Im Kino

Der Tag, an dem die Stimme brach

Die Filmkolumne. Von André Malberg
01.11.2020. Sean Connery besaß eine ganz eigene Form der Authentizität. Seine Ambivalenzen waren die seiner Charaktere - nicht zuletzt äußerten sie sich in der immergleichen, unverstellten schottischen Varietät des Englischen.  Am Samstag ist Connery gestorben. Ein Nachruf
Sean Connery und Karin Dor in "You only live twice"


Ich erinnere mich noch sehr genau an jenen Tag, an dem ich die Stimme zum ersten Mal bewusst wahrnahm. Als Kind war mir Sean Connery der James Bond meiner Eltern gewesen, ein elegant gekleideter Agent und Casanova mit einer zu Beginn nicht weniger elegant-mitleidslosen Einstellung zur die berühmte Doppelnull spendierenden Lizenz zum Töten. Der Schauspieler, den ich hinter diesem frühen Bild erkannte, als ich wesentlich später - nun bereits adoleszent - in John Milius' "The Wind and the Lion" (1974) erstmals seiner unverkennbaren Stimme ganz Ohr sein konnte, war allerdings ein anderer Mann - und mochte er auch noch so sehr, wie kein zweiter des 20. Jahrhunderts vielleicht, mit seiner berühmtesten Rolle verschmolzen sein.

Der Raisuli aus "The Wind and the Lion" war nicht nur die gerade heute besonders aufrichtig und offen wirkende westliche Imagination eines muslimischen Gläubigen, sondern auch ein zarter, in aller Verspieltheit nie ganz alberner Scherzbold, einer von denen, die auf die Frage nach der eigenhändig herausgeschnittenen Zunge eines anderen Mannes knapp antworten: "Perhaps the previous owner had nothing pleasant to say." Im feinsten Bellen des schottischen Zungenschlages noch dazu. Sean Connery ließ sich nicht so leicht von seinen Charakteren separieren, wie man das heute gerne handhabt, um auf Authentizität verweisen zu können, ohne das Wort überdeutlich aussprechen zu müssen. Er besaß eine andere Form der Authentizität. Seine Ambivalenzen waren die seiner Charaktere - nicht zuletzt äußerten sie sich in der immergleichen, unverstellten schottischen Varietät des Englischen. Eleganter Sexappeal und der derbe Griff der ehemaligen Arbeiterhände; donnernde Laute und die eingeschüchterte Befremdung hinter ihnen; die Weltgewandtheit eines Mannes, der in der sich rasch technokratisierenden Welt der Männerfilmer McTiernan, Mulcahy oder Milius gleichzeitig wie ein Relikt wirkt.

Sean Connery in "Murder on the Orient Express"


Connery, der einmal zugab, dass es für ihn bestimmte Momente gebe, in denen es in Ordnung sei, eine Frau zu schlagen, gab seinen Charakteren etwas von der eigenen Ambivalenz mit, die ihm als weltweite Männlichkeitsikone weit über den Lauf der Karriere hinaus zufiel, ohne dass seine Männer als gebrochene, abgehängte Kümmerlinge auserklärt oder überhaupt erst konzipiert werden mussten. Seine Ehrlichkeit, seine Schwäche war eine andere, vielleicht die größte des Kinos und sie lag in der vorgeblich maskulinsten aller Stimmen begründet. Unter den rachedürstenden Verschwörern in Sydney Lumets "Murder on the Orient Express" (1974) ist er der augenscheinlich selbstsicherste, potenteste, bis hin zu einem Gespräch mit Albert Finneys Hercule Poirot, in dem das Unterbewusstsein mehrfach an die Oberfläche drängt. Dennoch versagt ihm die Hand, als Poirot uns die Nacht des Mordes illustriert, er stößt das Messer sanfter ins Herz des Opfers als Anthony Perkins und John Gielgud, die neurotischen und sanften Männer des Filmes, es tun. "Murder on the Orient Express" ist an vorderster Stelle eine Abhandlung darüber, wie Menschen sich über die feineren Implikationen ihrer von anderen gelesenen Männlich- oder Weiblichkeit selbst definieren, sie nutzen können, um eine der gegenwärtigen Gesellschaft angemessene Maske des öffentlichen Menschen zu kreieren. Colonel Arbuthnot, dem verdienten Soldaten und Schnauzbartträger, sitzt sie mit größter Schieflage im Gesicht. Es ist die Stimme seines Darstellers, die ihm stets dazwischenfunkt, ihn als kleinen Mann in großer Statur entlarvt. "In memory of Colonel Armstrong - a great soldier … and an even greater friend": So kündigt sie seinen Beitrag zum rituellen Blutprozess an - und bricht zwischen dem dahingegrummelten ersten Beziehungsaspekt und dem schwerwiegenderen zweiten in eine wehmütige Zärtlichkeit, die unweigerlich zu Tränen rührt.

Sean Connery und Bethel Leslie in "The Molly Maguires"


In einem anderen Film besitzt Sean Connery zunächst gar keine eigene Stimme mehr, sie hat sich abgenutzt, ist stumm und heiser geworden. Kein Schutz mehr gegen Gefahr, Ausbeutung und Indifferenz, die Arbeiterführer "Black Jack" Kehoe fern der heimischen Felder Irlands in den Kohleminen Pennsylvanias täglicher Begleiter sind. In Martin Ritts Aufstandsdrama "The Molly Maguires" (1970) sind es nicht die bedrückenden, dichten Bilder von Kameraman James Wong Howe, die uns dieser Figur näher bringen; vielmehr sind es wiederum die Überreste einer Stimme, gutturale Laute, die die dem Publikum der 70er Jahre so vertrauten Klänge der Stimmbänder des Superstars Sean Connery maximal verfremden. Nach dem bestimmten Schweigen des präzis ablaufenden Verschwörerhandwerks in der Eröffnungssequenz und gut 40 weiteren Minuten verbaler Enthaltsamkeit findet Connery, dessen Zeit als adretter Leading Man mit diesem Film zu Ende geht, erst dann zurück zur Stimmgewalt, als die Revolution längst ins kehlige Lachen hervorbrechender Destruktivität umgeschlagen ist. Die Ohnmacht in Männern, die nicht auf bereitwillig aus gesellschaftlicher Konvention bereitgestelltes Gehör zählen dürfen: Niemand konnte sie besser darbieten als er.

Sean Connery in "The Bowler and the Bunnet"


Eine letzte Abwandlung der Modulation: Der Sean Connery, der 1967 seine einzige und nun ein für alle Mal letzte Regiearbeit moderiert, ist nicht der öffentlich wahrgenommene Schauspieler, sondern der plötzlich millionenschwer gewordene Milchjunge aus den Straßen Edinburghs. Deshalb hat er sich verkleidet, mit Bonnet und festem Schuhwerk, denn die Fernsehdokumentation "The Bowler and the Bunnet" handelt von schottischen Werftarbeitern und von Golfspielern, die aus den Händen der Arbeiter Arbeit nehmen und den Gewinn in Schläger umtauschen; und auch von der Hoffnung, die das Fairfield Experiment der gleichnamigen Werft mit Erinnerungen an den gemeinsamen Platz beider Parteien im kenternden Industrieboot hervorlocken wollte. Auf wessen Seite der vom Glamour befreite Filmstar sich sieht, ist überdeutlich und doch verwischt. Auch die passende Bekleidung kann ihn nicht in den Vordergrund der Aufnahmen rücken, immer wieder findet er sich im Abseits kameradschaftlicher Gespräche, als Körper unter vielen bei der durchgetakteten Ertüchtigung, fern, verkleinert, antwortlos aus dem Rumpf eines Schiffes schauend. Er steht im filmischen Nichts und aus dieser Position heraus könnte selbst das wohlklingendste Organ nicht die noble Moderatoreneleganz eines herkömmlichen Promikommentars evozieren. Filmlegende Connery erklärt alles und weiß doch nur, was der Privatmensch Sean auch fühlt. Einmal wird ihm ganz konkret die Stimme geraubt, wenn er in seinen Händen Produkte hält, die allerdings von einem anderen Mann beworben werden. Im Wechselbad aus Bild und Ton gebiert sich eine andere Präsenz, eine, die dem großen, dem größten MANN der Kinoleinwand nicht schlecht steht: die formvollendete Bescheidenheit und Zurückhaltung angesichts der Kämpfe, die man schon längst nicht mehr kämpfen kann, ohne die eigenen Privilegien reflektieren zu müssen. Notfalls auf der Leinwand, vor den Augen des nationalen Fernsehpublikums. Eine vergessene Prophezeiung, die es nun in den Fluten von Würdigungen und Retrospektiven wiederzuentdecken gilt.

Sean Connerys Stimme mag am 31. Oktober 2020 zum letzten Mal gebrochen sein, konserviert im kulturellen Gedächtnis wird sie uns dennoch dauerhaft einer der größten Lügen in unserem Popkulturverständnis mahnen: Der James Bond der Herzen war mehr als ein augenfreundlicher Schönling, dem mit seiner berühmtesten Rolle der Durchbruch zum Weltstar über Jahrzehnte hinweg gelang. Er war auf der Leinwand wie in ihrem Schatten die anmutigste Repräsentation der Risse, die im Mann des letzten Jahrhunderts aufkeimten und den heutigen prägen.
Stichwörter