Im Kino

Wie mit dem Panzer nach Berlin

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
06.09.2023. Rockmusik als subjektiver Ausdruck historischer Erfahrung: Wer nicht glaubt, dass es so etwas gibt, kann sich von Alexei Uchitels 1988 gedrehtem Film "Rok" eines Besseren belehren lassen. Der Dokumentarfilm über Rockmusiker in den letzten Jahren der Sowjetunion wird im Berliner Arsenal im Rahmen der Filmreihe "Tauwetter und Perestroika" gezeigt. 


Wenn es je einen historisch-materialistischen Filmschnitt gegeben hat, dann ist es derjenige, den Alexei Uchitels "Rok" nach gut vier Minuten Laufzeit setzt. Zunächst sehen wir, als Teil einer offiziellen sowjetischen Newsreelproduktion, zwangsenthusiastische Menschen verschiedener Altersklassen, die eine offensichtlich überalterte, unter der Last ihrer Orden fast kollabierende Funktionärsriege bejubeln und rhythmisch klatschend skandieren: "Lenin! Partei! Komsomol!" Der Komsomol, das war die Jugendorganisation der KPdSU, mit der fast alle Menschen, die in den 1970ern und 1980ern in der Sowjetunion jung waren, auf die eine oder andere Art in Berührung gekommen waren. Der Komsomol findet im weiteren Verlauf noch ein paar Mal Erwähnung - als Verkörperung all dessen, womit die Welt, die der Film präsentiert, nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun haben möchte.

Erst einmal jedoch: ein historisch-materialistischer Filmschnitt. Auf die in traditionsdokumentarischem Schwarz-Weiß gehaltene, durch eine triumphale Kamerafahrt in eine Art "Parade im Stehen" verwandelte Inszenierung kollektiver Euphorie und Zukunftszugewandtheit folgt die farbige Großaufnahme eines jungen Mannes. Eines Männerkopfes mit John-Lennon-Brille und vage punkig anmutender Undercut-Frisur genauer gesagt. In der Unschärfe um ihn herum befinden sich andere Menschen, er aber bleibt auch in der Menge allein, nach ein paar Sekunden kratzt er sich am Kopf, dreht sich um und beginnt, sich von der Kamera fortzubewegen.

Klarer können Oppositionen kaum sein: eine Menge, die weiß, was sie will - ein Einzelner, der ratlos bleibt; eine Partei, die dirigiert - eine amorphe Öffentlichkeit, die nicht einmal visuell scharfgestellt werden kann; Film als an ideologischen Setzungen orientierte Massenmanipulation - Film als Vehikel subjektiver, ungerichteter Befindlichkeit. Und eben auch: Sowjetunion - Postsowjetunion.

Etwas ist zu Ende gegangen. Auch wenn es noch nicht alle mitbekommen haben. In der äußeren Wirklichkeit existiert die Sowjetunion 1988, im Entstehungsjahr von "Rok", weiter, sie wird erst vier Jahre später endgültig untergehen. In der inneren Wirklichkeit der Menschen, die Uchitels Film uns zeigt, hat sie bereits jede Bindungskraft verloren. Abgekommen sind diese Menschen, darauf kommen sie in ihren Erzählungen immer wieder zurück, von dem geradlinigen Weg, den der Sozialismus seinen Subjekten vorzeichnete: "Schule - Universität - Arbeit - Komsomol - Partei - Rente - Altersschwäche".

Zuflucht gefunden haben die verlorenen Söhne des Sozialismus, so die ebenso schlichte wie kraftvolle Erkenntnis des Films, in der Rockmusik. "Rok" portraitiert Musiker, die in Bands wie Aquarium, Kino und DDT die moderne russische Rockszene mitbegründeten, prägten und teilweise immer noch prägen. Uchitels Film verschreibt sich diesen Menschen ohne weitergehende Kunstambitionen und ist heute eben deshalb ein Zeitdokument ersten Ranges. Die Newsreelpassage zu Beginn ist auch schon die stärkste auktoriale Setzung. Anschließend wechselt der Film beständig hin und her zwischen Alltagsbeobachtungen aus dem Leben einzelner Protagonisten der Rock-Szene, die oft von Erzählungen der Portraitierten begleitet werden, und Aufnahmen von Konzerten oder auch Probesessions - die Kamera klebt meist eng an den Gesichtern der Künstler, sodass sich der räumliche Kontext nicht immer erschließt - derselben Künstler.



Ist, was dabei entsteht, ein Generationenporträt? Vermutlich ja, aber auf paradoxe Weise, denn eine neue Gesamtheit kommt im Film nicht in den Blick. Was die einzelnen Porträts verbindet, ist gerade die Isolation der Porträtierten. Eine relative, keine absolute Isolation ist das, zugegeben. Es gibt durchaus auch Bilder von Gemeinschaft in "Rok". Die Gemeinschaft der Band natürlich, die Gemeinschaft der Familie, gelegentlich etwas größere Gemeinschaften, die sich kommunen-, teils auch sektenartig zu organisieren scheinen. Alle jedoch bleiben sie strikt auf sich selbst bezogen: Schutzräume gegen eine Welt des Mainstreams, in der noch immer das "Lenin! Partei! Komsomol!" gilt.

Die Lebensumstände, die dabei in den Blick geraten, sind äußerst heterogen. Dass der Alltag der Musiker meilenweit vom "Sex, Drugs & Rock'n Roll"-Glamour westlicher Gitarrenrockhelden entfernt ist, versteht sich von selbst. Einer schaufelt, um über die Runden zu kommen, Kohlen im Keller eines Mietshauses, ein anderer arbeitet als Filmvorführer. Wieder ein anderer scheint eine Gruppe Verehrer und vor allem Verehrerinnen - die Protagonisten selbst sind durchweg männlich, ganz klar stehen dieser Welt einige entscheidende Revolutionen noch bevor - um sich geschart zu haben, mit denen er übergriffig anmutende Performances vollführt. Ein unangenehmer, messianischer Typ, scheint es; seine Musik allerdings ist mit die interessante in "Rok".

Diese Musik wiederum nimmt zwar viel Raum ein in Uchitels Film, in den Erzählungen der Musikern findet sie jedoch kaum Erwähnung. Stattdessen geht es oft durchaus explizit um die eigene, ziemlich komplette Entfremdung vom System, gelegentlich auch konkreter um Auseinandersetzungen mit der Zensur. Außerdem geht es viel um Biografisches, um die Hoffnung nicht zuletzt, die gegenwärtige Isolation zu überwinden. Rührend eine Szene, in der ein Musiker davon erzählt, wie stolz sein Vater war, als er ihn bei einem seiner Konzerte besuchte. Das war wie damals, als ich mit dem Panzer in Berlin eingefahren bin, habe der Vater gesagt.

Die Musik jedoch braucht keine Erklärung, sie steht und spricht für sich. Auch musikalisch eröffnet Uchitel ein heterogenes Feld. Wiederum versteht es sich von selbst, dass man keine technisch perfekt durchproduzierten Hochdruckgitarrenwände zu erwarten hat. Manches scheint, den Folk-Rock-Sound und den Liedermachergestus der 1960er evozierend, eher zwanzig als zehn Jahre dem Stand der Dinge in der westlichen Musiklandschaft hinterher zu hinken; anderes schließt durchaus an die kalte Melancholie der Post-Punk-1980er an, wieder anderes schlägt experimentell-expressionistische Volten. Was jedoch alle Songs durchzieht, ist ein Primat des persönlichen Ausdrucks. Berichte aus dem Inneren, das die Gewalt, die es vom Äußeren erfährt, Form werden lässt. In der Gegenwart des popkulturellen Betriebs mag es einem bisweilen schwerfallen, daran zu glauben, dass Rockmusik mehr ist als nur einer unter vielen zielgruppenoptimierten Kanälen der Kulturindustrie; nämlich ein Medium der subjektiven Aneignung historischer Erfahrung. "Rok" gibt einem den Glauben zurück.

Lukas Foerster

Rok - UdSSR 1988 - Regie: Alexei Uchitel - Lauzeit: 94 Minuten. Das Berliner Arsenal zeigt "Rok" am 9.9. um 20 Uhr im Rahmen der Reihe "Jugend, Aufbruch und Widerstand im sowjetischen Kino - Tauwetter und Perestroika", die noch bis Ende des Monats fortgesetzt wird.