Intervention

Der Herr Trotzki aus dem Café Central

Von Richard Herzinger
20.01.2023. Je verrückter das Weltbild von Extremisten ist, desto mehr steigert sich ihre Bereitschaft, hemmungslose Gewalttaten zu begehen. Es wäre darum ein fataler Fehler, nur aufgrund der Lächerlichkeit von "Reichsbürgern" und anderer Anhänger ideologischer Wahnideen abzuwinken. "Kleine radikale Minderheiten" haben mehrfach im fatalsten Sinne Weltgeschichte gemacht. Demokratien müssen sich gegen sie wappnen.
Als die deutsche Justiz vor einigen Wochen eine bewaffnete Gruppe ausheben ließ, die einen Putsch gegen die demokratische Ordnung der Bundesrepublik geplant hatte, war das öffentliche Entsetzen zunächst groß. Brachte die Polizeirazzia doch ein erschreckendes Ausmaß an Gewaltbereitschaft im rechtsextremen Untergrund ans Licht. Doch schon bald häuften sich in den Medien Stimmen, die das Unterfangen der Konspirateure ins Lächerliche zogen. Manche Beobachter, meist aus dem konservativen Spektrum, suggerierten sogar, die Regierung habe die Gefahr, die von dieser Gruppe ausging, künstlich "aufgebauscht", um von ernsteren Bedrohungen wie die durch militante Klima-Aktivisten oder islamistische Umtriebe abzulenken.

Tatsächlich bietet das Erscheinungsbild der Umstürzler reichlich Anlass zum Spott. Ihr Anführer, ein 73-jähriger adeliger Immobilienunternehmer namens Heinrich XIII. Prinz Reuß wollte statt der Demokratie eine aristokratische Herrschaftsform wiedereinführen und sich selbst zum neuen Staatschef ausrufen. Seine Mittäter rekrutierte er im Milieu der "Reichsbürger", jenes wirren Konglomerats aus ultrarechten gesellschaftlichen Aussteigern und esoterischen Irrationalisten , die die staatliche Legitimität der Bundesrepublik nicht anerkennen und sich stattdessen als Angehörige des 1945 aufgelösten Deutschen Reichs betrachten.

Davon, dass eine solche Gruppierung im Handstreich die Verfassungsordnung der Bundesrepublik beseitigen könnte, kann natürlich keine Rede sein. Aber weder ihre geringe Mitgliederzahl noch die Abstrusität ihrer Ideen und Ziele dürfen dazu verleiten, ihre Gefährlichkeit zu unterschätzen. Ihren Putsch wollte sie mit der Besetzung des Deutschen Bundestags durch einen bewaffneten Stoßtrupp einleiten. Man muss davon ausgehen, dass dabei Regierungsmitglieder und Abgeordnete festgesetzt und misshandelt, wenn nicht gar ermordet worden wären. Die Ähnlichkeit dieses Vorhabens mit dem Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 und zu der kürzlichen - fast auf den Tag genau zwei Jahre danach erfolgten - Verwüstung des brasilianischen Parlaments sowie von Regierungsgebäuden durch einen Mob aus Anhängern des abgewählten Präsidenten Bolsonaro ist offensichtlich. Es zeigt sich darin ein globales Handlungsmuster der militanten Demokratiefeinde - was deutlich macht, dass es sich bei den deutschen Möchtegern-Putschisten keineswegs um ein isoliertes Kuriosum handelt. Dagegen sprechen auch die Verbindungen, die sie offenbar zu Russland unterhielten.

Abgesehen davon, dass die zerschlagene Putschistenzelle nur einen kleinen Teil einer weit größeren Szene von gewaltbereiten "Reichsbürgern" darstellt  - die Geschichte ist voller Beispiele dafür, welches Unheil vermeintlich marginale Gruppierungen anrichten können, wenn sie aufgrund ihrer scheinbaren Schwäche und programmatischen Abseitigkeit nicht ausreichend ernst genommen werden.

Als Adolf Hitler 1923 in München mit seinem dilettantischen Putschversuch kläglich scheiterte, wurde er von den meisten Zeitgenossen als "Hanswurst" angesehen, der nun endgültig ausgespielt habe. Seine NSDAP war damals nur eine kleine, obskure Sekte, deren ideologischer Irrsinn selbst eingefleischten Antidemokraten der äußersten Rechten suspekt war. In Italien begann Benito Mussolini seinen blitzartigen Aufstieg an die Macht als politisch entwurzelter Einzelgänger. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs setzte er sich an die Spitze eines Haufens ehemaliger Frontkämpfer,  die voller Hass auf das "dekadente" zivile Leben waren, in dem sie sich nicht mehr zurechtfanden. Mussolini erfand für sie eine Ideologie, die ihrer Lust an exzessiver Gewaltanwendung einen Vorwand lieferte, und ließ sie die italienische Gesellschaft terrorisieren, bis ihm die Alleinherrschaft zufiel.

Auch die Bolschewiki waren zur Zeit der russischen Februarrevolution noch eine relativ unbedeutende Randgruppe. Von einem hohen österreichischen Staatsbeamten ist überliefert, er habe 1917 Berichte über eine bevorstehende zweite, noch radikalere Revolution in Russland mit der höhnischen Bemerkung verworfen: "Wer soll diese Revolution denn machen? Etwa der Herr Trotzki aus dem Café Central?" Leo Trotzki, der spätere Organisator des Oktoberumsturzes und Gründer der Roten Armee, hatte bis 1914 als Exilant in Wien gelebt und viel Zeit im Kaffeehaus verbracht. Seine Revolutionstheorien tat man daher als Fantasmen eines politisierenden Bohemiens ab.

Selbst nachdem sie sich an die Macht geputscht hatten, waren sie nur in einer Minderheit der russischen Gesellschaft verankert. Bei der Wahl zur konstituierenden Versammlung errangen sie weniger als ein Viertel der Sitze. Daraufhin jagten sie Anfang dieses erste frei gewählte Parlament Russlands gewaltsam auseinander und errichteten ihre totalitäre Diktatur.

Al-Qaida bestand nur aus einem kleinen Zirkel um ihren megalomanen Anführer Osama bin Laden, als sie die Anschläge vom 11. September 2001 planten. Ihre Erwartung, ihr Terror werde zum Zusammenbruch der USA führen und damit der Weltherrschaft des Islam den Weg ebnen, war zwar völlig irreal und Ausdruck ihrer von apokalyptischem Wahn verzerrten Realitätswahrnehmung. Doch von diesem Wahn getrieben gelang es ihnen, terroristische Akte von einer nie dagewesenen Dimension durchzuführen, die Tausenden von Menschen das Leben kostete und die internationale Ordnung erschütterte.

Je verrückter das Weltbild von Extremisten ist, desto mehr steigert sich ihre Bereitschaft, hemmungslose Gewalttaten zu begehen. Es darf daher bei der Einschätzung von potenziell terroristischen Extremisten keine Rolle spielen, über welche realen Kräfte zur Verwirklichung eines Umsturz sie im Augenblick verfügen. So aberwitzig ihre Pläne auch klingen mögen - man muss davon ausgehen, dass sie genau das, was sie ankündigen, irgendwann auch tun werden. Sobald es Anzeichen dafür gibt, dass sie ihre Gewaltfantasien in die Tat umsetzen wollen, muss sie die volle Härte des demokratischen Rechtsstaats treffen. Nichts bringt die Existenz pluralistischer Demokratien so sehr in Gefahr wie die Unterschätzung ihrer Feinde.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.