Im Kino

Walters Kunstfertigkeit im Noh-Gesang

Die Filmkolumne. Von Sebastian Markt
11.05.2023. Rainer Komers dokumentiert in "Miyama, Kyoto Prefecture" ein Dorf in Japan, in dem seit 30 Jahren Uwe aus Gelsenkirchen lebt. Porträtiert wird dabei weniger er, als die dörfliche Gemeinschaft, von der er ein Teil geworden ist.


Mehrere Male findet sich in Rainer Komers jüngstem Dokumentarfilm eine eigensinnige filmische Geste: Die Kamera schwenkt vom Gesicht zu den Händen eines Porträtierten und wieder zurück. Wenn ein Holzfäller von seiner Arbeit erzählt (bei der wir ihm gerade zugesehen haben), zum Beispiel, oder wenn er erzählt, wie er dazu gekommen ist und welche Verletzungen er erlitten hat. Dass die versehrten Hände, von denen der Mann erzählt, im Moment des Schwenks unter dem Küchentisch halb verborgen bleiben, unterstreicht nur die Prägnanz der Geste. Oder wenn Uwe, der unwahrscheinliche lebenskünstlerische Protagonist des Films - in Thüringen geboren, in Gelsenkirchen aufgewachsen - sehr spät im Film von den Kontingenzen und Hakenschlägen des Lebens erzählt, die ihn nach Japan geführt haben, wo er nun seit mehr als drei Jahrzehnten lebt.

Die Bewegungen zwischen Gesicht und Händen von Menschen, die der Film in ihrem Alltag beobachtet, und denen er aufmerksam zuhört, sind kleine, unaufdringliche Momente im ruhigen Fluss des Films. Sie sind charakteristisch für Komers Art, sich filmisch einem Gegenstand zu nähern, für eine dokumentarische Poetik, die die Form nicht in den Dienst des Gegenstands stellt, sondern vielmehr aus den wechselseitigen Bezügen zwischen Form und Gegenstand etwas Drittes entstehen lässt.

Das Sujet, dem sich Komers in "Miyama, Kyoto Prefecture" widmet, ist mit dem Titel trügerisch präzise bezeichnet: Miyama ist ein Dorf in der Präfektur Kyoto, 50 Kilometer nordwestlich der gleichnamigen Großstadt, in oft nebelverhangenen Bergen gelegen. Reisanbau, Holz- und ein bisschen Viehwirtschaft, Jagd prägen das Dorfleben. Ein Speicherwasserkraftwerk mit zugehörigem Staudamm - das erzählt ein kommunistischer Lokalpolitiker, der mit einem kleinen Lautsprecher-Auto für den Wahlkampf in den Film gefahren kommt - wurde verhindert, die Gegend hat sich ihren von allzu drastischen Signalen des industriellen Fortschritts verschonten, ländlichen Charakter bewahrt, was ihr nunmehr den Status eines Refugiums und beliebten touristischen Ausflugsziels beschert.



Ähnlich wie Komers' "Barstow, California" von 2018 ist "Miyama, Kyoto Prefecture" ein Werk, in dem Landschaftsfilm und Porträt verschmelzen. Porträtiert wird weniger Uwe Walter, als die Gemeinschaft des Dorfes, von der er ein Teil geworden ist. Der Film setzt ein mit einer kurzen Folge von Bildern: Ein Weg durch den Wald, der kleine Fluss, der sich durchs Tal schlängelt, Eisenbahnschienen, die nicht mehr in Gebrauch zu sein scheinen, eine improvisierte Brücke. Die Landschaft in ihren visuellen und auditiven Eigenheiten und ihre Bedingungen sind der Ausgangspunkt einer Betrachtung, die in zurückhaltenden Schlaglichtern und Vignetten Lebensläufe und Formen des in-der-Welt-Seins in den Blick nimmt.

Das Handwerk des Holzfällens, Wildschweinjagd und Fleischzerlegen, Zäune um den Gemüsegarten bauen, um die Makaken von der Ernte fernzuhalten, Ausbesserungen an Reet-Dächern; die Mühsal des Setzens der Reispflänzchen für den Eigenbedarf, sowie der sich dabei entspinnende Dialog der Eheleute; Rituale und Walters Kunstfertigkeit im Noh-Gesang; Feste feiern und das prägnant vorgetragene Programm der Kommunistischen Partei Japans für die regionalen Wahlen; Gedichtanalyse in der Grundschule, Steinstatuen, mit Lippenstift hübsch gemacht, und mit Mäntelchen vor der Kälte geschützt.

Mit Uwe Walter führt ein Cicerone durch diese kleine Welt, der seinen Status als Außenseiter hinter sich gelassen hat, aber als Geschichte mitträgt. Ein Kino, in dem sich die Materialität des Alltäglichen und die Transzendenz der Lebensfragen nicht gegenseitig im Weg stehen, sondern sich auseinander ergeben. Wenn eine der Alten des Dorfes lachend davon spricht, dass sie als Japanerin am Ende einfach verschwinden möchte ("In voller Blüte stehen und dann verschwinden, die Asche unter dem unter dem Kirschbaum - das Leben ausgehaucht"); wenn Walters im Ruhrpott geschulte Schalkhaftigkeit die Schicksalsschläge rekapituliert, und ein Ereignis, das traumatisch gewesen sein muss, knapp kommentiert mit: "Und so kam ich nach Japan - Hehe!" dann konvergieren darin zwei, oder vielleicht gar drei lakonische Lebenshaltungen.

Sebastian Markt

Miyama, Kyoto Prefecture - Deutschland 2022 - Regie: Rainer Komers - Laufzeit: 97 Minuten.