Im Kino

Gemütsverdunkelt, rückenansichtig

Die Filmkolumne. Von Friederike Horstmann
18.10.2023. Schwangerschaftsabbruch wird im visuellen kulturellen Gedächtnis zumeist mit Depression assoziiert, Mutterschaft hingegen mit Glück. Franzis Kabischs kurze Desktopdokumentation "getty abortions" spürt diesen und anderen Zusammenhängen nach. Der auf dem Festival DOK Leipzig vorgeführte Film taucht tief ein in die ideologische Bildproduktion der Gegenwart.


Die Kurzdokumentation "getty abortions" schaut genau hin: Sie untersucht Darstellungen von Abtreibungen in deutschsprachigen Wochenmagazinen und Zeitungen, legt Stereotype frei und fragt, wessen Geschichten von wem, wie und warum erzählt werden - und wessen nicht. Franzis Kabischs persönliche Desktop-Dokumentation nutzt die Benutzerinnenoberfläche des Computers als operative Basis für ihre investigativen Suchbewegungen: Das Format des Desktopfilms eignet sich besonders gut für einen prüfenden Blick auf Bilder, denn es bietet die Möglichkeit, multiple Bilder neben-, hinter- oder übereinander zu montieren und sie gleichzeitig mit im Browserfenster geöffneten Theorietexten und aufploppenden Chatnachrichten in Beziehung zu setzen.

Wie bei anderen dokumentierten Desktop-Arbeiten der letzten Jahre ist der Mehrwert bei Kabisch ein medienkritischer. Mittels Screenmontagen auf der Computeroberfläche befragt der Film die Form der Bebilderung von Schwangerschaftsabbrüchen, denkt also in und mit Bildern über Bilder nach und legt damit die Aufmerksamkeit auf eine visuelle Viktimisierung oder besser auf eine bildpolitische Komplexitätsreduktion, die in Bildredaktionen ablaufen, - etwa dadurch, dass Bilder von Frauen, die als "depressiv" oder "melancholisch" in Bilddatenbanken wie Getty Images, Shutterstock oder iStock verschlagwortet wurden später für eine ideologische Illustration von Schwangerschaftsabbrüchen herhalten müssen. Kabischs vergleichende Bildanalysen verdeutlichen: Es dominieren farblich zurückhaltende Darstellungen, die Frauen nur von hinten, alleine und ohne Gesicht zeigen. Beliebig austauschbare Hinterköpfe, ohne Kontext, ohne Umfeld, ohne Hintergrund. Kein Hinweis darauf, wohin sie schauen oder wo sie sind: Stock-Fotos mit Stock-Figuren und Stock-Gefühlen.

Solch medial zirkulierende Bilder von Schwangerschaftsabbrüchen sind nicht nur wenig differenziert, sondern erhalten oft kein Gegengewicht, zum Beispiel von Bildern, in denen Frauen als erleichtert oder gar als zufrieden dargestellt werden. Denn solche Bilder entsprechen nicht den gesellschaftlich etablierten Darstellungskonventionen. Vielmehr werden Menschen, die eine Schwangerschaft abbrechen, und Mütter oft gegeneinander ausgespielt - wie auch das eingeblendete Buch "Happy Abortions" von Erica Millar weiß. In ihm spricht die Forscherin von einem emotionalen Skript, das vorgibt, welche Gefühle bei Abtreibung gesellschaftlich akzeptiert und welche verwerflich sind. Gefühle wie Glück und Freude sind diesem Skript gemäß nur dem Mutter-Sein vorbehalten, Abtreibung hingegen wird zwar toleriert, aber dafür mit Trauer, Scham und Schuld verknüpft.

Im Voice-over aus dem Off legt Kabisch ihre autobiografische Geschichte offen. Sie spricht über ihre Erfahrungen und Emotionen bei ihrer eigenen Abtreibung. Sie differenziert und benennt unterschiedliche, parallel existierende, teilweise sogar widersprüchliche Gefühle und sprengt damit die binäre Vorstellung, man sei entweder uneingeschränkt überzeugt von der eigenen Entscheidung oder ausnahmslos rat- und hilflos. Kabisch benennt ein weiteres Desiderat: Fast nie wird erwähnt, wie teuer ein Abbruch ist, dass es in Deutschland einen verpflichtenden Beratungstermin und eine dreitägige Wartepflicht gibt. Zu ihrem instruktiven Erfahrungsbericht erscheinen auf dem Desktop diverse Dokumente: ein Zyklusdiagramm, ein ärztlicher Befundbericht, die Rechnung für einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch über 490 Euro.

Auf dem Bildschirm ploppt eine Telegram-Nachricht von Jasmin auf - Kabischs Desktop-Recherche wird so auch als ein kollaborativer Prozess zwischen Freundinnen vorgeführt. Die Chat-Nachrichten von Jasmin untersuchen historische Bildkonventionen und legen eine lange Geschichte der Wechselbeziehung von Medien und Geschlecht frei: Im Telegram-Chat schickt die Freundin das Cover von Georges Didi-Hubermans Studie über die "Erfindung der Hysterie" - eine Erfindung durch fotografische Praktiken in der Salpêtrière, derjenigen Pariser Klinik, in der der "Napoleon der Neurosen" Jean-Martin Charcot ab den 1870er-Jahren die "hysterischen Anfälle" seiner Patientinnen visuell dokumentierte: mittels systematischer Fotodokumentationen, synoptischer Übersichtstafeln und berühmt gewordener Zeichnungen.

Via Telegram sendet die Freundin Abbildungen dieser vielfältigen Bildproduktion: Zeichnungen, Fotos, Überblickstafeln mit Gesten und Stellungen - die Hysterie also eine "Krankheit der Repräsentation". Schon zu Charcots Lebzeiten wurde die Allgemeingültigkeit der ikonografisch erfassten Abläufe hysterischer Zustände vielfach in Zweifel gezogen und zwar als Effekte der Untersuchungsmethoden an der Salpêtrière selbst. Jasmin schickt einen Download des Buches "Studien zur visuellen Kultur" von Sigrid Schade und Silke Wenk. Im Text sind folgende Sätze gelb markiert: "Die Patientinnen wiederum waren umgeben von Bildern, die sich unschwer als Vorbilder für die Körperposen ihrer hysterischen Anfälle ausmachen lassen." Jasmin schreibt zu dieser Indizienproduktion im Chat: "was fotografiert wurde, waren oft performances derer, die 'zu bildern gemacht wurden'." Charcots Hysterikerinnen transkribieren also Effekte einer medizinischen, medialen und männlichen Macht. Wie bei den Repräsentationen zu Abtreibungen kann in den Zurschaustellung von hysterischen Symptomatisierungen eine Relation von Medien, Macht und Geschlecht analysiert werden.

Mittels fröhlicher Desktop-Kreativität werden die Chat-Nachrichten von Jasmin und der Text aus "Studien zur visuellen Kultur" von einem weiblichen Wimmelbild buchstäblich überlagert: Immer mehr vorproduzierte und offiziell bewirtschaftete Stock-Fotografien erscheinen auf dem Desktop, es wimmelt nur so von einsamen, gemütsverdunkelten, rückenansichtigen, in die Leere starrenden Frauen. Neben- und übereinander arrangiert, werden diese tristen Bilder wiederum teilweise überdeckt von schwarzweißen Miniatur-Zeichnungen, die Hysterikerinnen mit leidenschaftlichen Gebärden zeigen. Humorvoll werden deren exzentrische Posen am Desktop in Bewegung versetzt: Der Bildschirm wird zur Bühne für Hysterikerinnen, die zu einem elektronischen Sound fidel zucken, zappeln, tanzen. Diese filmische Bildkollision aus zeitlich unterschiedlichem Material visualisiert nicht zuletzt Kontinuitäten von patriarchalen Konstruktionen.

Neben ihrem gerade in Leipzig beim DOK mit der Goldenen Taube prämierten Kurzfilm veröffentlicht Franzis Kabisch die Ergebnisse ihrer Recherche zur Darstellung von Schwangerschaftsabbrüchen in wissenschaftlichen Publikationen und auf dem Instagram-Kanal abortion.tv. Schön wäre es, wenn ihr Desktopfilm nicht nur im Kino, sondern im Netz geschaut werden könnte, also dort, wo auch die Gegenstände seines Erkenntnisinteresses ihren Ort haben. Doch dazu müssten die Festivalökonomien mit ihren hegemonialen Exklusivitätsansprüchen gelockert werden.

Friederike Horstmann

getty abortions - Deutschland 2023 - Regie: Franzis Kabisch - Laufzeit: 22 Minuten.
"getty abortions" war dieses Jahr auf dem Festival DOK Leipzig zu sehen.