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Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Doris Konradi: Frauen und Söhne. Teil 2

06.08.2007.
Das Blinklicht täuschte eine Bewegung des Brustkorbs vor, die das Tier einmal aus eigener Kraft vollzogen hatte, einen Herzschlag, ein Atmen. Sie waren durch ihre Schuld beendet worden. Die Polizei könnte nach dem Grund fragen, mitten in der Nacht ein paar Kleidungsstücke in die Tasche zu werfen und die Wohnungstür hinter sich zuzuziehen. Womöglich hatte sie zuhause noch Schlimmeres zurückgelassen. Der Eindruck könnte entstehen, so wie sie die Reisetasche auf den Rücksitz geworfen hatte und darauf die Jacken. Beim Fahren hatte sie immer den Jackenberg gesehen. Und das, musste sie zugeben, war nicht normal. Sie hatte jede Reise weit im Voraus geplant, sich fürs Packen Zeit genommen. Selbst damals, als sie mit Ruben gereist war, und sie Kinderwagen und Pakete mit Windeln verstaut hatte, war die Sicht nach hinten frei geblieben. Sie hatte alle in Erstaunen versetzt, wie viel in einem kleinen Auto unterzubringen war, ohne die Sicht zu versperren. Doch das würde die Polizei nicht interessieren und auch nicht, dass sie auf das g nicht gefasst gewesen war.

Wenn Ruben das g spielte, klang es heiser. Vor diesem g musste sie sich wappnen. Er schlug es so sacht an, dass es sich zu überlegen schien, ob er es ernst mit ihm meinte. Es zeigte sich unentschlossen wie sie selbst, seit er wieder zuhause war. Wenn Ruben spielte, schmerzten Cosimas Narben. Der Schnitt zwischen den Beinen, den sie unsauber zusammengenäht hatten, während sie ihn als Baby zum ersten Mal im Arm hielt. Die Narbe am Knie und die, die sich seit kurzem vom Hof ihrer linken Brustwarze bis unter die Achsel zog. Die Vollkommenheit von Rubens Spiel stieß sich an der Unvollkommenheit ihres Körpers, seine Musik rührte an ihre Verletzungen. Die Narben waren die ersten gewesen, die seine Begabung erkannt hatten.
Rubens Oberkörper schwang kaum merklich mit den ersten Takten. Die Wiederholung spielte er höher, matter, fing die Triller der Oberstimme auf, bevor sie sich überschlugen. Die Basslinie ruhig. Wie ein Mann, der mit einem Kind spazieren geht. Die Beherrschtheit seiner Linken erschreckte Cosima.
- Wie früher, sagte Ruben und lächelte sie über die Schulter an.
Früher, als seine Zehenspitzen kaum die Pedale erreicht hatten. Als sie von Lehrer zu Lehrer gelaufen war, um den besten zu finden. Ruben war fünf, da stand die Firma mit dem Flügel vor der Tür. Von Enrique, der seinen Sohn nur wenige Male gesehen hatte. Sie und Enrique, zwei gegensätzliche Stoffe, kurz entflammt an ihrer Verschiedenheit.
Ruben beendete die Aria, griff ein paar prüfende Akkorde, bevor er aufstand und in die Küche verschwand. Sie durfte nicht mitgehen zu seinen Tüten. Sie hörte das Schlagen der Töpfe, das Zischen, wenn er eine Flüssigkeit in die heiße Pfanne goss. Währenddessen betrachtete sie die Fotos an der Wand zwischen den Fenstern. Ruben als Baby, Ruben mit Schultüte, Ruben dünn, fünfzehnjährig mit viel zu kurzen Hosenbeinen über den großen Turnschuhen. Daneben der Ausblick auf die graue Fassade des Hauses gegenüber, die tief stehende Sonne blendete von den oberen Fenstern. Ruben kam aus der Küche mit einem Päckchen.
- Habe ich dir mitgebracht.
Er setzte sich auf die Sofalehne, als sie es auspackte, eine CD mit Rubens Foto, wie er heute war, halb verdeckt von roten Buchstaben: RUBEN, ANDER, BACH. Er reichte ihr ein Glas Wein. Rioja, sagte er und sah ihr lange ins Gesicht. Cosima war es, die schließlich den Blick abwandte.
- Danke, sagte sie nur.
Er ließ sie allein mit dem Glas. Der Wein roch harzig nach Eichenfass.
Cosima betrachtete sein Gesicht auf der CD-Hülle. Enrique hatte Recht behalten. Sie mussten ihn nur mit den richtigen Leuten zusammenbringen. Ein Jahr und er war eine Berühmtheit geworden. Es wurde dunkel, bevor Ruben sie zu Tisch bat.
Der Himmel hellte sich langsam auf. Cosima begann zu frieren. Vor einem herankommenden Auto duckte sie sich unter das Gebüsch. Doch es war keine Polizeistreife, der Fahrer verlangsamte nicht einmal sein Tempo, als er über den Blutfleck fuhr, der auf dem Straßenbelag zurückgeblieben war. Sie stand auf mit Gliedern steif vor Kälte und raffte Laub zusammen, das sie über den Kadaver häufte. Ihre Hände fühlten sich klebrig an, Erde und Laubreste klebten daran, wie auch an ihren Kleidern. Vielleicht sollte sie einfach zurückfahren, das Auto in die Garage stellen und leise in die Wohnung gehen. Ruben würde nichts bemerken, schon immer war sein Schlaf verlässlich gewesen. Das tote Reh ließe sie wie einen Albtraum in der Dunkelheit zurück. Doch ein anderer Albtraum wartete stattdessen und beide würden sich vermischen. Sie könnte nicht neben Ruben sitzen wie neben diesem Tier. Sein Herz schlug, er atmete und machte sich seine Gedanken. Die Geschehnisse ließen sich nicht einfach erzählen. Das müsste sie auch der Polizei sagen.
2
Eine wilde kleine Fahrt. So eine wilde Fahrt. Das hatte er lange nicht gesehen. Adrian rieb ein Streichholz an der Granitplatte zu seinen Füßen. Die Holzbank kippte ein wenig mit ihm nach vorn, und zurück, als er sich wieder gegen die Hauswand lehnte. Er führte die Flamme an die Zigarrenspitze und sog den Rauch ein. Durch das Küchenfenster hörte er die alte Mutter, wie sie mit dem Geschirr klapperte. Er nahm seinen Oberschenkel in beide Hände und brachte das kraftlose Bein in eine bequeme Position.
Das Auto schoss aus dem Tunnel Santa Maria. In den Jahren, die er hier oben gesessen und auf die Talstraße hinabgeschaut hatte, hatte er alle Tunnel nach den Heiligen benannt, die ihm wichtig waren. Wie die heilige Jungfrau, deren Amulett er um den Hals trug. Aber auch nach Barbara und Blasius, den Nothelfern, damit sie ihn vor Blitz und Feuer schützten und er freitags ins Dorf gehen und ohne Sorge seine Forelle essen konnte.
- Santa Maria, San Blasio, Santa Teresa, murmelte er vor sich hin.
Er zählte die Sekunden. Von Santa Maria bis San Blasio siebenundvierzig. Den Rekord hielt Urs mit sechsunddreißig. Madeleine mit dem Lieferwagen brauchte knapp eine Minute, vom Postbus gar nicht zu reden. Er zählte weiter: drei, vier, fünf, nicht dreiundzwanzig, vierundzwanzig zum Behelf. Adrian fühlte die echten Sekunden. Bis Santa Theresa verlor der Wagen an Fahrt. Die enge Kurve hatte ihn um einiges zurückgeworfen.
- Was gibst du den Tunnels Namen, hatten früher alle gesagt. Doch auch der Gotthard hieß Gotthard, der Bernhard Bernhard. Die Straße hatten die Vorfahren in den Fels geschlagen, zuerst um Waren auf den Rücken von Eseln hinaufzubringen. Und weil die Dörfler stolz waren auf ihre Straße, hatten sie sich seinen Heiligen angeschlossen. Nur der Gemeinderat hatte abgelehnt, an jedem Tunnel ein Schild anzubringen. An manchen hingen schon die Kreuze für die Verunglückten.
Aus der geöffneten Haustür zog Kaffeeduft. Drei Uhr, auch die Mutter hielt es mit der Zeit, doch sie benutzte eine Uhr. Sie fühlte sie nicht wie Adrian, der die Zeit nicht einmal am Stand der Sonne messen musste oder den Gewohnheiten der Tiere. Als er acht war, hatte er begonnen die Sekunden in sich anzuhäufen. Seit dem Tag, da das Fieber verschwunden war und er darauf gewartet hatte, dass die Lähmung zurückging.
Das Auto irritierte ihn. Um diese Zeit blieb die Straße meistens leer. Keine Heimkehrer aus dem Tal, die in der Fabrik schafften oder bei den Dörflern, die ihre Betriebe unten hatten, um an die Hauptverkehrsstraße angebunden zu sein. Die Straße ins Dorf war immer ein Risiko. Im Winter oder bei Unwettern. Nicht selten, dass bei Regen Gesteinsbrocken herunterfielen und Unfälle verursachten. Sogar eine Ampel hatten sie aufgestellt, vor dem Überhang, damit nicht zu viele Autos auf einmal fuhren.
Der Wagen war lindgrün, und wie die Sonne auf dem Dach reflektierte, musste es eine Metalliclackierung sein. Hinter Santa Theresa erkannte Adrian jeden Wagen. Wenn sie auf die Gerade hinausfuhren, auf den letzten Tunnel zu, der nicht in Fels gehauen war, sondern aus Beton gebaut, um die Straße unterhalb der Wiesen vor Lawinen zu schützen. Ihm hatte Adrian noch keinen Namen gegeben. Er hob ihn auf für Johannes Paul, der bestimmt irgendwann ein Heiliger sein würde.
Adrian kniff die Augen zusammen, das Auto war schon beinahe am Dorfplatz und er erkannte es immer noch nicht. Das kam nie vor. Wenn er schon keinem Dörfler gehörte, so wusste er meistens die Automarke, Baujahr und PS-Zahl. Er hörte es am Geräusch des Motors, das im Tal hin und her geworfen wurde. Zuerst das Drosseln vor der Einfahrt in eine Kurve, Beschleunigung bei der Ausfahrt aus jedem Tunnel, jede Vibration vervielfältigt, bis sie sich ihm hier oben präsentierte, als wäre die Wiese vor seinem Haus eine Servierplatte.
- Du kannst damit zum Fernsehen gehen, in so eine Wettshow, hatten sie gesagt. Und einmal hatte er sogar an den Sender geschrieben, doch bisher war nichts daraus geworden.
Adrian drückte das Ende seines Stumpens auf der Granitplatte aus und zielte mit der Kippe auf den Komposthaufen. Die Mutter sah es nicht. Du setzt noch alles in Brand, sagte sie sonst - was sie nur immer hatte. Beim Aufstehen blickte er um die Hausecke, wo die Wiese steil abfiel zur Station der Versorgungsbahn. Die Bahn führte zu ihrem und den paar anderen Häusern auf dem Berg. Sie fuhren damit zur Arbeit, zu ihren Autos ins Dorf hinunter oder brachten Einkäufe herauf, Möbel, Särge. Manchmal kamen Wanderer, aber die benutzen meistens die Seilbahn, die weiter hinten im Tal zur Alp führte. Er spähte am Stationshaus vorbei durch die Tannen. Dort sah man die ersten Dächer des Dorfes, aber das grüne Auto war verschwunden.
Adrian ging ins Haus. Poliomyelitis, dachte er, als er das Bein über die Schwelle zog. Dieses Wort hatte ihn sein ganzes Leben lang begleitet. Als er es zum ersten Mal hörte, hatte er es beinahe schön gefunden. Wie konnte so ein schönes Wort die Bezeichnung sein für das hässliche verkrüppelte Gebilde, das von ihm herabhing, zum Gehen in eine Schiene gesteckt. Es gab schlimmere Schicksale, das wusste er, Krankheiten, die man sich als Kind zuzog oder auch später, man war nie davor sicher. Er sah sich Sendungen darüber im Fernsehen an und schlug sie im Lexikon nach, er musste Gott und der Jungfrau danken, dass sie ihn vor Ärgerem bewahrt hatten.
Die Mutter bestreute eine Apfelwähe mit Zimt und Mandeln.
- Du musst nicht immer rauchen, sagte sie.
Sie sagte es leise und ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, fast zu sich selbst. Adrian ging in sein Zimmer, setzte sich vor den Bildschirm und gab eine Adresse in die Tastatur. Die Seite erschien sofort, er ging sie nach dem Alphabet durch Alfa, Citroën, Fiat, Mazda bis Peugeot. Ja Peugeot, jetzt war er sicher. Er klickte weiter. 206, Hubraum 1100, 60 PS, in 15 sec. auf 100 km/h. Er klickte die Seite weg. Der Bildschirmschoner zeigte wieder den Lamborghini, seinen Lamborghini. Auf der Kühlerhaube saß eine kaum bekleidete Blondine. Er ging zurück in die Küche. Die Mutter hatte zwei Becher auf den Tisch gestellt, Adrian füllte sie mit Kaffee.
- Ich muss noch hinunter, sagte er gleich.
Er mochte die Mutter nicht vor den Kopf stoßen. Er hätte auch nichts sagen und einfach fortgehen können. Aber das war nicht recht. Wenn sie nur einige Minuten hatte sich zu beschweren, dann beruhigte sie sich auch wieder und war ihm nicht gram, wenn er am Abend heimkam. Sie sollte sich schlafen legen können, nicht mit einer Wut auf ihn warten. Das Radio spielte Volksmusik und der Löffel in der Hand der Mutter zitterte, als sie mit dem Streuen innehielt.

Teil 3

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