft insbesondere den Hauptcharakter und manch herrlich abstruse Plotentwicklung. Die Mischung aus brav und solide gefilmtem Unterhaltungsfilm und narrativem Trash bemüht sich redlich um die gute, alte  Unterhaltung und doch tröpfelt der Film durch die Zeit, weil keine narrative oder filmische Entscheidung ein Kino von heute schaffen will, sondern lediglich dem von gestern huldigen möchte.

Aber auch das ist egal. Wichtig ist, dass sich die Gefühle einstellen, die man einst hatte. Das ist die eigentliche Zeitreise. Manche sagen, dass man ohnehin nur deshalb ins Kino geht: um wieder und wieder das zu fühlen, was man sonst vergessen würde. Im Fall von Indiana Jones ist es diese kindliche Freude an Geheimnis und Bewegungskino, man darf die ganze Welt als großen Spielplatz verstehen. Endlich wieder kolonialistische Romantik könnte man zynisch anmerken. In Zeiten von Restitutionsdebatten bleibt einem nichts anderes übrig, als sich schlicht und möglichst gedankenlos in den Film zu werfen oder es erst gar nicht zu versuchen. Wenn von Kindern gesteuerte Naziflugzeuge über römischen Galeeren kreisen und man versucht, das ernst zu nehmen, ist man ohnehin fehl am Platz.

Patrick Holzapfel

Indiana Jones und das Rad des Schicksals - USA 2023 - OT: Indiana Jones and the Dial of Destiny - Regie: James Mangold - Darsteller: Harrison Ford, Phoebe Waller-Bridge, Antonio Banderas, Karen Allen, John Rhys-Davies, Shaunette Renée Wilson, Thomas Kretschmann - Laufzeit: 154 Minuten.