Im Kino

Mitunter auch orientierungslos

Die Filmkolumne. Von Jochen Werner
14.03.2024. Die Reise einer Mutter und ihrer beider Töchter rührt an Traumata und düsteren Familiengeheimnissen. Gleichzeitig ist Catherine Corsinis "Rückkehr nach Korsika" jedoch ein sonnenbeschienener Sommerfilm, der sich weigert, die Konflikte und Biografien, von denen er erzählt, zu hierarchisieren.


Alles beginnt mit einer Tragödie
, auch wenn wir lange nicht wissen, mit welcher. Aber wir sehen die junge Mutter Khédidja, unterwegs nach irgendwo mit ihren zwei kleinen Töchtern, einen Telefonanruf entgegennehmen. Die schlimme Nachricht, die sie in diesem Moment bekommt, lässt sie unter Tränen zusammenbrechen. Schnitt. 15 Jahre später. "Rückkehr nach Korsika".

Nach anderthalb Jahrzehnten kehrt die alleinerziehende Mutter mit ihren Töchtern, der inzwischen 18-jährigen Jessica und der 15-jährigen Farah, auf die Insel zurück, die sie damals unter tragischen Umständen verließ. Für sie ist es eine Rückkehr in einen zurückgelassenen Teil ihres Lebens, für die beiden Schwestern eine erste Begegnung mit ihrem Geburtsort, mit dem sie keinerlei Erinnerungen verbinden. Ein blinder Fleck im eigenen Leben, gerade auch, weil sie dort auf Spuren eines düsteren Familiengeheimnisses stoßen - einer Form der Traumatisierung, die von Generation zu Generation weitergereicht wird und aus der heraus sich vielleicht auch die kleinen und größeren Beschädigungen in der eigenen Biografie erklären lassen, die man stets als naturgegeben hingenommen hat.

Bei seiner Premiere im Wettbewerb von Cannes 2023 wurde der neue Film der großen und hierzulande weitgehend unbekannten, unterschätzten französischen Regisseurin Catherine Corsini ein wenig verhalten aufgenommen. Das mag gerade an seiner größten Stärke liegen: "Rückkehr nach Korsika" arbeitet sich keineswegs daran ab, das große Familiendrama, um das herum seine Erzählstränge arrangiert sind, möglichst zielführend offen zu legen. Der Film spielt auch keine Familienaufstellung rund um dieses dunkle Geheimnis durch, aus der eine tiefenscharfe Analyse der jeweiligen Familienbeziehungen formuliert werden könnte. Zwar spielen all diese Elemente eine Rolle, aber tatsächlich übernimmt das große Ganze nie wirklich die Kontrolle über den Fortlauf des Geschehens. Stattdessen verzweigen sich die Erzählungen der beiden Schwestern jede für sich in eigene Richtungen, schlingen sich mitunter umeinander, um dann wieder auszubrechen aus der wechselseitigen Bezogenheit und ihren jeweils eigenen Weg weiterzugehen.



Jessicas Weg führt sie in eine erste lesbische Liebe zu Gaïa, der rebellischen Tochter der wohlhabenden Pariser Familie, deren jüngere Halbgeschwister Khédidja betreut - eine unter der glänzenden korsischen Sonne erzählte Sommerverliebtheit, die Corsini in berückende Bilder taucht, in der aber auch Klassenunterschiede aufblitzen, von denen wir ahnen, dass sie irgendwann zu großen Problemen werden. Irgendwann, irgendwo, aber nicht hier. Es genügt Corsini vollauf, Konflikte in ihrem Keimen zu benennen - auf welche Weise genau sie in möglichen Zukünften zum Ausbruch kommen, bleibt uns selbst überlassen. Ein Prinzip, das sich auch in die Geschichte der jüngeren Schwester Farah einschreibt, der möglicherweise ein schwereres Leben bevorsteht als der drei Jahre älteren Jessica, die als hervorragende Schülerin gerade einen Platz an einer Eliteuniversität ergattert hat und, wie Farah aus ihrem heimlich gelesenen Tagebuch erfährt, den Bruch mit der Familie und die Flucht aus dem prekären Milieu ihrer Kindheit plant.

Farah ist im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester nur eine mäßige Schülerin und schrammt bisher gerade mal so an der Polizeibekanntheit entlang - stiehlt aber bei der ersten Gelegenheit dem mit rassistischen Sprüchen am Strand auffälligen Kleinkriminellen Orso einen großen Batzen Marihuana, um damit zu dealen. Ein schwarzes Mädchen mit einer Polizeiakte, das hat keine Chance, wie Jessica weiß - die dann allerdings in einer wunderbaren Partyszene, in der die Handlungsstränge der beiden Schwestern zusammenfinden, in Begleitung der unbekümmert exzessiv über die Stränge schlagenden Gaïa ihre eigene, nicht ganz unproblematisch verlaufende Drogenerfahrung macht.

Es gibt eine ganze Reihe von Weggabelungen, an denen "Rückkehr nach Korsika" mühelos in die falsche Richtung abbiegen und zu einem konstruierten Lehrstück werden könnte. Die Aufdeckung des eingangs erwähnten Familiengeheimnisses etwa hätte einen dunklen, allseits beschwiegenen Knotenpunkt in der Vergangenheit markieren können, um den herum sich all die Handlungsstränge bequem anordnen ließen. Aufgeklärt wird dieser blinde Fleck durchaus, aber eher irgendwann am Wegesrand, hingeworfen, wie nebenbei. Um die Familienhistorie, die die Wege der ungleichen Schwestern auch im Hier und Jetzt unsichtbar lenkt, geht es Corsini gerade nicht - eher lässt sie aus dem jahrzehntlangen Schweigen von Mutter Khédidja und der Begegnung mit einer bis dato unbekannten Großmutter neue Konflikte entstehen, die die Erzählstränge der Schwestern dynamisieren und in neue Richtungen lenken. Überhaupt ist dies ein betont gegenwärtiger Film, der ganz im Moment bleibt und in konkreten Situationen und Augenblicken erzählt ist, während er seinen Blick in die Zukunft richtet - wenngleich er sich bewusst ist, dass diese von Vergangenheit, Erinnerung, Herkunft und Trauma durchtränkt ist.

Weit jenseits der atemlosen Frenetik, die viele Filme Corsinis prägt, gerät "Rückkehr nach Korsika" zum betörend schönen, sonnenbeschienenen Sommerfilm, der allerlei Klassen-, Liebes- und Familienkonflikte in den beginnenden Erwachsenenleben seiner beiden Protagonistinnen anreißt, ohne einen davon je wirklich zu priorisieren und somit zu einem zentralen Problem zu küren, an dem sich alle anderen als Nebenkonflikte ausrichten ließen. Die beiden jungen Schwestern navigieren, jede für sich nach bestem Wissen und mitunter auch orientierungslos, zwischen dem Ballast der Vergangenheit und den Diskriminierungen und Nachteilen, aber auch Chancen, die ihnen die Gesellschaft an die Hand gibt. Wohin sie dieser Weg führt, wissen wir auch am Ende nicht zu sagen. Dass er steinig und voller Rückschläge sein wird, das ahnen wir. Aber welcher Lebensweg ist das nicht.

Jochen Werner

Rückkehr nach Korsika - Frankreich 2023 - OT: Le retour - Regie: Catherine Corsini - Darsteller: Aïssatou Diallo Sagna, Esther Gohourou, Lomane de Dietrich, Harold Orsoni - Laufzeit: 110 Minuten.