Im Kino

Ein kalter Vollmond

Die Filmkolumne. Von Jochen Werner
07.12.2023. Ein abstruses Luxuscamping-Projekt gefährdet in Ryūsuke Hamaguchis "Evil Does not Exist" die soziale und ökologische Balance in  einem japanischen Bergdorf. Das freilich ohnehin nicht als Idealbild bukolischer Idylle taugt. Und dann sind da noch diese mysteriösen Gewehrschüsse im Wald.


Dieser Film beginnt und endet in den Baumkronen. Mit einem Blick von unten, weit hinauf zu einem verschlossenen Himmel, kaum einladend, sondern grau und harsch und kalt. In den ersten Minuten von "Evil Does Not Exist" spielt dazu eine suggestive, schwelgerische Musik, ein Streicherstück der japanischen Komponistin Eiko Ishibashi, das jedoch nicht sanft ausklingen darf, sondern irgendwann sehr abrupt abbricht. Die Musik Ishibashis ist der Ausgangspunkt dieses neuen Films des Oscarpreisträgers Ryusuke Hamaguchi - ein Film, der unter dem Titel "Gift" auch in einer alternativen, dialogfreien Form als reiner Musikfilm existiert, der aber in der hier vorliegenden Inkarnation seiner Musik und der Schönheit, die sie heraufbeschwört, selbst nicht recht zu trauen scheint.

Es ist zur Einordnung des durchaus enigmatischen "Evil Does Not Exist" gut zu wissen, wie der Film entstanden ist. Ursprünglich zur visuellen Untermalung einer Performance Ishibashis konzipiert, wucherte das gefilmte Material in Hamaguchis Imagination weiter, bis es die Gestalt eines Spielfilms annahm - eines Films allerdings, der einige markante Brüche gegenüber dem bisherigen Werk des mit eher literarischen, wortreichen Stoffen international bekannt gewordenen Regisseurs aufweist. In der Rolle des schweigsamen Protagonisten Takumi besetzt Hamaguchi den Debütanten Hitoshi Omika, der sich bis dato als Stand-In "echter" Schauspieler für das szenische Setup der Kameraeinstellungen verdingte. Ein Stand-In, das ist jemand, der vor die Kamera tritt, nur um anschließend wieder aus dem sichtbaren Filmbild zu verschwinden - jemand, der gleichermaßen Präsenz und Abwesenheit verkörpert, und der, solange er vor der Kamera steht, einer anderen Ordnung der Bilder zugehört. Diese Protagonistenwahl ist nicht zufällig, in ihr kristallisiert sich manches, was in Hamaguchis Film verhandelt wird.

Im Anschluss an den abrupt abgewürgten musikalischen Auftakt wird "Evil Does Not Exist" zunächst zu einem Film der Beobachtung, der sich für den Alltag des alleinerziehenden Vaters im Dorf Mizubiki interessiert. Dort fungiert er als eine Art Mädchen für alles und erledigt eine Reihe kleiner Tätigkeiten - er hackt Holz, schöpft Quellwasser für das örtliche Nudelrestaurant und vergisst regelmäßig, seine achtjährige Tochter Hana von der Schule abzuholen. Der Alltag eines einfachen Arbeiters in einem Dorf, von verschneitem Wald umgeben. Zu einer bukolische Idylle fügt sich das nicht, auch weil es mit der Tradition in Mizubiki, wie wir einmal am Rande erfahren, nicht sonderlich weit her. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei das Land dort zur Besiedelung und Bebauung urbar gemacht worden, und viele der Bewohner*innen sind selbst erst vor wenigen Jahren aus Stadtfluchtmotiven ins Dorf gezogen.



Das, was sie alle nun am Landleben schätzen, ist gefährdet durch den absurden Plan einer durch Pandemiehilfen geförderten Corporation, in der Nähe des Dorfes ein "Glamping"-Ressort zu bauen. "Glamping" bedeutet soviel wie "glamouröses Camping" und ist genauso doof, wie es sich anhört - ein Luxusressort, in dem sich Stadtmenschen mit Zurück-zur-Natur-Sehnsucht einen sorgsam ausgewählten Teil des Landlebens zurechtverklären können, ohne mit dessen Härten konfrontiert zu werden - und gleichzeitig das Leben derjenigen, die sich für die Existenz inmitten der Natur entschieden haben, kontaminieren. Denn auf der Einwohnerversammlung, die als lange Dialogsequenz im Zentrum von "Evil Does Not Exist" steht, wird deutlich, dass die Anwesenheit der im Landleben ungeschulten Touristen nicht nur Waldbrandgefahr mit sich brächte, sondern auch ein Abwasserproblem. "Wasser fließt nach unten", so die simple Sentenz, auf die alles hinausläuft. Und, man verzeihe die deutliche Ausdrucksweise: Scheiße fließt mit.

Im Anschluss an diese Konferenz, die sich als bloßes Feigenblatt einer an den Belangen der Dorfbewohner desinteressierten Firmenleitung herausstellt, nimmt der Film eine überraschende Wendung und folgt den beiden Beauftragten der Glampingfirma, Takahashi und Mayuzumi. In ihrer Rolle als einflusslose Strohmänner fühlen sich beide unwohl, und insbesondere Takahashi fasst im Anschluss an die Konferenz den Beschluss, als Wächter und Hausmeister des Ressorts selbst nach Mizubiki zu ziehen und sich dort von Takumi alles beibringen zu lassen, was er zum verantwortungsvollen Betrieb wissen muss. Aber greift sein Interesse wirklich tief, oder sitzt auch er nur einer verklärten Illusion des Landlebens auf? Und woher genau kommen eigentlich die Gewehrschüsse, die man immer mal wieder aus den umliegenden Wäldern hört? Alles in diesem Film verlagert sich tonal rapide, als Takumis Tochter Hana auf dem Schulweg verschwindet und sich der besorgte Vater gemeinsam mit Takahashi auf die Sucher begibt…

Die Schlusssequenz markiert einen derart offenen Bruch mit allem, was vorher zu sehen war - mit dem fast dokumentarischen Interesse an alltäglichen ruralen Arbeits- und Seinsprozessen ebenso wie mit dem dialogischen Verhandeln von Natur, Urbarmachung und Touristik, das kurz in ein didaktisches Naturschutzpamphlet zu gerinnen droht -, dass es das verstörte Publikum wie auch rätselnde Rezensent*innen nach der Festivalpremiere in Venedig zu allerlei Spekulationen hinriss. Tatsächlich sind die Spuren, die die Möglichkeit der finalen Eskalation andeuten, fast unmerklich fein in das Erzählgewebe von Hamaguchis Film eingesponnen, sodass die letzte tonale Verschiebung durchaus schockhaft über das Publikum hereinbricht. Ein bisschen erinnert dieser letzte Plottwist an das Kino des großen japanischen Auteurs Kiyoshi Kurosawa, bei dem oft alles, was ist, unwiderstehlich der Auslöschung zustrebt und die reinste vorstellbare Schönheit immer die der Apokalypse ist.

Am Ende jedenfalls gleitet die Kamera erneut unter den nackten, winterlichen Baumwipfeln entlang. Aber es ist Nacht geworden, und ein kalter Vollmond taucht die Wälder in ein eisiges Licht.

Jochen Werner

Evil Does Not Exist - Japan 2023 - OT: Aku wa sonzai shinai - Regie: Ryūsuke Hamaguchi - Darsteller: Hitoshi Omika, Ryo Nishikawa, Ryūji Kosaka, Ayaka Shibutani - Laufzeit: 106 Minuten.

"Evil Does Not Exist" war im Rahmen des Festivals Around the World in 14 Films 2023 zu sehen. Der Film startet am 18.4.24 in Deutschland.