Intervention

Weit verbreitete Fehldarstellungen

Von Richard Herzinger
11.02.2021. Die Nicht-Intervention in Syrien hat inzwischen wesentlich mehr Tote gefordert als die Intervention im Irak, die heute weitgehend als ein einziges Desaster gilt. Unendlich viel lief dort falsch, gewiss. Doch dem Horror der Saddam-Herrschaft sind die heutigen Verhältnisse im Irak allemal vorzuziehen.
Weltweit herrscht fast einhellige Übereinstimmung, dass die US-Intervention im Irak 2003 ein einziges Desaster gewesen sei. In Deutschland jedenfalls gilt dies in allen politischen Lagern als eine unbezweifelbare Wahrheit. Kürzlich  äußerte sich in diesem Sinne Joschka Fischer, damals Außenminister in der Regierung unter Gerhard Schröder, die Washington spektakulär ihre Unterstützung verweigerte. Der Irakkrieg habe den Nahen Osten destabilisiert, viele der heutigen Konflikte in der Region verursacht und nicht zuletzt dem Iran zu seinem jetzigen zerstörerischen Einfluss verholfen.

Doch diese Darstellung verkürzt und verfälscht damit die historische Realität. Dabei besteht kein Zweifel daran, dass die Liste verhängnisvoller Fehler und Versäumnisse der Regierung von George W. Bush vor und während der Besetzung des Irak lang ist. So benutzte sie zur Rechtfertigung der Invasion gefälschte Beweise und insinuierte irreführenderweise, das Regime Saddam Husseins habe hinter den Anschlägen des 11. September gesteckt. Nach dem Einmarsch zeigte sich, dass Washington kein kohärentes Konzept für den demokratischen Neuaufbau besaß, den es den Irakern versprochen hatte. Die Folge waren Jahre chaotischer Instabilität und exzessiver Gewalt.

Aber bei aller Kritik an den USA darf nicht vergessen werden, dass es sich bei dem Saddam-Regime tatsächlich um eine der grausamsten und aggressivsten Diktaturen der jüngeren Geschichte gehandelt hat  - und dass sich die USA den Irak keineswegs  willkürlich als Ziel ausgesucht hatte. In der Einschätzung, dass Saddam Massenvernichtungswaffen besitze, herrschte unter den Regierungen und Geheimdiensten der westlichen Welt - und darüber hinaus -weitgehend Konsens.  Davon zeugen zahlreiche UN-Resolutionen, die Bagdad vergeblich zur Offenlegung seiner Bestände aufforderten, sowie die deshalb von den UN verhängten Sanktionen. Zwar ließ das Regime im letzten Moment doch noch Kontrollen irakischer Produktionsanlagen durch UN-Inspektoren zu, die aber keine Beweise fanden. Doch der Verbleib der chemischen und biologischen Waffen, über die das Saddam-Regime nach dem ersten Irak-Krieg 1991 zweifellos weiterhin verfügt hatte, ist bis heute nicht geklärt.

So legitim es war, dass sich Deutschland und Frankreich der Kriegsteilnahme verweigerten, so einfach machten sie es sich doch mit der Frage, wie man statt dessen mit der Gefahr umgehen sollte, die von Saddam ausging. Hätten die USA nicht interveniert, wären wohl bald die UN-Sanktionen aufgehoben worden, und der irakische Diktator hätte freie Bahn für eine neuerliche Aufrüstung  gehabt. Auf dieses Problem hatten die europäischen Führungsmächte keinerlei Antwort.

Schröder und Frankreichs Präsident Jaques Chirac beließen es zudem nicht dabei, den amerikanischen Partnern eine Absage zu erteilen. Sie verbündeten sich auch mit Russlands Staatschef Wladimir Putin, um entsprechende US-Initiativen im UN-Sicherheitsrat zu torpedieren. Diese Kooperation markierte nicht nur den Anfang der Komplizenschaft Schröders mit Putin, sie verhalf dem Kreml-Herrn auch zu seinem ersten großen Aufritt als antiamerikanische "Friedensmacht" - dem bekanntlich noch andere,verheerendere folgen sollten.

Zu den weit verbreiteten Fehldarstellungen des Irakkriegs  gehört auch die Suggestion, die nach ungefähren Schätzungen über 100.000 zivilen Opfer des Irakkriegs seien ausschließlich oder vorwiegend durch die US-Armee zu Tode gekommen (die Zahlen entnehme ich dem "Iraq Body Count", mehr hier). In Wahrheit waren ein Großteil dieser Opfer meist schiitische Zivilisten, die von den sunnitisch-nationalistischen und islamistischen Terroristen gezielt massakriert wurden. Kaum Erwähnung findet in der heutigen Rückschau auch, dass das primäre Aufmarsch- und Rückzugsgebiet der Terroristen Syrien war. Syriens Diktator Baschar al-Assad entließ dafür eigens Tausende von inhaftierten Islamisten aus der Haft, die sich dann ungehindert über die Grenze zum Irak bewegen konnten. Dennoch wurde Syrien von den Europäern noch lange als potenzieller "Stabilitätspartner" in der Region umworben.

2007 gelang es den USA endlich, die Lage zu beruhigen und im Bündnis mit sunnitischen Stammesführern die dschihadistischen Terrorgruppen aus dem Irak zu vertreiben. Doch just, als die Gewalt erheblich nachließ und sich endlich Chancen für einen prosperierenden Irak auftaten, beschloss Barack Obama den raschen Abzug der US-Truppen. Das dadurch entstandene Vakuum nutzte der Iran, um das Nachbarland weitgehend unter seine Kontrolle zu bringen. Die damit verbundene Terrorisierung der sunnitischen Bevölkerung begünstigte zudem den Aufstieg der Terrormiliz IS, die sich bei den Sunniten als deren letzte verbliebene Schutzmacht andiente.

Nicht die US-Intervention selbst, sondern der überstürzte amerikanische Abzug war so der Auslöser für die blutigen Erschütterungen der vergangenen Jahre. Doch dem Horror der Saddam-Herrschaft sind die heutigen Verhältnisse im Irak allemal vorzuziehen. Erst Saddams Sturz machte es möglich, dass sich dort eine Zivilgesellschaft herausbilden konnte, deren wachsendes Selbstbewusstsein durch die breite Protestbewegung der Jahre 2019/20 offenbar wurde. Sie prangerte nicht nur die Korruption der Regierung, sondern auch die sektiererische Spaltung der irakischen Gesellschaft in Sunniten und Schiiten sowie die Einmischung fremder Mächte, vor allem des Iran, an. Zwar ließ die Regierung ihre Sicherheitskräfte zum Teil brutal gegen die Protestierenden vorgehen, doch ersticken konnte sie Protestwelle nicht. Derartiges wäre unter Saddams totalitärem Regime undenkbar gewesen.

Der Verlauf der US-Besatzung im Irak bietet in vieler Hinsicht ein Lehrbeispiel, wie westliche Interventionen nicht verlaufen sollten. Doch heute wird er als Schreckbild eingesetzt, um militärisches Eingreifen gegen massenmörderische Regimes grundsätzlich zu diskreditieren. Wie verfehlt das ist, zeigt das Schicksal Syriens, das der Westen der Willkür des Assad-Regimes und seiner Schutzmächte  Russland und Iran preisgegeben hat. Ein vollständig zerstörtes Land, weit mehr als eine halbe Million Tote, 6,7 Millionen Menschen (laut UNHCR, mehr zu den Zahlen in der Wikipedia), die aus dem Land fliehen mussten, und fast noch einmal so viele Binnenflüchtlinge sind bis heute die verheerende Folge dieser Nicht-Intervention.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Der Text ist gegenüber der Originalkolumne leicht ergänzt. D.Red. Hier der Link zur Originalkolumne.