Im Kino

Welches Leben, welcher Mann

Die Filmkolumne. Von Karsten Munt
15.08.2023. Celine Song entwirft in "Past Lives" ein Beziehungsdreieck zwischen den USA und Südkorea. Was als Skype-Romanze beginnt, muss sich später im sogenannten echten Leben bewähren. Weil der Film stets weiß, dass Vergangenes Vergangenes bleiben muss, bleibt er freilich immer auf der sicheren Seite.


Hae-sung (Teo Yoo) kommt 24 Jahre zu spät. Er sitzt Nora (Greta Lee) und ihrem Ehemann Arthur (John Magaro) gegenüber. Aber so gegenwärtig er auch ist - Nora hat nur Augen für ihn, während ihr Ehemann als Beiwerk den Bildkader füllt -, er ist eigentlich längst Vergangenheit. Entsprechend verwirrt sind die anonymen Beobachter, die die Beziehungsverhältnisse der ersten Szene des Films im Off zu entschlüsseln versuchen, sich aber auf keine Konstellation einigen können. Hae-sung gehört nicht mehr in Noras Leben, aber gerade weil sie ihn und Korea als Kind zurückgelassen hat, ist seine Präsenz in diesem Moment umso stärker.

Tatsächlich hat Noras Leben das Verhältnis, das hier so ungeklärt erscheint, längst geregelt. Sie ist ausgewandert, verheiratet und erfolgreiche Schriftstellerin. Die Identitätsfragen klärt "Past Lives" zwischen der eigentlichen Handlung. Es geht für Nora nicht um das Leben, das sie in der Ferne, die nun Heimat ist, findet, sondern um eben jenes, das sie in Korea zurückgelassen hat.
Was genau in Korea geblieben ist, klärt der Film im ersten Teil. Nora heißt hier noch Na-young, geht zur Schule und ist das erste Mal verliebt. Wie füreinander bestimmt scheinen Na-young und der junge Hae-Sung, der ihr als Mann, aber eben nicht als Ehemann 24 Jahre später gegenübersitzen wird. In-Yun ist der koreanische Begriff für das buddhistische Konzept schicksalhafter Verbindungen, die so eng sind, dass sie nicht in einer, sondern in hunderten Lebzeiten entstehen. Oder, wie Nora es Jahrzehnte später ihrem tatsächlichen Ehemann Arthur beschreibt: die Geschichte, die Koreaner:innen erzählen, wenn sie jemanden ins Bett kriegen wollen. "Past Lives" glaubt an beide Versionen.

Für Nora, die im ersten Teil des Films, als junge Autorin, die Mühen der Migrantin längst hinter sich gelassen hat, sind alte Liebe, altes Leben und alte Identität eher existenzielle Luxusprobleme. Sie ist nicht tief getroffen, eher tief interessiert und zu ambitioniert, um die Chance auszulassen, mit dem früheren Leben oder gar dem Schicksal auf Tuchfühlung zu gehen. So sucht sie, im zweiten Teil des Films, Kontakt zu dem Mann, der, wie sie bald erfährt, schon lange Kontakt zu ihr sucht. Als nervöse Studenten treffen sich Hae-sung und Nora. Nicht physisch, sondern via Skype. Er lebt, wie Nora es nennt, "koreanisch-koreanisch", sprich, zuhause bei den Eltern, die Karriere als Ingenieur und die dazugehörige Laufbahn, inklusive Auslandssemester in Beijing, fest im Visier. Sie ist in New York angekommen. Protzig lugt ein Shakespeare vom Schreibtisch der mittlerweile erfolgreichen Schriftstellerin herüber. Einer ihrer Kindsheitsträume ist wahr geworden. Der andere klingelt via Skype an. Song sammelt hier, wie im gesamten Film, das wesentliche aus den Details zusammen, beobachtet aufmerksam wie Nora die Webcam und ihr Haar zurechtrückt, sich auf ihren Videocall mit Hae-sung vorbereitet, bei dem sie keinesfalls geschminkt aussehen darf, aber eben doch ungeschminkt gut aussehen muss. Hae-sung wird im dritten Teil, der vom ersten physischen Aufeinandertreffen erzählt, das gleiche tun: sich panisch umsehen, am Hemd rumfummeln, einzelne Haarsträhnen einfangen.



Bevor es physisch werden kann, bleibt es erstmal einmal bei der tägliche Skype-Routine. Hae-sung wächst in Noras Leben hinein. New York und Seoul spiegeln sich zu jeder Tages- und Nachtzeit im Laptop-Monitor. Sukzessive schleichen sich die entscheidenden Fragen in den Film ein. Was, wenn Nora in Korea aufgewachsen wäre? Was, wenn sie Hae-sung geheiratet und ein koreanisch-koreanisches Leben mit ihm geführt hätte? Welches Leben, welcher Mann passt am besten zu ihr? Celine Song beantwortet diese Fragen autobiografisch und zugleich aus sicherem Abstand heraus. Berührend ist das schon, aber eben auch allzu perfekt geplant.

Am Ende steht nicht die Frage im Vordergrund, ob Nora noch einmal ihr Leben über den Haufen wirft, sondern ihr Wunsch, ausgehend von den gefestigten Verhältnissen des neuen Lebens vielleicht doch einmal das neue/alte Wasser zu testen - ganz vorsichtig. Die interessanteste Figur im Beziehungsdreieck, das für die Zeit von Hae-sungs New-York-Urlaub entsteht, ist Arthur, der amerikanische Ehemann, der zwar ein paar Worte koreanisch spricht und Noras glaubhafte Versicherung hat, dass sie nicht mit irgendeinem Koreaner durchbrennen werde, der sich aber doch fragen muss, was Nora erzählt, wenn sie im Traum ihre Muttersprache spricht. Wirkliche Gefahr lässt Song freilich nicht aufkommen. Denn das, womit Nora flirtet, ist ein vergangenes Leben. So steht jede Berührung, sei sie tatsächlich oder gedacht, schon im Zeichen tiefer Melancholie. Der Film ertappt Nora und Hae-sung dabei, wie sie sich von der Enormität des Vergangenen überrollen lassen, ohne dass das bereits Vergangene noch einmal groß wird. Und doch rüttelt nichts am neuen Leben. Hae-sung gehört nicht mehr dazu, auch wenn er immer dazu gehören wird.
Karsten Munt

Past Lives - USA 2023 - Regie: Celine Song - Darsteller: Greta Lee, Teo Yoo, John Magaro, Moon Sung-ah - Laufzeit: 105 Minuten.