Tagtigall

Mit den Fliegen reden

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
21.02.2024. Die Dichterin Elke Erb starb am 21. Januar nach längerer Krankheit. Ihre ersten Gedichte erschienen 1968. 1982 las sie das erste Mal auf dem Internationalen Lyrikfestival von Rotterdam. Damals war sie bereits in Ost und West berühmt. Elke Erb wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter zuletzt, 2020, mit dem Georg Büchner Preis. Am 25. Februar findet in der Berliner Volksbühne eine Veranstaltung zu ihren Ehren statt: "Die Staubfänger halten sich länger".
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Elke Erb war ein Mensch von schwebender Präsenz - in Sprache und Esprit. Mit der ihr eigenen Leichtigkeit und dem ihr eigenen Schalk schien sie der Schöpfung etwas näher als wir. "Das ist hier der Fall", lautete der Titel eines großen Auswahlbandes, der 2020 bei Suhrkamp erschien und ähnlich selbstverständlich sind auch andere Buchtitel: "Der Faden der Geduld", "Kastanienallee", "Freude hin, Freude her", "Der wilde Forst" und "Mensch sein, nicht". Spätere Bände tragen Titel wie "Gänsesommer" oder "Sonanz". In dem Band "Sonnenklar Meins: Das Hündle kam weiter auf drein" findet sich folgendes Gedicht

Vermutlich im März notiert:
Wenn der Hirsch aus dem Wald tritt - denk nicht, das ist nichts.
Oh, weißt Du, das ist das Leben.
(2012)

Ihre Gedichte sind oft ungebunden, skizzenhaft, tastend. Durch die Datierung wirken sie wie Notate oder Notationen, Kunden von einer eigenen, der Erb'schen Welt. "meine lunatische dichterin" so die Dichterfreundin Friederike Mayröcker einmal, Nico Bleutge sprach vom "Nirvanageflirr" ihrer Dichtung, und Monika Rinck, merkte an, dass Erbs Texte die Qualität haben, "verfahrene Denkräume wieder in Bewegung zu setzen".

Geh doch auf die Eisscholle: klare Verhältnisse
geh vom Unort, fort auf die Eisscholle und dann
die nächste nach der ersterwähnten
 (klare Verhältnisse). Verrücke
die eigene Position, dort
befindest du dich,
kein Fazit.

So entrückt oder richtiger "verrückt" viele ihrer Bilder, so ganz bei sich die Kompositionen, "Sie ist von selbst so." Aus sich heraus. Ohne Absichten.

Ob diese Absichtslosigkeit, die ihr Werk schon früh prägte, auch politisch motiviert war? Elke Erb, 1938 in der Eifel geboren, kam mit zehn Jahren in die im Aufbau befindliche DDR. Die Wiesen ihrer Kindheit reisten mit. Zur Aufbaugeneration (Christa Wolf, Heiner Müller) gehörte sie nicht mehr. In den 1960er/1970er Jahren gründete sie mit ihrem damaligen Mann Adolf Endler, mit Sarah Kirsch und anderen Schriftstellern die "Sächsische Dichterschule", wie Endler die Gruppe später halbironisch nannte. Man traf sich zu gemeinsamen literarischen Aktivitäten und pflegte beides, Austausch und Zuspruch. Eine "wandlose Werkstatt", so Elke Erb.

Etwas von dieser Wandlosigkeit erhielt sie sich in der Dichtung und im dichterischen Austausch; Gespräche gerade auch mit den jüngeren Generationen, blieben ihr ein dichterisches Elixier: Anfang der 1980er Jahre war sie ein wichtiger Bezugspunkt für die jüngere, aufbegehrende Dichter-Szene vom Prenzlauer Berg: "als ich hörte, was die machen, da war es so, als wäre mir der Boden unter den Füßen verlängert. Also durch die ist mehr Land. Das war eine Beruhigung."

Solches Verlängern des Bodens, die Suche nach "mehr Land" ist ein Grundzug ihrer Dichtung. Da die Jungen in der DDR nicht veröffentlichen konnten, trug Elke Erb die Ungedruckten 1985 zum Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch. "Berührung ist nur eine Randerscheinung" hieß die Anthologie, die sie gemeinsam mit Sascha Anderson edierte. Auch für diese Vorstöße braucht es einen speziellen Mut, den Elke Erb offensichtlich besaß. Darauf angesprochen, dass sie gegen die Gesetze verstieß, soll sie geantwortet haben: "Wenn ich dafür bestraft werden soll, muss ich das hinnehmen."

Zur Bodenverlängerung riss sie damals auch die Wände und Zäune der eigenen Texte nieder. In dem Band "Kastanienallee", der 1987 im Aufbau Verlag erschien, erweiterte sie die Notationen erstmals um eigene Kommentare, Paraphrasen oder Assoziationen. Manchmal waren es nur ein Wort, ein Klang oder eine Erinnerung, die sich (und uns) das Terrain des ursprünglichen Textes freilegten und erweiterten. Auch bei Lesungen unterbrach sie sich gerne, und fügte scheu etwas ein - mal einen imaginierten Hörerkommentar wie "Die sollte mal zur Sache kommen", mal eine Idee, mal eine Selbstreflexion wie "Das habe ich geschrieben  - als könnte ich nicht bis drei zählen". Im Erweitern des zuvor Fixierten "verrohstofflichte" (Monika Rinck) sie die eigenen Notate, wobei sie ihre Kommentare als "Beistand zu den Texten" verstand, und im Gespräch mit Gregor Laschen erläuterte: "Insgesamt habe ich dann gedacht: Sowieso sind die Texte so, wie Früchte oder Pflanzen, die auf dem Acker gewachsen sind, also schreibe ich jetzt den Acker."

Der Fuhrmann aus der Kindheit - ein Selbstporträt?  "Der Fuhrmann blickt verschmitzt. Unter dem Mützenschirm // die ewigen Lachfältchen." Für Erb waren Worte, Gedanken und Dinge gleich unmittelbar. Ihr poetisches Denken bewegte sich mühelos vom Allgemeinsten zum Allerkonkretesten.

Parzelle
Himmel die weißen Eiswolken fasernd
& federnd Seidiger Glanz

Es ist das Grundstück Wüste eines Gartens

Die Einsamkeit ist eines Gartens Wüste
Der Wüste Hortus ist darin Alleinsein

Es ist das Gartengrundstück Einsamkeit der Wüste
Parzelle ist durch eine Wüste wandern.

Es fehlt etwas. Es ist das Vaterhaus.

Die Mutter war nach allen Seiten Umkehr
von einem Eispol. Mehr ist ja nicht möglich.

16. 3. o3

1969 reiste Elke Erb gemeinsam mit Adolf Endler und Rainer Kirsch für hundert Tage nach Georgien. Danach begann das Übersetzen. 1974 erschienen Texte von Marina Zwetajewa. Ihr Gesellenstück. "Um eine eigene Grundlosigkeit herum | entsteht ein vieldifferentes Geflecht | von Verbindlichkeit und Bindung zum fremden Gedicht."  Sie übersetzte weiter. Fremde Töne und Bilder fand auch Eingang in ihre Verse. Gossamer - Sommer-/ fäden Altweiber-sommer, // ein feines Gewebe, Gespinst sehr feine Gaze / im Sarge Tode // so  traf ich es an bei Emily Dickinson. Mehrheitlich jedoch übersetzte sie zeitlebens aus dem russischsprachigen Kosmos.

Sprache kann etwas sagen, ohne es zu sagen, und dennoch ist es da. Das erkennt, wer sich eine kleine, "Mucha" überschriebene, poetische Etüde (Elke erbs poetics) im Netz anschaut. Im Zentrum steht hier eines von Ossip Mandelstams Kindergedichten aus dem Jahr 1926: "Die Fliege". Erb kommentiert die Umstände lakonisch präzise: "Russland 1926. Die vorigen Verhältnisse sind abgeschafft, das Menschenheil ist verheißen. Es kam nicht, Hunger und Elend traf ein" Zum Geldverdienen übersetzte Mandelstamm offensichtlich Verse für Kinder, erzählt sie - "harmlos, unverfänglich." Zwischen Kommentaren zum Kontext notiert sie eine eigene Wort-für-Wort-Übersetzung:

Die Fliege
Du wohin gerietest, Fliege? / In (die) Milch, in (die) Milch. // Gut dir, Alte? / Nicht leicht, nicht leicht. // Du vielleicht herausklettertest etwas. / Nicht kann, nicht kann. // Ich dir mit (einem) Löffel / werde helfen, helfen werde. // Besser du meiner, armer/n? Seele, / (dich) erbarme, (dich) erbarme, // Milch in andere Tasse / umgieß, umgieß.

In dieser "Interlinearversion" hat sie die originale Textur sichtbar gehalten. So schweben die Worte und geben Hinweise auf das Sprachreich des Originals. Ungesehenes sickert durch. Was, so fragt das Gedicht, ist in Zeiten des Terrors Mitleid, was Hilfe beziehungsweise Rettung, und was wäre ein wirkliches "Erbarmen"? Wir hören eine unbekannte Stimme, welche eine Fliege (du) anspricht, die in die Milch gefallen ist. Aus Mitleid schlägt die Stimme vor, sie könne der Fliege einen Löffel zum Herausklettern reichen. Die Fliege jedoch hat Grundsätzlicheres im Sinn: Sie möchte kein Mitleid, sondern ein neues Miteinander - sprich: eine Tasse, die so beschaffen ist, dass alle Fliegen frei in ihr trinken, ja leben können.

Durch das Sprachgewebe und durch den Kommentar wird deutlich, dass dieses Kindergedicht, so "harmlos" es mit seinen Reimen und Wiederholungen daherkommt, politisch kein bisschen "unverfänglich" ist. Wo die Menschen (Fliege) in den Zeiten staatlicher Gewalt (Tasse) massenhaft starben, sofern kein mitleidiger Löffel sie rettete, brauchte es tatsächlich eine völlig neue Tasse - sprich: neue Verhältnisse, einen Umsturz eben. Wir sehen, auch die fremde Sprache "verlängerte" Elke Erb den Boden, schuf "mehr Land" sozusagen. Mit ihrem Vertrauen in die Pluralität eines jeden Wortes erweitert sie den Raum und die Reichweite der Poesie wie des poetischen Gesprächs - nicht nur des Gesprächs mit den Fliegen.

***

Am 25. Februar findet in der Berliner Volksbühne eine Veranstaltung zu ihren Ehren statt: "Die Staubfänger halten sich länger".

ZUM WEITERLESEN

Elke Erb, Das ist hier der Fall, Gedichte, hg. von Steffen Popp und Monika Rinck, Suhrkamp Verlag 2020.

Seit 1998 veröffentlichte Elke Erb bei Urs Engeler - 11 Bände insgesamt.  Hier ein Link zur Homepage für Elke Erb auf der Heimatseite des Verlags Urs Engeler. Dort finden sich versammelt: alle Buchveröffentlichungen seit "Gutachten" (1975, Aufbau Verlag) und "Einer schreit! Nicht" (Wagenbach 1976), ferner alle Preise (von Huchel bis Büchner), ausgewählte Texte sowie Links zu 2 Lesungen aus Anlass des Erscheinens ihrer Übersetzungen von Ales Rasanau und Rosemarie Waldrop.

Hier finden sich Hinweise zur Entstehungsgeschichte der Anthologie "Berührung ist nur eine Randerscheinung" (1985) 

Hier gibt es eine Art Selbstporträt:

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