Im Kino

Spezielle Form von Einsamkeit

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Karsten Munt
23.05.2018. Stéphane Brizés Maupassant-Verfilmung "Ein Leben" zeigt die Unfähigkeit des Gegenwartskinos, Passivität  als Form zu akzeptieren . Trotzdem lohnt der Film, denn er ist auf 35 Millimeter gedreht. In Ron Howards "Solo: A Star Wars Story" entkommt nur der zauselige Chewbacca  dem quasialgorithmischen Determinismus des Cinematic-Universe.











Der Rekrutierungsoffizier des Imperiums ist nicht kleinlich. Aber zumindest einen Nachnamen oder eine Volkszugehörigkeit verlangt er von jedem Rekruten, bevor dieser den Streitkräften beitreten kann. Der junge Han hat nichts dergleichen. "I'm alone", sagt er achselzuckend. Der Offizier findet seine eigene Lösung für das Dilemma: Dem Vornamen Han fügt er süffisant ein "Solo" hinzu.

Was Ron Howard als trockenen Witz inszeniert, drängt sich gleichzeitig als Schlüssel zum Verständnis des Prequels auf. "Solo: A Star Wars Story" buchstabiert die Leerstellen des Star-Wars-Universums aus, von Han Solos Geburtsort über seine erste Liebe bis zu seinem Nachnamen. Das Schicksal des großherzigen Kleinganoven ist bereits geschrieben, muss in den folgenden 135 Minuten also lediglich konkretisiert werden.

Die Beats, die es in "Solo: A Star Wars Story" zu treffen gilt, sind bekannt: Chewbacca, Lando Calrissian, Millennium Falcon. Entsprechend fällt die Karriere in der Infanterie des Imperiums recht kurz aus. Solo, der ohnehin nicht am Imperium, sondern vielmehr am Pilotendasein interessiert ist, desertiert im Schlepptau des Banditen Beckett (Woody Harrelson). Auf ein kurzes Grabenkrieg-Scharmützel folgt der erste von mehreren Heists, die Han langsam an das Leben als Outlaw heranführen.

Wichtiger als die Mechanik der eigentlichen Diebstähle, Schmuggeleien und anschließenden Verfolgungsjagden sind die an ihnen Beteiligten: "Solo: A Star Wars Story" ist ein Film der ersten Begegnungen. Die bereits erwähnten Sidekicks und primären Wegmarken werden pflichtbewusst abgearbeitet. Howard versucht sich gar nicht erst an ikonischen Momenten, sondern - und das ist vielleicht der einzige Fingerzeig auf eine persönliche Handschrift - bleibt einem betont prosaischen Gestus treu. Ähnlich wie der Adrenalinrausch des Rennsports der 1970er in "Rush" oder das biblische Abenteuer des Walfangs in "In the Heart of the Sea" sind die ersten Treffen mit den bekannten Figuren betont nüchterne Erfahrungen.











Wo einst der Begriff des Schicksals und das Pathos der Space-Opera stand, ist nur noch die Idee der Lebensstationen zu finden. Oft fühlt sich "Solo: A Star Wars Story" an wie ein Bewegtbild-Lebenslauf von Han Solo, dessen Höhepunkte pflichtbewusst abgearbeitet werden. Natürlich hängt an dieser Vita das schöne Passbild Alden Ehrenreichs, dessen selbstsicheres Grinsen ziemlich genau zumindest meine Idee einer Han-Solo-Figur trifft. Doch scheinen die meisten Szenen des Films nur die Bewerbungsmappe des Protagonisten für den nächsten Prequel-Job im Cinematic-Universe zu füllen und zerstören damit einen Teil des Reizes, den die angedeuteten Tiefen des Star-Wars-Universums evozieren.

Zumindest als analoges Universum sind die Welten, um die der Krieg der Sterne stattfindet, aber noch immer intakt und erfrischend old-school geblieben. In Actionszenen dampft, rüttelt und klappert das mechanische Umfeld noch wie in den Siebzigern. Das schönste Beispiel ist ein Güterzug, den Solo, Beckett, Chewbacca und der Rest des Gefolges auf einem Eisplaneten zu überfallen versuchen. Wie eine Achterbahn schlängeln sich die Wagons auf Schienen um die schneebedeckten Berge. Um an die Beute - eine gewaltige Ladung von ultrapotentem Treibstoff - zu kommen, muss einer der Wagons abgekoppelt und mithilfe des Raumschiffs herausgehoben werden. Dabei ist weniger Präzision mit der Blasterpistole gefordert, als gute alte Handarbeit. So wird geschraubt, geschleppt, gezerrt und abgekoppelt - immer im Team und gegen das sonst dominante Credo des Films, das von Beckett vor jedem Raub neu ausgesprochen wird: "Stick to the plan. Don't improvise." So ist Han Solo, und mit ihm der Film, immer dort bei sich, wo er gegen die Determinismen des Cinematic-Universe selbst antritt. Ein Kampf, der abseits der ölverschmierten Actionschraubereien aber gar nicht erst geführt wird und ohnehin wie ein hoffnungsloses Unterfangen erscheint.

Der Druck des Franchise entfaltet in "Solo" eine ebenso zwingende wie gnadenlose Wirkung. Die letzten Geheimnisse, mit denen Han, Lando und Co. die Bühne ursprünglich betreten haben, werden ausgestanzt, um quasialgorithmisch das Curriculum Vitae Solos durchzuarbeiten. Einzig der zauselige Chewbacca bleibt verschont vom Prequel-Ethos. Der Wookie, der in seiner scheinbar ewigen Jugend nahezu alle Star-Wars-Teile miterlebt hat, bleibt das einzige Enigma des Films. Seine Stammesgeschichte wird in ihrer Tragik nur grob umrissen und doch schwingt ihr Schmerz in Chewbaccas melancholischem Gejaule immer mit. Die Sprache des Wookies bleibt auch hier unbekannt, kann nur durch den unzuverlässigen Dolmetscher Han Solo weitergeben werden. So behält jede seiner Gesten ihren idiosynkratischen Charme. Ob er die Hände zu den Sternen reckt und heult oder nur im Nachhall eines leisen Seufzers den Kopf zur Seite legt: Der Wookie bleibt der einzige, dessen Schicksal nicht gänzlich für einen weiteren standardisierten Lebenslauf ausformuliert wurde.

Karsten Munt

Solo: A Star Wars Story - USA 2018 - Regie: Ron Howard - Darsteller: Alden Ehrenreich, Joonas Suotamo, Wody Harrelson, Emilia Clarke, Donald Glover - Laufzeit: 135 Minuten.

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Der Film ist durchweg im alten Normalformat (1,137:1) kadriert, er ist also nicht viel breiter als hoch, was zur Folge hat, dass die Leinwand von einem Gesicht in Großaufnahme fast komplett ausgefüllt wird ("eine Großaufnahme ist ein Gesicht" - diese Deleuzesche Formel funktioniert nur bei Filmen im Normalformat). Großaufnahme solcher Art verorten Gesichter nicht (in der Welt), sondern betten sie ein (im Bild). Was auch heißt, dass die Normalformatgroßaufnahme eine spezielle Form von Einsamkeit hervorbringt. Das große, einsame Gesicht ist in diesem Fall zumeist das der Hauptdarstellerin Judith Chemla und es wird oft im Profil gefilmt, teils auch schräg von hinten. Sie richtet den Blick nach unten, oder durch ein Fenster hindurch nach draußen, aber deshalb nicht in die Zukunft, und erst recht nicht auf die Gegenwart der Welt, die sie umgibt, sondern sie schaut eher in sich selbst hinein, oder in die Vergangenheit.

Chemlas Gesicht = Großaufnahme ist der Ruhepol, das passivisierte Zentrum des Films. Drumherum herrscht beständige Bewegung, vermittelt über eine agile Kameraarbeit und eine fluide Montage, die sich beide kaum einen Moment Stillstand gönnen; das Modell, an dem sie sich orientieren, ist die Flüchtigkeit der alltäglichen Wahrnehmung (Kamera), beziehungsweise die bis zu einem gewissen Grad unsystematische Selektivität der Gedächtnisfunktion (Montage). Der Film versammelt keine Bruchstücke der Welt, sondern die Fragmente einer Subjektivität. Stimmen lösen sich von Körpern, Körper lösen sich aus sozialen Situationen, oft ist unklar, ob Chemlas Gesicht von einer äußeren, oder einer inneren Stimme angesprochen wird. Ein Naturalismus der Perzeption, der nicht auf eine weltzugewandte Wachheit, sondern auf eine zwar reiche, aber letztlich gebundene, sedierte Innerlichkeit verweist. Eine wiederkehrende Einstellung: die düster dreinblickende Jeanne vor dunklem Hintergrund, den Kopf langsam, rhythmisch nach vorn und dann wieder nach hinten bewegend, eine jetzt offen psychotische Selbsteinschließung.



















Um diese bloß reaktive, mit zunehmender Laufzeit immer tiefer in Wiederholungsschleifen einbalsamierte Subjektivität befindet sich, das behauptet der Film freilich eher, als dass er es wirklich zeigt, eine stetig sich verändernde Welt. "Ein Leben", die Verfilmung eines Guy-de-Moupassant-Romans, spielt im 19. Jahrhundert. In einer Szene taucht das Modell einer Dampfmaschine auf. Das soll wohl jenen historischen Fortschritt symbolisieren, von dem die Hauptfigur aufgrund ihres Geschlechts ausgeschlossen bleibt: Judith Chemla spielt Jeanne Le Perthuis des Vauds, eine Frau, die zu Filmbeginn hoffnungsvoll das Elternhaus verlässt, nur um bald wieder zurückzukehren, die nacheinander von ihrem Mann und ihrem Sohn enttäuscht wird, und die die Hilfe der einzigen ihr freundlich zugewandten Person - einer Haushälterin - auch im Angesicht ihres eigenen rapiden sozialen Abstiegs ablehnt, beziehungsweise gar nicht erst als Hilfe anerkennt.

In einem mir unsympathischen Kurzschluss wird aus der agilen audiovisuellen Stillstellung eines Gesichts ein biografischer Stillstand. Unsympathisch ist mir das aus zwei Gründen. Zum einen fühlen sich die Bilder übergriffig an: sie schreiben eine spezifische Weltwahrnehmung als eine Reaktion auf eine spezifische soziale Konstellation fest. Und zwar als eine falsche Reaktion. Passivität und Introspektion werden diskreditiert, eingefordert wird dagegen wieder einmal das, was Jeanne nicht hat: Extrovertiertheit, Agency. Die Unfähigkeit des Gegenwartskinos, aber auch der Filmkritik, Passivität, Hilflosigkeit und Ausgesetztsein als Erfahrung, aber auch als Form zu akzeptieren, verwundert mich immer wieder. Auch die Erinnerung ist nur etwas, in das man flüchtet. Zum anderen mag ich "Ein Leben" nicht, weil ein Blick, der Subjektivität nur von der sozialen Determination her denkt, immer schon vorab weiß, was es zu sehen gibt. Der Vater sieht mustergültig väterlich aus, die Mutter mustergültig mütterlich. Der Douchebag-Ehemann (trotzdem der interessanteste Darsteller im Cast: Swann Arlaud) ist mustergültig douchey, der Sex mit ihm wird erst erduldet und dann, in einem Moment des raren Glücks, gierig genossen.

Was bleibt, ist die Schönheit des 35mm-Materials, das glücklicherweise beim Dreh zum Einsatz kam. Und das ist nicht wenig. Zum Beispiel, weil nur der analoge Film echte Dunkelheit kennt; beziehungsweise, weil nur im analogen Kino Dunkelheit eine eigene physische Textur hat und nicht nur die Abwesenheit von Licht ist. In einer visuell großartigen Szene verlässt Jeanne des Nachts während eines Sturms ihr Haus und wird für einige Momente zu einem bloßen Flackern im ewigen Schwarz. Auch Jeannes Gesicht ist in den Nachtszenen - illuminiert durch sehr wenige, ausschließlich natürliche Lichtquellen - von seinem Hintergrund nicht scharf abgegrenzt. In manchen dieser Einstellungen scheint sich die Schwärze fast in das Gesicht hineinzufressen. Noch schöner sind freilich die Außenaufnahmen bei Tageslicht, das saftige Grün der Wiese, das gekräuselte Blau des Meeres, das sandige Braun einer Steinmauer… Die konventionellsten Stellen des Films sind auch die schönsten: atmosphärische Cutaways auf Blätter und Äste, Wellen als emotionale Szenenübergänge. Die Elemente und Dinge der Welt haben plötzlich wieder eine eigene, nur ihnen zugehörige Textur und beim Gedanken daran, dass früher alle Filme so ausgesehen haben, könnten einem fast die Tränen kommen.

Lukas Foerster

Ein Leben - Frankreich 2016 - OT: Une vie - Regie: Stéphane Brizé - Darsteller: Judith Chemla, Jean-Pierre Darroussin, Yolande Moreau, Swann Arlaud, Nina Meurisse - Laufzeit: 119 Minuten.