Im Kino

Neon Genesis Miyazaki

Die Filmkolumne. Von Kamil Moll
03.01.2024. Ein Menschenkopf, der aus einem Vogelkörper wächst wird in Hayao Miyazakis langerwarteten neuen Film "Der Junge und der Reiher" zum Ausgangspunkt einer Erkundung verzweigter Traumwelten. Der Animationsfilm wirkt wie die Summe der Themen und Stilistiken, die das Werk des Regisseurs seit langem prägen - und ist doch womöglich noch nicht dessen endgültiger Schlusspunkt.


Als Kind habe ich bisweilen meinen Vater bei Vogelzählungen für einen regionalen Naturschutzbund begleitet. Am liebsten bin ich dabei entlang der Ufer von Weihern und Wassertümpeln entlangspaziert, Tiere erspähend, deren Namen ich kaum kannte und von denen mir jedes für sich neu und unbekannt erschien. Vögel, die im flachen Wasser sofort auffallen, da sie auf langen, dürren Füßen ruhig umherwaten, gelegentlich stehen bleiben und den Kopf langsam hinabsenken, sind Reiher. In ihren gemessenen Bewegungen - das denke ich eher heute, denn als Kind - erahnt man etwas von der möglichen Tranquilität der Welt. Hayao Miyazaki muss die Tiere für seinen neuen Film "Der Junge und der Reiher" lange studiert haben, denn wenn wir darin das erste Mal zusammen mit dem Jungen Mahito einen Graureiher sehen, spricht er noch nicht, scheint nicht allzu viel von den anthropomorphen Wesen zu besitzen, die seit Jahrzehnten die Filme Miyazkis beleben. Er stolziert durch einen Teich, seine Flügel werfen Schatten an die Wand von Mahitos Zimmer, die Krallen schaben auf dem Holz des Hausdachs, der Schnabel streift im Flug das Wasser.

Das ländliche Gebiet, in das Mahito zieht, erinnert nicht von ungefähr an die offenen, schier ins Unendliche verlaufenden Flächen von Miyazakis größtem Meisterwerk "Mein Nachbar Totoro". In beiden Filmen liegt ein nicht ganz zu verdrängender Schatten über dem Rückzug aus der Stadt in die Provinz: Mitten in den Luftangriffen des 2. Weltkriegs auf Tokio verbrennt Mahitos Mutter Hisako am lebendigen Leib. Ein Jahr später heiratet sein Vater, Shoichi, Hisakos Schwester, und die neu formierte Familie verlässt Tokio. Nur wenig gemahnt im neuen Zuhause an den weiter tobenden Krieg: die Rotorenblätter auf Mahitos Bettdecke, das Cockpitglas von Kampfflugzeugen, das in der Luftmunitionsfabrik, die Shoichi leitet, zwischengelagert wird - Echos einer äußeren Zerstörung, die anderswo stattfindet.

Dann beginnt der Graureiher mit einer kehligen Stimme in überschnappendem Ton zu sprechen, so verführerisch wie bedrohlich an Mahitos Ängsten und Sehnsüchten zu rühren. Als er von dem Vogel attackiert wird, schießt Mahito ihm mit einem Bogen einen Pfeil durch den Schnabel, woraufhin sich dessen Form wandelt. Aus dem schmalen Hals schaut plötzlich der wulstige Kopf eines grimmigen Menschen. Eine solche Entzauberung der Natur kann zur neuen Verzauberung einer ganzen Welt führen: Unterhalb eines Turms, so erzählt der entstellte Reiher, befinden sich unendlich verzweigte Traumebenen, aus denen heraus Mahitos Mutter wieder ins Leben zurückgeführt werden könne.



Die Arbeit an "Der Junge und der Reiher" umfasste insgesamt sieben Jahre, für einen Animationsfilm eine enorm lange Zeitspanne, die die Produktionsfirma Studio Ghibli dadurch finanzierte, dass ihr gesamter Filmkatalog an mehrere Streamingplattformen (darunter Netflix) lizensiert wurde. Da der mittlerweile über 80-jährige Miyazaki nicht mehr die notwendige Sehkraft besaß, um den kompletten Animationsprozess zu überwachen, verfasste er zwar das Storyboard selbst, übertrug aber in enger Absprache dem Animation Director und Character Designer des Films, Takeshi Honda, die Kontrolle über die zeichnerische Umsetzung. So öffnete sich Studio Ghibli für äußere Einflüsse: In den schmerzverzerrten Nahaufnahmen von Mahitos Gesicht lässt sich unschwer die Film- und Serienreihe "Neon Genesis Evangelion" erkennen, die Honda jahrzehntelang maßgeblich mitgeprägt hat.

Und doch: Die impressionistischen Blautöne und Schattierungen von Himmel und Meer, die wie mit leichter Hand dahinkolorierten Körper von mit Messern bewaffneten Sittichen, eine Gruppe wundervoll daherwuselnder alter Frauen und viele andere Elemente verweisen auf frühere Ghibli-Produktionen, sind stilistisch ganz das Werk Miyazakis. Überdies ist der Film der ästhetische Höhepunkt einer vor über 25 Jahren mit "Prinzessin Mononoke" einsetzenden Phase, in der Miyazaki vorsichtig digitale Elemente in die Zeichnungen seiner Filme einzubeziehen begann. Vielleicht bedarf es eines solchen Skeptikers technischer Entwicklungen, damit die CGI-Animation ihren ursprünglichen sense of wonder bewahren kann: In den albtraumhaften Visionen eines von Feuer zerfressenen Tokios, der organisch pulsierenden Oberfläche eines riesigen schwebenden Steins, der die steuernde Grundlage der übereinander geschichteten Traumwelten von "Der Junge und der Reiher" bildet, komplexen digitalen Elementen also, die in das von Hand gezeichnete Bild eindringen, zeigen sich die kreativen Möglichkeiten der längst weithin verfemten Computergrafiken.

So wie hier Motive und formale Methoden Miyazakis gebündelt, reaktiviert und fortgesetzt, autobiografische Details erkennbar werden, ist man versucht, "Der Junge und der Reiher" als ein abschließendes, finales Statement zu lesen, die Summe eines lebenslangen Schaffens. Vielleicht ist aber auch das nur eine weitere, weiterhin nicht abreißende Kontinuität im Werk eines Regisseurs, dessen zahlreiche Abschiede vom Filmemachen geradezu sprichwörtlich geworden sind. Auf Social Media berichten Mitarbeiter des Studio Ghibli, dass Hayao Miyazaki jeden Morgen in seinem Büro erscheint, um an einem neuen Projekt zu arbeiten.

Kamil Moll

Der Junge und der Reiher - Japan 2023 - Regie: Hayao Miyazaki - Laufzeit: 124 Minuten.