Intervention

Der fundamentale Unterschied

Von Richard Herzinger
04.10.2023. Vor hundert Jahren wurde der Begriff des Totalitarismus geprägt, und mit ihm die Haltung des Antitotalitarismus. Sowohl gegen die extreme Rechte als auch die extreme Linke Position zu beziehen erforderte schon in den 1930er und 1940er Jahren politische wie moralische Standfestigkeit. Heute ist eine antitotaliäre Haltung angesichts der Polarisierung der Debatte in den westlichen Ländern aktueller denn je.
Den Begriff "Totalitarismus" gibt es seit genau hundert Jahren. Erstmals tauchte er 1923 in einem Artikel des italienischen liberalen Politikers Giovanni Amendola auf, der Mussolinis Faschismus "ein totalitäres System" nannte. Aber die Warnung vor dem neuen Typus eines alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden Herrschaftssystems mit nie dagewesenem Gewaltpotenzial und Vernichtungswillen reichte nicht aus, um die demokratische Welt in angemessene Alarmbereitschaft zu versetzen. Während Amendola 1926 an den Folgen des Überfalls durch einen faschistischen Schlägertrupp starb, genoss Mussolini (wie anfangs sogar Hitler) in den westlichen Demokratien lange Zeit Sympathien bis weit in die bürgerliche Mitte hinein - gespeist aus der Angst vor dem Kommunismus.

Auf der anderen Seite neigten zahlreiche westliche Intellektuelle dem sowjetischen Totalitarismus zu, weil sie in ihm die einzig zuverlässige Bastion gegen die faschistische Gefahr sahen. Konsequenter Antitotalitarismus, der Äquidistanz zu beiden Spielarten des Totalitarismus hielt, blieb in den 1930er und 1940er Jahren eine seltene Position, die aufrecht zu erhalten einigen Mut und politische wie moralische Standfestigkeit erforderte.

So war auch der Krieg gegen Hitler-Deutschland zwar ein antinazistischer beziehungsweise antifaschistischer Krieg - aber eben kein antitotalitärer. Um diesen Krieg zu gewinnen, mussten sich die westlichen Alliierten mit der Sowjetunion verbünden, die durch den gemeinsamen Triumph über die NS-Barbarei zur Supermacht aufstieg. Die Sowjets durften die territoriale Beute behalten, die ihr durch Stalins Pakt mit Hitler zugefallen war, und sie weiteten ihre Herrschaft auf ganz Osteuropa aus.

Ursächlich dafür, dass die westlichen Demokratien überhaupt in die Zwangslage gerieten, sich mit einer totalitären Macht verbünden zu müssen, um einen anderen, noch schlimmeren Totalitarismus zu bezwingen, war die Appeasement-Politik der 1930er Jahre. Sie resultierte aus einer fatalen Unterschätzung der totaliären Gefahr, gegen die antitotalitäre Denker, die das Ausmaß der Bedrohung bereits sehr früh erkannt hatten, nicht ankamen.

Erst nach 1945, im Zeichen des Kalten Kriegs, avancierte der Antitotalitarismus für einige Zeit zu so etwas wie der offiziellen Doktrin der westlichen Demokratien. In den 1960er und 1970er Jahren wurde das Konzept jedoch durch die von der radikalen Studentenbewegung befeuerte linke Ideologiekritik diskreditiert. Diese behauptete, die Totalitarismusthese relativiere das singuläre nationalsozialistische Menschheitsverbrechen gleich und diene so nur der "reaktionären" Weltsicht der politischen Rechten. Diese Anschuldigung unterschlug jedoch, dass maßgebliche Verfechter der Totalitarismustheorie wie Arthur Koestler, George Orwell, Ernst Fraenkel, Richard Löwenthal und Hannah Arendt, um nur einige zu nennen, demokratische Sozialisten oder Linksliberale waren - darunter nicht wenige, die als Juden rassische Verfolgung durch die NS-Diktatur erlitten hatten.

In den späten 1970er Jahren kam es mit der Dissidentenbewegung in Osteuropa zu einem Wiederaufleben des antitotalitären Denkens. Dessen Essenz war der Gedanke, dass man, statt über das Aussehen einer künftigen besseren Gesellschaftsform zu streiten, während man realiter in totalitärer Unfreiheit lebt, diese Auseinandersetzung so lange zurückstellen sollte, bis Bedingungen hergestellt sein würden, unter denen sie überhaupt angstfrei ausgetragen werden kann.

Dass die Würde des Menschen und sein Recht auf Wahrheit über allen Ideen und Ideologien steht, war die Kernüberzeugung, die die Dissidenten ungeachtet aller weltanschaulichen Unterschiede zusammenführte. Im Westen entwickelten gleichzeitig die französischen Nouveaux Philosophes um André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy ein kongeniales Konzept. Statt nach einer idealen Gesellschaft zu streben, so hieß es bei ihnen, sollten wir über politische Gräben hinweg unsere Anstrengungen auf die Verhinderung der äußersten Unmenschlichkeit konzentrieren, die jederzeit überall auf dem Globus zum Ausbruch kommen könne. Sie stellten sich damit in die Tradition bedeutender Denker wie Albert Camus und Raymond Aron, die sich klar gegen jede Form des Totalitarismus positioniert hatten.

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Heute ist der antitotalitäre Konsens, der sich nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers in der westlichen Welt fest verankert zu haben schien, durch die zunehmend extreme Polarisierung in den demokratischen Gesellschaften erneut gefährdet. Die US-Autorin und Osteuropahistorikerin Anne Applebaum hat in ihrem 2021 erschienenen Buch "Die Verlockung des Autoritären" beschrieben, wie zahlreiche ehemalige Mitstreiter aus ihrem intellektuellen und politischen Umfeld in den vergangenen Jahren antiliberalen Ressentiments verfielen. Nachdem sie lange Zeit gegen den kommunistischen Kollektivismus und für individuelle Freiheiten in einer pluralistischen Gesellschaft gekämpft hatten, entdeckten sie nun plötzlich gute Seiten an autoritären Demagogen wie Donald Trump, Viktor Orban und Jaroslav Kaczynski.

Einmal mehr droht die antitotalitäre Haltung so zwischen extremen Positionen zerrieben zu werden. Während rechte Populisten das vermeintliche Wohl des eigenen ethnisch-nationalen Kollektivs grundsätzlich über universale Werte stellen, frönt eine starke Fraktion innerhalb der Linken einer als "postkolonial" deklarierten "Identitätspolitik", die den Wahrheitsgehalt von Theorien und Meinungen nicht nach Kriterien objektiver Erkenntnis bemisst, sondern nach der Herkunft und Hautfarbe derjenigen, die sie vortragen.

Ein zwanghafter "Whataboutismus" greift um sich, der reflexhaft auf die Sünden der Gegenseite zeigt, wenn Missetaten auf der eigenen Seite zur Sprache kommen. Schnell ist man bei der Hand, unliebsame Entwicklungen innerhalb der demokratischen Gesellschaften als "totalitär" zu brandmarken und verwischt mit dieser Inflationierung und Banalisierung des Begriffs den fundamentalen Unterschied zu Autokratien wie der Russlands, die tatsächlich immer deutlicher Züge von Totalitarismus annehmen. Diese schüren dementsprechend die zunehmend hasserfüllten Spaltungen in den westlichen Gesellschaften. Damit die Demokratien davon nicht zerrissen werden, müssen sie dringend ein erneuertes Ethos des Antitotalitarismus entwickeln.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.