Tagtigall

100 Dollar für ein Gedicht

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
03.12.2023. Von uigurischer Lyrik wissen wir immer noch viel zu wenig. Hier eine kleine Begegnung mit dem Dichter Imran Sada'i,  den kürzlich die Webseite Words without Borders vorstellte.
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Es gibt Institutionen, die sind, wie es scheint, nur auf Englisch sinnvoll, dabei würde man sie sich so sehr auch auf Deutsch wünschen. Ich jedenfalls. Kennen Sie Words Without Borders (WWB), also "Worte ohne Grenzen"- eine New Yorker Initiative, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Literatur aus aller Welt ins Englische zu übersetzen und auf diese Weise weltbekannt zu machen? Erst vor kurzem feierten sie ihren 20. Geburtstag mit einer großen Gala in einem New Yorker Ballroom mit Deko aus den 1920er Jahren. Einen langen Abend lang saßen Menschen an riesigen runden Tischen, an denen frau in lauter Geselligkeit kaum ihre Nebenfrau verstand. Autoren aus 143 Sprachen und 139 Ländern sind bereits auf der Webseite mit Texten vertreten, und so einige von jenen, die heute weltberühmt sind, haben ihren ersten englischsprachigen Auftritt auf dieser Homepage gehabt.

Auf dem Gala-Abend wurde gepriesen, gequizzt, gegessen, und - natürlich - gelesen. Die Iranerin Laila Lalami und die iranischstämmige Autorin Poupeh Missaghi (beide auch Übersetzerinnen) lasen Prosa; doch zur Eröffnung gab es Lyrik, vorgetragen von dem russisch-ukrainisch-amerikanisch-jüdischen Dichter Ilya Kaminsky, der den Ehrenvorsitz des Abends innehatte. Kaminsky ist Professor in Princeton, man weiß dort eben, dass Dichter die besten Sprachwissenschaftler sind.

Eine Gala ist eine Gala, und auch wenn das Fundraising nicht auf dem gedruckten Programm stand, war die nach dem Hauptgang von einem Auktionator geleitete Spenden-Runde irgendwie das Zentrum des Abends. Es gilt schließlich die Zukunft zu sichern, also dafür Vorsorge zu treffen, dass auch künftig Dichterworte aus fernen Sprachräumen zu uns gelangen. Der engagierte Auktionator begann mit dem Ausrufen einer 10 000-Dollar-Spende - und tatsächlich schnellte in der Mitte des Saals eine Hand in die Luft. Ich versuche, mir eine solche Szene in Deutschland vorzustellen, aber es gelingt mir nicht. Kurz vor Ende der Spendenauktion wurden "100 Dollar für ein übersetztes Gedicht!" ausgerufen. Diesmal reckten sich zahllose Spender-Hände. Es gibt offensichtlich einen Hunger, dachte ich; Gedichte entziehen den Wörtern und Sätzen ihre Selbstverständlichkeit; ein nicht selbstverständlicher Text aber braucht unser Zutun, unser aktives Verstehen-Wollen, er gibt uns die Worte der Anderen zu denken.

Doch erreichen uns die leisen, schwachen und schwankenden Worte und Töne aus der Fremde derzeit überhaupt noch? Ilya Kaminsky las unter anderem die englische Übersetzung eines Textes des uigurischen Dichters Imran Sada'i. Sada'i ist bei uns noch völlig unbekannt. Wir wissen nichts von ihm und ohnehin viel zu wenig über die Region seiner Herkunft - zu wenig über die Ausmaße der Unterdrückung und zu wenig von Sprache und Dichtung dieses verfolgten Volkes.

Das Uigurische ist eine Turksprache, die zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Regionen, in denen sie gesprochen wird, verschieden verschriftlicht wurde, mal Kyrillischen, mal Chinesisch. Heute hat sich ein modifiziertes persisch-arabisches Alphabet als Schrift durchgesetzt. Die Uiguren sind muslimisch. Der Name selbst, "uigurisch", bedeutet so viel wie "vereint". Und tatsächlich vereinten sich unter dieser Bezeichnung 1921 Mitglieder der Volksgruppe, die über verschiedene Länder verteilt lebten: Kirgistan, Russland und China.

Imran Sada'i, der Dichter, dessen Gedicht "Sinking" Kaminsky auf dem Gala-Dinner vortrug, wurde im Jahr 2000 im Nordosten Chinas, direkt an der Grenze zu Kirgisistan geboren. Mit 16 verließ er das Land und ging in die Türkei, ob alleine oder mit seiner Familie, ist unbekannt, doch man weiß, dass in dieser Zeit die chinesische Regierung ihre Politik von Inhaftierung und Zwangsassimilation der Uiguren verschärfte.

Den Informationen  bei Words Without Borders kann man entnehmen, dass 2019 ein erster Gedichtband von ihm erschien, wohl in türkischer Sprache: "Damla" (Ein Tropfen). Und dass er sich mit großer Verve in der Türkei für den Erhalt des ostturkistanischen Erbes engagiert. Er ist in zahlreichen Organisationen aktiv und veröffentlichte 2020 die türkische Übersetzung eines Gedichtbandes von Mutellip Seydulla, eines zeitgenössischen Dichters, der, 1972 geboren, derzeit in Norwegen lebt. (Korrektur: Es handelt sich dabei nicht um den Befreiungskämpfer Lutpulla Mutellip. Mutellip scheint es als Vor- und als Nachnahme zu geben, was für weniger Eingeweihte leicht zu Verwechselungen führt, mich jedenfalls in die Irre leitete.) Lutpulla Mutellip war einer der berühmtesten Dichter UND Nationalheld des uigurischen Befreiungskampfes von Anfang der 1940er Jahre. Er wurde 1922 als uigurischer Sowjetbürger in der Autonomen Sowjetrepublik Turkestan (heutiges Kasachstan) geboren; um der stalinistischen Zwangskollektivierung zu entgehen, siedelte seine Familie Mitte der 1930er Jahre in die uigurische Heimat zurück, wo Lutpulla Mutellip ab 1939 in Urumchi studierte und für die unabhängige Republik Ostturkestan kämpfte, deren Erbe noch heute lebendig ist. 1945 zu Beginn des Bürgerkriegs wurde Lutpulla von der nationalchinesischen Kuomintang gefangen genommen und enthauptet. Man sieht, die chinesische Unterdrückung der Uiguren hat eine lange - auch vorkommunistische - Geschichte.

Von Imran Sada'i finden sich drei Gedichte im Original sowie in englischer Übersetzung (Joshua L. Freeman) auf der Homepage von Words Without Borders: Das eine Gedicht, "Sinking" betitelt, das Kaminsky auf der Gala vortrug, handelt - aktueller denn je - vom Versiegen der Worte.

Sinking
No poems to write now.
No songs to hear,
chats to have,
words to say,
nothing.
What to do?
Within me all is hushed.
Oh, I'm filled
lavishly with silence,
brimming.

Es gibt Zeiten, in denen die Wirklichkeit so roh ist, dass einem die Worte, Lieder und Gespräche ausgehen. Das Schweigen "quillt über". Als ich das Gedicht "Sinking" las, fragte ich mich, was alles im Uigurischen in diesem Titel mitzuhören ist. Welche Bedeutungsschattierungen werden hier mittransportiert? Geht es ums körperliche Versinken, Ertrinken, oder geht es doch eher um ein meditatives Versinken? "čök-", so erfahre ich von einem Spezialisten für uigurische Literatur, bezeichnet vielfach das Versinken oder Untertauchen in Wasser, in einem Fluss usw. Demzufolge gälte das Schweigen den bedrängenden, finsteren Zeiten.

In dem 2. Sada'i-Gedicht, das sich auf der Homepage von Words Without Borders findet, kauert ein lyrisches Ich (dasselbe oder ein anderes?) an den Ufern der Leere ("shores of emptiness"), und bemerkt, wie seine Seele rot aufschäumt. Was nur ist das für ein Rauch, dass er die Welt draußen erstickt?

Smoke
When the smoke that rises in me
smothers the world outside
I sit on the shores of emptiness
and watch my soul foaming red.

Die "Ufer der Leere" erinnern unmittelbar an Bilder des Exils und verbinden sich mir beim Lesen mit den Ruinenlandschaften der Heimat aus dem dritten Gedicht, in dem ein Kinderdrache im Zentrum steht.

Kite
I am a kite, tangled
in the brilliant branches of an unknown world.
Thoughts flying by like cars
pain as heavy as the road
make the land my heart settled
a sinister ruin.

Ich lese diese Zeilen in etwa so: Ein lyrisches Ich ("I am a kite") steckt fest in den Verästelungen einer unbekannten Welt. Es sieht die Gedanken, die wie Autos vorüberflitzen, erinnert sich an den leidvollen Fluchtweg und imaginiert sich den Ort seines Herzens: eine Ruinenlandschaft. Doch ich als Leserin weiß auch: Diese Lesart ist nur eine der möglichen Annäherungen an diese fremde Wörterwelt, die ich nur auf englisch lesen kann. Der Dichter Imran Sada'i, so verschlossen seine Kunst uns sein mag, fasziniert. Ein Kosmos tut sich auf, eine Ahnung. Man läse gerne mehr von diesem Dichter.

*****

Zum Weiterlesen:

Die Doktor-Arbeit "Print and Power in the Communist Borderlands" von Joshua L. Freeman, dem Übersetzer von Sada'i, liefert plastische Informationen zur uigurischen Geschichte. Ich danke ihm sowie Prof. Michael Reinhard Hess für hilfreiche Hinweise.