Intervention

Fortschreitende Selbsterniedrigung

Von Richard Herzinger
06.07.2019. Wladimir Putin hat kürzlich die Idee des Liberalismus als "überholt" verhöhnt. Allzu viele Reaktionen kamen weder von westlichen Politikern, noch aus der Öffentlichkeit.  Der Impuls für eine Renaissance der westlichen Werte könnte heute von den aufstrebenden zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Osteuropa kommen, etwa aus Georgien oder Tschechien - und zwar gerade, weil die dortigen Gesellschaften bereits intensive schlechte Erfahrungen mit der autoritären Regression machen.
Der demokratische Westen befindet sich auf dem Weg der Selbstzerstörung. Es wird immer deutlicher: Die liberalen Demokratien werden nur überleben, wenn sie die Kraft zu einer entschiedenen, aktiven  Rückbesinnung auf ihre freiheitlichen Werte und Prinzipien und zu der Bereitschaft finden, diese konsequent und offensiv gegen autoritäre Mächte wie Russland und China zu verteidigen.

Doch woher soll eine solche Erneuerung kommen? Von den regierenden politischen Eliten ist das kaum noch zu erwarten. Sie übertreffen sich vielmehr darin, dem neuen Autoritarismus aus Opportunismus, Unfähigkeit und Ignoranz immer mehr Zugeständnisse zu machen - wenn sie sich nicht gleich offen von ihm korrumpieren lassen.

Kürzlich hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats ohne Gegenleistung Russland sein Stimmrecht in dem Gremium zurückgegeben, das Moskau wegen seiner Aggression gegen die Ukraine sowie zahlreicher schwerer Menschenrechtsverletzungen entzogen worden war. Schlimmer noch: Um ein autoritäres Regime zu besänftigen, hat der Europarat seine eigenen Regeln außer Kraft gesetzt, indem er zusagte, künftige Verstöße seiner Mitgliedsstaaten gegen die Menschenrechte und das internationale Recht nicht mehr zu sanktionieren. Zudem sollen Mitglieder der russischen Delegation in dem Gremium geduldet werden, die auf der EU-Sanktionsliste stehen. Diese schändliche Kapitulation ist ein Signal dafür, dass bald auch die von der EU verhängten Sanktionen fallen könnten.

Doch Putin erhält auch von anderer, noch mächtigerer Seite massive Ermutigung für seine kriminelle Gewaltpolitik. Beim G 20-Gipfel in Osaka posierten US-Präsident Trump und der Kreml-Herr in demonstrativer Komplizenschaft vor der Weltöffentlichkeit, um im Duett die freien Medien und die Institutionen der liberalen Demokratie zu verhöhnen. Trump pries Putin als einen "tollen Kerl", mit dem er "eine sehr, sehr gute Beziehung" habe. Dies geschah vor dem Hintergrund der mörderischen Bombardierung der Zivilbevölkerung im syrischen Idlib durch die russische Luftwaffe, und während Putin illegalerweise weiterhin 24 ukrainische Seeleute sowie  zahlreiche andere ukrainische Staatsbürger in Gefangenschaft hält - um von der andauernden Annexion der Krim und Besetzung des Donbass nicht zu reden.

Weil die Untersuchung der russischen Einflussnahme auf die US-Wahl durch den Sonderermittler Mueller für Trump nicht zu strafrechtlichen Konsequenzen geführt hat, scheint sich der US-Präsident bei seiner Verbrüderung mit Putin jetzt keinerlei Hemmungen mehr auferlegen zu wollen. Zwar hält der US-Senat noch dagegen, der soeben die Militärhilfe für die Ukraine auf 300 Millionen Dollar aufgestockt hat. Doch spätestens nach der möglichen Wiederwahl Trumps muss damit gerechnet werden, dass dieser seinem Freund Putin die gewünschten Einflusszonen gewähren wird.

Bestärkt durch die chronische Nachgiebigkeit des Westens sah Putin nun den Zeitpunkt gekommen, in einem Interview mit der britischen Financial Times den westlichen Liberalismus für "überholt" zu erklären. Dabei verstieg er sich zu der verleumderischen Behauptung, "die liberale Idee" sehe vor, dass "Migranten straffrei töten dürfen, rauben und vergewaltigen, weil es ihre Rechte zu schützen gilt". Der Zynismus dieser lügnerischen Propaganda ist kaum noch zu übertreffen angesichts der Tatsache, dass in Russland seit Jahren unbequeme Journalisten und Kritiker straffrei getötet werden, mit dem Kreml verbundene mafiöse Strukturen ohne jede rechtsstaatliche Kontrolle das Volksvermögen plündern, und Putins Soldateska von der Ukraine bis Syrien ungestraft schwerste Kriegsverbrechen begehen darf.

Einen Aufschrei vonseiten der politischen Repräsentanten der liberalen Demokratien gegen diese verbale Aggression Putins gab es indes nicht. Für alle, denen der Erhalt der liberalen Demokratien noch am Herzen liegt, sollten Putins dreiste Attacken jedoch ein Weckruf sein. Wöchentliche Massendemonstrationen vor russischen Botschaften im Westen könnten ein geeignetes Mittel sein, dem Kreml klar zu machen, dass der westliche Liberalismus weder am Ende noch kraftlos ist.

Doch das dürfte bis auf weiteres ein Wunschtraum bleiben. In scharfem Kontrast zu der fortschreitenden Selbsterniedrigung des demokratischen Westens erhebt sich jedoch derzeit in Georgien die Gesellschaft gegen Putins Neoimperialismus und seine Helfershelfer im eigenen Land. Angesichts ihres mutigen Freiheitsstrebens müssten die Putin-Appeaser in den westlichen Hauptstädten eigentlich vor Scham in den Boden versinken. Leider ist aber nicht damit zu rechnen, dass die Georgier von dort die notwendige Unterstützung erhalten werden. Zu übermächtig ist im Westen längst der Wunsch geworden, sich der kriminellen Energie des Putin-Regimes zu unterwerfen. Dieses reagiert unterdessen auf die georgische Unbotmäßigkeit mit den üblichen Methoden der Einschüchterung und ökonomischen wie militärischen Erpressung - wie so oft, ohne dass dies für ihn irgendwelche Konsequenzen hätte.

Dass in Tschechien Hunderttausende gegen den korruptionsverdächtigen Regierungschef Babis auf die Straße gegangen sind - der größte Bürgerprotest seit dem Revolutionsjahr 1989 - zeigt aber, dass die Georgier mit ihren Anliegen dennoch nicht alleine sind. Möglicherweise liegt die letzte Hoffnung auf ein   Wiedererstarken des freien Westens ja bei den mit wachsendem Selbstbewusstsein auftretenden liberalen Kräften in Osteuropa. Wie einst die Dissidenten unter dem Kommunismus die westliche Freiheitsidee zu neuem Leben erweckten, könnte der Impuls für eine Renaissance der westlichen Werte heute von den aufstrebenden zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Osteuropa kommen - und zwar gerade, weil die dortigen Gesellschaften bereits intensive schlechte Erfahrungen mit der autoritären Regression machen.

Richard Herzinger

Der Autor ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt und Welt am Sonntag. Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt - hier der Link zur aktuellen Kolumne. In der Reihe "Intervention" möchten wir künftig kompakte, meinungsstarke Stücke zu politischen oder kulturellen Themen veröffentlichen. D.Red.