Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Doris Konradi: Frauen und Söhne. Teil 3

06.08.2007.
- Reg dich nicht auf, sagte er, das ist nicht gut für dein Herz.
Er stellte den Kessel auf den Herd und wartete, bis das Wasser kochte.
- So ein schöner Kuchen, sagte die Mutter.
- Du machst die schönsten Kuchen im ganzen Land, ach was sag ich, die weltbesten.
Sie schien besänftigt, nahm die Tasse und hielt sie Adrian entgegen. Er goss das kochende Wasser zu ihrem Kaffee, trank seinen schwarz mit zwei Löffeln Zucker. Der Herd wärmte seinen Rücken, während er rührte.
- Dein Bruder kommt auch nie mehr herauf, und die Mädchen ...
- Annegret ist in Amerika, du weißt doch, wo Amerika ist.
- Jetzt kann ich ihn fortwerfen, sagte sie und schob den noch dampfenden Kuchen beiseite, das Blech rutschte ein Stück über den Tisch.
Wohin das Auto wohl gefahren ist, dachte Adrian. Wenn es am Talboden parkte, hatte er ein gutes Stück zu laufen. Er würde es auf sich nehmen, wollte wissen wer angekommen war, wenigstens das Nummernschild sehen. Aber wahrscheinlich stand es im Dorf. Was sollte jemand Fremdes bis zum Talboden fahren. Dort war nur die Gondel, die zum See hinauffuhr. Und die Gasthäuser auf der Alp hatten noch geschlossen.
- Fortwerfen, wiederholte die Mutter.
- Unsinn, sagte Adrian, wir können ihn auch morgen essen.
- Dann hätte ich ihn auch morgen gebacken.
Und er sah, wie die Adern an ihren Schläfen anschwollen, wie der Puls darin schlug. Ihr Gesicht rötete sich. Seit dem Tod des Vaters litt sie an Bluthochdruck. An jenem Tag hatte sie sich zum ersten Mal so aufgeregt. Der Vater war beim Holzhacken im Schuppen umgekippt, hatte sich das Leben aus dem Leib gehackt. Sie alle saßen schon beim Nachtessen. Es hatte wochenlang geregnet, die Wolken hatten es sich über dem Dorf gemütlich gemacht. Adrian war morgens zur Arbeit ins Tal gefahren, wo die Sonne schien, und abends mit dem Postbus wieder in diese Wand aus Regen. - Das Holz muss herein, hatte der Vater gesagt, sonst trocknet es nicht bis zum Winter. Lüdi und er hatten ihm geholfen die Stämme zu sägen, und der Vater hatte sie gehackt und das Holz im trockenen Schuppen gestapelt, bis zum Umfallen.
Das Hacken war plötzlich verstummt und der Stille folgte ein Poltern. Der Mutter stieg der Blutdruck und sie war mit rotem Gesicht aus der Küche gelaufen. Adrian sah heute noch den schwarzen Sarg vor sich, der auf dem Fahrkorb der Versorgungsbahn hinuntergefahren wurde. Der Regen beweinte ihn. Die Mutter wurde einige Tage im Krankenhaus behandelt, beinahe hätte sie das Begräbnis verpasst. Mit Lüdi hackte er das Holz zu Ende und Annegret kochte. Die Mutter dürfe sich nicht wieder so aufregen, hatten die Ärzte gesagt.
Jetzt war nur noch Adrian da, um auf sie aufzupassen.
- Das ist keine große Sache, sagte er, morgen schmeckt er genauso gut wie heute.
Die Mutter räumte Zimt und Mandeln in den Küchenschrank.
Eine Frau, dachte er. Er hatte das Gefühl, dass eine Frau am Steuer gesessen hatte. Auf die Entfernung konnte man keinen Fahrer erkennen, doch er hörte es an der Fahrweise. Sie schalteten weicher und beschleunigten zaghafter nach den Kurven. Ja sicher, eine Frau, bei Frauen war es schwerer die Motorenstärke zu erkennen, denn sie reizten sie nicht aus. Doch diese war mit einem Ungestüm in die Kurven gefahren, bremste einen kleinen Moment später, als er es erwartete, so dass es für Sekundenbruchteile so aussah, als könnte der Wagen aus der Spur geraten. Das hatte ihn ganz aus dem Konzept gebracht.
- Du wirst wohl eine halbe Stunde warten können, sagte die Mutter, oder was ist so wichtig dort unten? Hast wieder einen heraufkommen sehen, zum Trinken? Oder wartet die Madame?
Jetzt musste er vorsichtig sein, ihr Atem ging kurz und stoßweise.
- Ich geh ein Gebet sprechen für den Vater, und zum Nachtessen bin ich zurück.
Sie stutzte und sah ihn misstrauisch an, aber die Röte wich ein wenig.
- Es ist alles gut Mutter, sagte er.
- Was du auch immer Wichtiges zu tun hast.
Da hatte sie Recht, was hatte er schon zu tun? Vor zwei Jahren musste er die Arbeit aufgeben. Das Bein hatte nicht mehr wollen. So geht es mit der Poliomyelitis. Letzte Woche hatte er im Dorf unten seinen Fünfzigsten gefeiert, die ganze Nacht. Das konnte er noch, so weit war es nicht, dass er hier bei der Mutter sitzen musste, die nicht mehr den Weg zur Seilbahn schaffte, mit den Beinen voll Wasser. Er zog seinen Kamm aus der Hosentasche. Das blonde Haar war weniger geworden, aber noch keine kahlen Stellen. Er kämmte es zurück und kontrollierte den Silberring im linken Ohrläppchen. Auch sein Bart war frisch gestutzt. Wenn er sich mit nacktem Oberkörper im Badezimmerspiegel ansah, war er zufrieden. Die Arme muskulös, die Taille schmal, der Bauch zeigte nur einen kleinen Ansatz. Bis dahin war alles in Ordnung, und auch noch weiter, wohin man nicht im Spiegel sehen konnte. Die Madame achtete nicht auf sein Bein. Nein, soweit war es noch lange nicht.
Die Mutter starrte vor sich hin auf den Kuchen. Man hätte ihn längst essen können, aber es ging ums Prinzip, ihnen beiden. Adrian stellte die Tasse weg und öffnete den Küchenschrank. Er nahm einen frischen Stumpen vom Brett und steckte ihn in seine Hemdtasche. Aus der Schale angelte er mit den kräftigen Fingern nach den kleinen messingfarbenen Münzen, die er benötigte, um die Bahn in Bewegung zu setzen. Endlich bekam er zwei zu fassen. Hin- und Rückfahrt. Er küsste die Mutter auf die Stirn und betrachtete sie genau. Alles war in Ordnung. Adrian verließ das Haus. Mit dem geschienten Bein voran stieg er den Pfad zur Bergstation hinunter. Wo noch Schnee auf den Wiesen lag, ragte das Gras wie grünes Haar heraus. Hier am Südhang waren nur noch wenige Stellen übrig. Hinten im Tal gab es Schneefelder bis in den Mai. Dort, wo sich die Sonne in den ersten Frühlingstagen nur für Minuten sehen ließ. Wenn sie länger blieb, krachten die armdicken Eiszapfen von den Dächern und die Schneedecke wurde glasig vom Tauen und Frieren, bis sie endgültig aufgab.
Adrian öffnete die Tür zur Station. Von der Talseite blies kalter Wind herein. Er nahm eine der Münzen aus der Hosentasche und steckte sie in die Uhr. Adrian humpelte zum Einstieg, entriegelte die Seitentür und bestieg den schwankenden Fahrkorb. Er setzte sich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und legte das Bein auf die Sitzbank gegenüber. Als er den Startknopf drückte, nahm die Uhr mit sirrendem Geräusch ihre Arbeit auf, ab jetzt 20 Sekunden, bis das durchdringende Klingeln ertönte, das die Abfahrt ankündigte. Er schloss die Augen und zählte weiter.
Adrian, wie lange ist dieses her oder das, fragten immer alle. Sie unterschätzten die Zeit. Neulich, sagten sie, doch Adrian wusste, es war schon ein Jahr vergangen. Letztes Jahr, sagten sie, wenn es fünf waren. Adrian zählte sein Leben an den Sekunden des Tages ab, an jede einzelne konnte er sich am Abend erinnern. Bei zweiunddreißig setzte sich der Fahrkorb in Bewegung.

Mit freundlicher Genehmigung von Tisch 7
(copyright Tisch 7)


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