Im Kino

Von der Kegelbahn weg verhaftet

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh
10.08.2023. Regina Schillings Doku "Diese Sendung ist kein Spiel - die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann" erkundet, wie Eduard Zimmermann in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren mit seiner Sendung "Aktenzeichen XY ungelöst" bundesdeutsche Seelenlandschaften quasi kolonisierte und mit filmischem Schwarzweiß verplombte. Und dabei vor allem Frauen immer wieder das Gefühl vermittelte, ihr Freiheitsdrang fordere Mord und Vergewaltigung geradezu heraus.
Eduard Zimmermann. Foto: ZDF


Jüngeren Generationen, die vollkommen selbstverständlich mit dem Segen und Fluch des individualisierten Medienkonsums aufwachsen, lässt sich diese Mediensituation wahrscheinlich kaum mehr begreiflich vermitteln: dass das Fernsehgerät im Wohnzimmer einmal das einzige Fenster zur Welt war und man als Kind schon bald zu ahnen begann, dass diese viereckig gewordene Welt nicht nur aus kindgerechter Unterhaltung bestand, sondern sich darin auch allerlei Verstörendes abspielte. Entsprechend entwickelten Kinder und Jugendliche riskante Manöver: Ganze Generationskohorten standen abends mucksmäuschenstill im Flur, um durch die offene Tür unbemerkt einen Blick darauf zu erhaschen, was die Eltern sahen - wobei unklar blieb, ob der Thrill des Gezeigten den Thrill der Gefahr, entdeckt zu werden, überwog. Oder man lauschte an der geschlossenen Wohnzimmertür gespannt mit. Später, als das Privatfernsehen im Nachtprogramm mit einem Nacktprogramm lockte, wusste man, welche Flurdielen auf dem Weg ins Wohnzimmer knarrten und welche nicht - und wie man den Tonpegel des Fernsehgeräts so einstellte, dass man gerade noch etwas hören konnte, ohne das ganze Haus zu wecken.

Der Ursprung solcher Strategien eines souveränen Medienkonsums lässt sich nach Regina Schillings Essayfilm "Diese Sendung ist kein Spiel" exakt auf den 20. Oktober 1967 datieren. Damals lief die erste Folge von "Aktenzeichen XY… ungelöst" im ZDF, das vier Jahre zuvor auch als gesellschaftspolitisches Gegengewicht zu den ARD-Sendeanstalten, denen man vorwarf, zu links zu sein, an den Start gegangen war. Das bereits aus "Vorsicht Falle! Nepper, Schlepper, Bauernfänger" bekannte TV-Gesicht Eduard Zimmermanns bescherte der Welt das erste True-Crime-Format und bot obendrein die Aussicht auf Fernsehen als interaktives Medium: "Der Bildschirm als Instrument der Verbrechensbekämpfung", lautete die Parole. Ungelöste Kriminalfälle wurden in Zusammenarbeit mit der Polizei filmisch nachgestellt und die Bevölkerung zum aktiven Mittun an deren Lösung aufgerufen. Schon in der ersten Sendung konnte Erfolg gemeldet werden: Ein Mann, der Bauern minderwertige Melkmaschinen verkaufte, wurde nach einem Telefonhinweis direkt von der Kegelbahn weg verhaftet. Zuvor hatte Zimmermann die Zuschauer noch angestachelt: "Vielleicht erhebt sich ja jetzt gerade in der Gaststätte ein Mann, um sich unbemerkt davon zu schleichen." Der Vorwurf des Denunziantentums und der Menschenjagd begleitete die Sendung bereits vorab und sollte in den folgenden Jahren immer wieder hochkochen.

Der Mord an einer jungen Frau aus derselben Sendung blieb indessen fürs Erste unaufgeklärt. Das Bild ihrer Leiche - zwei Schüsse in den Kopf - zeigte Zimmermann dennoch, ohne die aufgeregte Angstlust bei diesem morbiden Grusel verhehlen zu können: Im Sinne der Aufklärung solle man bei allem Gräuel doch "einmal ganz genau hinsehen", ob man die Frau nicht vielleicht doch erkenne. In diesen und vielen weiteren Momenten spricht aus Zimmermann das Wichtigtun und biedere Beharren auf die Gebotenheit des eigenen Handels. In seiner pausbäckigen Kloßhaftigkeit wirkt Zimmermann, 1967 noch keine 40 Jahre alt, zugleich frühvergreist und von der eigenen Mission auf knabenhafte Weise ergriffen.

Für Regina Schilling, die bereits mit ihrem Essayfilm "Kulenkampffs Schuhe" vor einigen Jahren das westdeutsche Nachkriegsfernsehen einer mentalitätshistorischen Überprüfung unterzog und damit für einiges Aufsehen sorgte, stellt diese "XY"-Premiere eine historische Zäsur dar - entsprechend viel Raum nimmt sie in ihrem Film ein. Dabei geht es weniger um die oft kritisierten ethischen Implikationen der Sendung (Ist der Nachbar zuletzt nicht vielleicht doch auffallend häufig abends aus dem Haus gegangen? Ist die Frau aus dem vierten Stock nicht doch auffallend häufig mit unterschiedlichen Männern im Treppenhaus anzutreffen?), sondern um eine neue Kultur der Angst, die mit "Aktenzeichen XY… ungelöst" in den Stuben Einzug hielt. Plötzlich lebte man nicht mehr in einer trotz gängiger Alltagsprobleme mehr oder weniger kommod eingerichteten Welt ("Haben wir denn noch was zum Anstoßen zuhause?" - "Eine Flasche Eierlikör müsste noch dasein", heißt es an einer Stelle im Film, ein Zitatschnippsel aus einem "XY"-Einspieler), sondern in einer Welt, in der an jeder Ecke nicht nur das Verbrechen, sondern gleich das anonyme Böse lauerte: Raub, Gewalt und Mord im Sumpf zwielichtiger Milieus, die sich allerorten unter dem dünnen Firniss kleinbürgerlicher Idyllen zu bilden schienen. Einschalten wird zur Bürgerpflicht wie heutzutage das Teilen greller Schlagzeilen in AfD-lastigen Facebook-Blasen - jeder kann zur Verbrechensbekämpfung etwas beitragen. Und wer nichts beizutragen hat, erfreut sich am True-Crime-Grusel der kompetent gemachten Einspieler: Zumal in der Schwarzweiß-Phase der Sendung waren das kleine Zehn-Minuten-Sittenreißer, wie man sie damals nur in anrüchigen Kinos zu sehen bekam. Der Regisseur dieser Einspieler, Kurt Grimm, hatte eine Vorliebe für den Film-Noir - man sieht's.

Den auch von "Ganoven-Ede" (wie seine Kritiker Zimmermann nannten) nicht aufgeklärten Mord an der jungen Frau aus der ersten Sendung identifiziert Schilling als frühzeitig etabliertes, zentrales Motiv der Sendereihe, das die Filmemacherin im Laufe ihres Films vorsichtig freilegt: Ein schwarzpädagogisches Projekt ("Angst ist ja eine gute Erziehungsmaßnahme", schwadroniert Zimmermann in einem Interview selbstzufrieden) von "Aktenzeichen XY … ungelöst" besteht darin, Mädchen und jungen Frauen gezielt Angst einzujagen, dies wohl auch als gesellschaftspolitisches Kontrollinstrument - Biomacht.

Szene aus "Aktenzeichen XY ungelöst". Foto: ZDF


1967 war Schilling vier Jahre alt, ihre Generation ist die erste, die selbstverständlich mit dem Fernseher als ständigem Begleiter aufgewachsen ist. Wie in einem exorzierenden "Hauntology"-Projekt zeichnet sie nach, wie Zimmermann als eine Art "Boogeyman" die Wohnzimmer und kindlichen Seelenlandschaften heimsuchte und dort bis heute nachwirkt. Immer noch mache ihr sein Gesicht und seine Stimme Angst, bekennt sie. Nach wie vor könne sie nicht gut alleine im Wald spazieren gehen, erzählt sie. Das Trampen - in den Siebzigern gegenkultureller Ausdruck eines neuen Freiheitsversprechens - wird von Zimmermann systematisch madig gemacht. Frauen, die vom kleinbürgerlichen Ideal - Volksschule, Lehre, ein paar Arbeitsjahre, nach der Heirat für Kind und Küche zuständig - auch nur ein wenig abweichen, leben gefährlich: Kneipen, Lebenslust, Bekanntschaft mit vielen Männern - all dies führte nach Zimmermann geradewegs in einen gewaltsamen Tod. Um solche Erziehungsmaßnahmen zu legitimieren, waren Zimmermann auch wahrscheinlich fingierte Zitate aus Jahresberichten zur Kriminalität recht - in Wahrheit bescheinigten solche Berichte etwa dem Trampen kein erhöhtes Risiko, Opfer einer Gewalttat zu werden. Jedenfalls nicht höher als beim Warten auf den Bus. Das Risiko eines Autounfalls war viel höher.

Für Schilling zentral ist die Beobachtung, dass die Prävention von Gewalt gegenüber Frauen nach dem Zimmermann-Evangelium in den Verantwortungsbereich der Frauen fiel. Das Böse existiere nunmal rein aus sich heraus, bleibt anonym - dass Männer sich oft wie Schweine aufführen, spart Zimmermann aus, vielmehr ist es der angeblich liederliche Lebenswandel der Frauen abseits der "bürgerlichen Ordnung", der direkt ins Verderben führt (dass Zimmermanns eigene, von Nachkriegs-Kleinkriminalität und -Scharlatanerie geprägte Biografie selbst kaum als "bürgerlich" durchgeht, ist ein reizvolles Detail am Rande). Das Wort "Vergewaltigung" fällt kaum einmal, auch "Prostitution" ist etwas, das bei Zimmermann allenfalls in den Bereich der vielsagenden Andeutung gerückt wird. Der Begriff "Femizid" wäre für Zimmermann wahrscheinlich noch außerirdischer als das Wort "Email" ("Das habe ich auch erst heute erfahren, das sind Briefe, die per Internet kommen", sagt er in seiner 300. und letzten Sendung, in der er zugleich die nunmehr ermöglichte elektronische Erreichbarkeit annoncierte). Der Mord an der jungen Frau aus der ersten Sendung entpuppte sich nach zwei Jahren im übrigen als "tragische Beziehungstat", wie solche Verbrechen bis heute gerne bezeichnet werden.

Eine Klammer bildet dazu die (in ihren Begleitumständen sehr diffuse) Ermordung der früheren Grünen-Bundestagabgeordneten Petra Kelly im Jahr 1992 durch ihren Lebensgefährten Gert Bastian - dies auch insofern, als Schilling insbesondere in der zweiten Hälfte des Films die "Aktenzeichen XY"-Sendung immer wieder mit den gesellschaftspolitischen Spannungen der Siebziger- und Achtzigerjahre kontrastiert: Eine Phase, die heutzutage oft als Zeit der Revolte und des politischen Aufbruchs gekennzeichnet wird, zugleich aber einen einzigartigen konservativen Backlash mit sich brachte: Die Bundestagswahl 1982 verhalf nicht nur den Grünen erstmals zum Einzug in den Deutschen Bundestag, sondern auch Helmut Kohl zur Kanzlerschaft.

Was bei Porträtfilmen etwa von Schauspielern oft nervt - die beleghafte Illustration von Lebensstationen mittels neu kontextualisierter Filmausschnitte -, nimmt sich in Schillings Film als Stärke aus: Er besteht zum größten Teil aus montiertem "Aktenzeichen XY"-Material, auch da, wo es um Wohnstuben-Biedermeier, Arbeitsalltag und kindliche Erlebniswelten geht. Schließlich ist es gerade die zentrale These des Films, dass "Aktenzeichen XY" bundesdeutsche Seelenlandschaften quasi kolonisierte und mit filmischem Schwarzweiß verplombte. Entsprechend (bewusst) bedrückend und beengt wirkt "Diese Sendung ist kein Spiel" über weite Strecken.

Sicher ist es etwas problematisch, gesellschaftspolitische Phänomene und deren Austauschverhältnis zur jeweiligen Medienkultur auf einen einzigen Player zu fokussieren - unerwähnt bleibt zum Beispiel die "Edgar Wallace"-Kinowelle der frühen Sechziger, die die Kriminal-Grusellust der Bundesdeutschen medial präkonfigurierte. Serien wie "Der Kommissar" (ab 1969) und "Derrick" (ab 1974) boten zu "Aktenzeichen XY" fiktional-flankierendes Material mit ähnlichen Motivlagen (die erste ausgestrahlte "Derrick"-Folge "Waldweg" handelt von auf dem Weg durch den Wald vergewaltigten und ermordeten Internatsschülerinnen) und bieten im Sinne eines hauntologischen BRD-Noir-Exorzismus einen reichen Fundus.



Auf die Nähe zum zeitgenössischen Bahnhofskino - oder zumindest zur Sexwelle im BRD-Kino um 1970 - kommt Schilling in einer Randbemerkung ebenfalls zu sprechen: Inwiefern May Spils dazu aufgerufene, eher naiv-gutmütige Gammler-Komödie "Zur Sache, Schätzchen" hierfür das beste Zitatmaterial darstellt, ist fraglich - vielleicht war das einfach eine Sache greifbarer Lizenzen. Auffällig sind eher Parallelen zu den "Schulmädchen-Report"-Filmen, die ab 1970 die bundesdeutschen Leinwände in Beschlag nehmen: Die durch vermeintliche Seriosität gerahmte Episodenhaftigkeit dieser Filme, die einem so neugierigen wie empörungswilligen Publikum eher kleinbürgerlicher Facon die Verkommenheit der Realität vor Augen führten, wirkt nach Schillings materialreichem Film wie von "Aktenzeichen XY" übernommen - zumal der typische Voiceover-Kommentar beider Formate ähnlich knarrt (der Verdacht, es könnte sich um denselben Sprecher handeln, hält einer schnellen Google-Recherche allerdings nicht stand). Auch zählt die modrige Auffassung, Vergewaltigungsopfer hätten sich ihre Lage im Wesentlichen selbst zuzuschreiben, zu den etablierten Standards der Report-Filme einschlägigen Charakters.

Aber: Das sind nur flankierende, keineswegs kritische Hinweise. Schillings Essay verfolgt keine enzyklopädisch erschöpfende Mentalitätsschau, sondern ein im Kern autobiografisches Projekt: Die Prägung eigener Seelenlagen (und der Frauen ihrer Generation) durch das zweifelhafte Medienprojekt eines männlichen Gerne-Groß und einer hegemonialen Ideologie. Darin entwickelt dieser behutsam sich vorantastende, unbedingt sehenswerte Film enorme Stärke.

Thomas Groh

Diese Sendung ist kein Spiel - die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann - Deutschland 2023 - Regie: Regina Schilling - Laufzeit: 90 Minuten. (Die Doku läuft am 10. August um 23 Uhr im ZDF und ist ab 10 Uhr morgens in der ZDF-Mediathek abrufbar.)