Im Kino

Unaufgelöste Spannung

Die Filmkolumne. Von Thekla Dannenberg, Michael Kienzl
03.02.2021. Die georgische Regisseurin Dea Kulumbegashvili erzählt in "Beginning" mit betörenden, poetischen, magischen Bildern von einer Frau, die versucht, ihr Leben zurückzugewinnen - von der Kirche, dem Ehemann, der Polizei. Francis Savels Kunstporno "Gleichung mit einem Unbekannten" von 1980 stellt den erotischen Streifzügen seines somnambulen Helden eine romantische Begegnung gegenüber und huldigt der Schönheit des Dazwischen.



Einer nach dem anderen finden sich die Gläubigen zum Gottesdienst ein, zuerst die Kinder, die sich noch ein bisschen in der Ecke schämen müssen, dann die Erwachsenen. Die Frau des Pastors empfängt sie alle persönlich in der kleinen Kirche, die noch nicht lange stehen kann, zu kalt strahlt das helle Weiß. Durch die Fenster fällt in einem scharfen Winkel das Licht wie Gottes Bannstrahl. Die Kamera bleibt auf Distanz, außerhalb des Geschehens. Wie im Kino sehen wir die Kirchgänger von hinten und über sie hinweg zum Pastor. Er steht vor einer Leinwand und ermahnt seine Gemeinde, Gott zu vertrauen. Warum verlangte er von Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern? Wie konnte Gott wollen, dass jemand sein Kind tötet? Folgsam antwortet eine Frau: "Jehova wollte Abraham testen, er wollte seinen Glauben stärken." Der Pastor ist zufrieden. Doch kaum hat er sich umgedreht, wirft jemand eine Brandbombe in die Kirche, die sofort in Flammen aufgeht. Die Gemeinde kann sich retten, das Gebäude allerdings brennt wie eine Fackel. Dahinter schimmern im Abendlicht die imposanten Bergzüge des Kaukasus. Es herrscht geradezu andächtige Stille, es fällt kein Wort, kein Schrei gellt durch den Abend, allein das Feuer faucht.
 
Am Abend sehen wir David und Yana ermattet zu Hause. Sie können sich kaum noch in die Augen sehen. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Gemeinde angegriffen wird. Sie, die Zeugen Jehovas, sind Störenfriede, das Dorf will sie nicht haben. Die Polizei weiß genau, wer den Brand gelegt hat, doch anstatt die Täter festzunehmen, fordert sie von der Gemeinde, die Videos der Überwachungskameras zu löschen. David überlegt, in die Stadt zu gehen, nach Tiflis, die Amerikaner halten große Stücke auf ihn. Doch Yana, die gefasste Frau mit den in einem strengen Knoten gebändigten Haaren, kann nicht mehr, will nicht mehr. Immer wieder umziehen, wenn etwas passiert. Ja, er, David, er hat seine Karriere, seine Ambitionen. Aber was ist mit ihr? "Das Leben geht weiter, als ob ich gar nicht anwesend wäre." Und nein, sie kommt auch nicht mit zu der Konferenz, sie braucht Zeit für sich.
 
In ihrem Spielfilmdebüt "Beginning" erzählt die georgische Regisseurin Dea Kulumbegashvili die Geschichte einer Frau, die ihr Leben zurückgewinnen will, ihre Freiheit, ihre Autonomie. Und die es doch nicht schafft, Unfreiheit und Unmenschlichkeit zu entkommen. Sie wird heimgesucht werden von einem Polizisten, gedemütigt und vergewaltigt. Auch gegenüber ihrem Mann wird sie sich nicht zu wehren wissen, der sie nach seiner Rückkehr ebenso hartherzig verhört: "Wer warst Du, bevor ich dich erschaffen habe? Eine lausige Schauspielerin", höhnt er ihrem Schmerz hinterher. Liebe und Vertrauen bringt der Pastor für seine Frau nicht auf. Am Ende wird sie furchtbar strafen, ihren Mann und mehr noch sich selbst. Sie wird gegen andere eben jene Grausamkeit kehren, die sie selbst auch nicht verdient hat. Will sie die Liebe ihres Mannes auf die Probe stellen? Oder unsere Bereitschaft zu verstehen?
 


Erklärungen für Yanas Handeln liefert Kulumbegashvili nicht. Sie fordert von uns Vertrauen in einen Menschen ein, dessen Handeln sich allen Erklärungen entzieht. Und sie verlangt uns einen geradezu unbedingten Glauben an das Kino ab. Eine ziemlich selbstbewusste Geste. In wenigen, extrem langen Einstellungen erleben wir vor der stets unbewegten Kamera das eindringliche Spiel von Ia Sukhitashvili, die dennoch so wenig von sich preisgibt. Wir müssen uns selbst einen Reim auf diese Frau machen, die sich von ihrer Familie lossagen musste und die den Kindern der Gemeinde immer wieder eintrichtern muss, was ihnen in der Hölle bevorsteht. Kulumbegashvili erzählt von Yanas Leben allein in Bildern, in betörenden, poetischen, magischen Bildern. In dieser religiösen Welt ist die Moderne suspendiert.
 
An einem Nachmittag geht Yana mit ihrem Sohn Giorgi im Wald spazieren. Sie lässt sich ins Laub sinken und verharrt dort regungslos. Minutenlang. Selbst als Giorgi immer ängstlicher versucht, seiner Mutter eine Reaktion zu entlocken, bewegt sie sich nicht. Aber das Licht wechselt. Kaum spürbar wandert der Lichtstrahl über ihr Gesicht. Es ist eine Szene, die allein aus dem Augenblick geboren wurde. "Ein Mensch vor der Kamera, während sich das Licht ändert" - für Kulumbegashvili ist das die reinste Form des Kinos. Wie auch in der Szene zu Beginn wünscht man sich hier, diesen Film auf einer großen Leinwand zu sehen. Dass der Arthouse-Streamingdienst Mubi ihn exklusiv bei sich zeigt, ist trotzdem ein Glück. Denn auch ohne Pandemie wäre es nicht garantiert, dass der Film, der in Cannes im Wettbewerb lief und seither einen ziemlichen Hype erlebt, seinen Weg in die deutschen Kinos gefunden hätte.

Thekla Dannenberg
 
Beginning - Georgien 2020 - Regie: Dea Kulumbegashvili - Mit Ia Sukhitashvili, Rati Oneli, Saba Gogichaishvili - Laufzeit: 130 Minuten. "Beginning" auf Mubi.

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Paris wirkt in Francis Savels unter dem Pseudonym Dietrich de Velsa gedrehten Kunstporno "Gleichung mit einem Unbekannten" (1980) wie ein rauer und menschenfeindlicher Ort. Während der namenlose Protagonist (Gianfranco Longhi) mit seinem Motorrad durch die Stadt fährt, sehen wir überwiegend Baustellen, Fabriken und grobe Wohnblöcke. Bevölkert wird diese futuristisch graue Geisterstadt fast ausschließlich von jungen, melancholisch dreinblickenden Männern, die sich mit ihren drahtigen Figuren und mittellangen Wuschelfrisuren irgendwie alle ähnlich sehen.

Ein Fußballmatch, das zwangsläufig unter der Gemeinschaftsdusche endet, setzt den Ton des Films: Im Folgenden werden sich immer wieder Körper gegenseitig anziehen, miteinander ringen und schließlich voneinander ablassen. Dabei wirken die unterschiedlichen sexuellen Begegnungen des Helden weniger zügellos als schlafwandlerisch. Auch die Schauplätze umgibt eine geheimnisvolle Aura, die an einen Traum erinnert. Während es draußen diesig ist, werden die Innenräume von einem harten Licht dramatisch aufgeladen. Wenn der Protagonist über eine Wendeltreppe in seine abgefuckte Wohnung geht, sieht es aus, als würde er von einer Spirale eingesogen werden. Und eine Umkleidekabine mit rot gestrichenen Wänden und nackt aufgebahrten Leibern lässt Savel wie eine heidnische Kultstätte aussehen.

So sehr der Film einen mit seiner mysteriösen Stimmung in den Bann zieht, so entschieden hält er uns zugleich mit Stilisierungen auf Distanz. Der Vorspann etwa wird mit Kreide an eine Wand geschrieben, der Abspann aus dem Off deklamiert und die mechanisch wirkende Tonspur verleiht den Bildern eine gewisse Künstlichkeit. Während eines Vierers im Umland etwa ertönt Vogelgezwitscher, das offensichtlich aus der Konserve stammt, und bei der finalen Sexszene ist statt Originalton ein vom Geschehen völlig entrückter Loop zu hören, der scheinbar eine Bootsfahrt festhält.



Auch zwischenmenschlich wirkt der Film brüchig. Die wenigen Dialoge sind entweder rein funktional oder von einer kargen Poesie geprägt ("You have to be mine. And you have to be the one who wants it."). Die zweideutig frivole, an einen feschen Tankwart gerichtete Aufforderung "Fill me up" erscheint da geradezu unpassend. Beim Sex wirken die Darsteller mit ihren meditativen Bewegungen ganz in sich versunken. Teilweise wird derart gedankenverloren geblasen und gerimmt, als hätte man die Anwesenheit des Anderen vergessen.

Halb weggetreten sitzt ein Blonder einmal auf dem Klo einer Arbeiterkneipe und macht sich mit geschlossenen Augen an fremden Gemächtern zu schaffen. Irgendwann erscheint der Barkeeper und pinkelt den Sitzenden an, was jedoch nicht wie eine sexuelle Dominanzgeste wirkt, sondern so, als würde er den Jungen gar nicht bemerken. Jeder befindet sich an der Grenze zur Unsichtbarkeit. Zweimal sehen wir ältere Männer, die den jüngeren neugierig hinterherschauen, aber gar nicht wahrgenommen werden. Es ist, als wären sie in diesem ewigen Kreislauf flüchtiger, nur kurzfristig befriedigender Begegnungen zu Geistern geworden.

"Gleichung mit einem Unbekannten" wirkt, schon weil er zwischen zwei Jahrzehnten entstanden ist, wie innerlich zerrissen. Die mit ihren Halstüchern noch etwas hippiemäßig aussehenden Jungs sind von einer stylish kühlen Atmosphäre umgeben, die bereits ziemlich 80er ist. Der ganze Film ist voller solcher Gegensätze und Dissonanzen. Mal ist er romantisch, dann wieder streng und abweisend. Mal ist die Musik kindlich verspielt, mal ertönt eine elektronische Version von Franz Schuberts schwermütigem "Der Tod und das Mädchen" - die vielleicht nicht ganz zufällig an Wendy Carlos' Soundtrack für Kubricks ähnlich dystopisch gelagerten "Clockwork Orange" erinnert.

Selbst die rudimentäre Handlung basiert auf einem Gegensatz. Den erotischen Streifzügen des Helden werden intime, deutlich romantischer gelagerte Begegnungen mit einem Francois gegenübergestellt. Wenn die beiden am Ende miteinander schlafen, schweift der Film zu einer Gangbang-Vision ab, bei der alle bisherigen Sexpartner noch einmal auftreten. Während es mit Francois Intimität, aber auch eng gesteckte Grenzen gibt, bietet das Rudel einen Exzess, der manchmal fast zwanghaft wirkt. Eine Entscheidung zwischen beiden Varianten bleibt aus, die aufs Cruising anspielende mathematische Gleichung des Titels ohne Ergebnis. Was bleibt ist eine unaufgelöste Spannung, die das Geheimnis des Films ausmacht. Savel balanciert zwischen Traum und Wirklichkeit, Ekstase und Tristesse. Statt jemals dem einen oder anderen Extrem zu verfallen, huldigt er der Schönzeit des Dazwischen.

Michael Kienzl

Gleichung mit einem Unbekannten - Frankreich 1980 - OT: Équation à un inconnu - Regie: Francis Savel (als Dietrich de Velsa) - Mit Gianfranco Longhi, Jean-Jacques Loupmon, Reinhard Montz, Éric Guadagnan, Jean Denis - Laufzeit: 94 Minuten. "Gleichung mit einem Unbekannten" bei Salzgeber Club.