Tagtigall

Mutterlose Muttersprache

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
26.06.2023. Das Haus für Poesie, das gemeinsam mit der Akademie der Künste alljährlich das internationale Poesiefestival ausrichtet, hatte dieses Jahr die koreanische Dichterin Kim Hyesoon eingeladen, die "Berliner Rede zur Poesie" zu halten. Außerdem gab es ein Poesiegespräch mit Don Mee Choi, Sool Park und Uljana Wolf. Kim Hyesoon ist derzeit die berühmteste poetische Stimme ihres Landes. Nun gilt es, sie auch in Deutschland zu entdecken.
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Kim Hyesoon beim Berliner Poesiefestival 2023. Foto: Marie Luise Knott


Heute haben wir die brutale Herrschaft im Korea der Yushin-Diktatur fast vergessen. Damals, Ende der 1970er Jahre, arbeitete Kim Hyesoon, geboren 1955, in einem Verlagshaus, wie sie in Berlin erzählt. In regelmäßigen Abständen musste sie Druckfahnen zur Zensur ins Rathaus tragen. Einmal kam sie zu ihrem Entsetzen mit den vollständig geschwärzten Fahnen eines Theaterstücks zurück. Eine Hiobsbotschaft. Umso erstaunter war sie, als sie kurz darauf von dem Autor zur Aufführung des geschwärzten Stückes eingeladen wurde. Sie saß im Zuschauerraum, ihr flossen die Tränen, während sie zusah, wie die Darsteller wortlos spielten. Nicht stumm, sondern verstummt. Gleichzeitig vernahm sie Stimmen, Schreie und Laute, die aus den Mündern der gequälten Darsteller zu kommen schienen - und die unterdrückten Proteste der Zuhörer.

Diese frühe Erfahrung enthält den Kern von Hyesoons Poetik. Es geht in ihrer Dichtung nicht um kunstvolles Verseschmieden, nicht um die dichterische Auseinandersetzung mit eigener Erfahrung. Ihre Dichtung existiert aus dem Wissen heraus, dass den Ohnmächtigen die Sprache versiegt. Und so stellt sie in ihrer Poesie der versiegenden und versiegten Sprache, einen Raum bereit. Sie stellt ihren Körper zur Verfügung, hört zu, hört hin, hört, was ohne sie nicht zu hören wäre. Mit ihren Versen bewohnt und begeistert sie gewissermaßen die Räume der Besiegten. Damit die Sieger zu siegen aufhören. "Motherless mother tongue" lautete der Titel ihrer Berliner Rede, "die mutterlose Muttersprache".

Kim Hyesoon folgt keinem Kanon, weder einem traditionell koreanischen noch einem westlichen; und sie kontert nichts. Folgt ganz der eigenen Spur. Freiheitlich, weiblich und ökologisch.

Gedichte zu machen, heißt, Geisterstimmen zu hören, sagte sie in Berlin. Durch den Rhythmus könne alles und alle neu in Bewegung geraten - die Unterdrückten, die Zurückgewiesenen, die mehrfach Ausgeschlossenen, die vielfach Gemordeten. Und vor allem: die Frauen. Das "Buch der Toten", das 2018 in Korea erschien, brachte ihr international den Durchbruch. Für die englische Übersetzung ("Autobiography of Death", Übersetzung von Don Mee Choi) wurde sie 2019 mit dem hochrenommierten (kanadischen) Griffin-Poetry-Preis ausgezeichnet.

"Das Buch der Toten" ist ein Langgedicht, nach Tagen gebaut. Es umfasst 49 Tage, denn nach der buddhistischen Vorstellung weilt die Seele noch 49 Tage auf der Erde, bevor sie weiter in den Kreis der Wiedergeburten wandelt. So versammeln sich darin Stimmen, die, schon gestorben, noch eine Weile weitersprechen. Wenn sie von anderen Koreanern gefragt wird, warum sie schreibe und was das alles zu bedeuten habe, sagt sie, dass sich ihre Stimme, weil sie hier nicht leben könne, einen Geist erschaffen habe. "Ich habe drei Fehler gemacht", zitiert sie in ihrer Rede die Dichterin Nanseolheon, die in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts lebte: "In diesem Land geboren zu sein. In diesem Land als Frau geboren zu sein. Geheiratet zu haben." Ein Bedauern, dem sich Kim Hyesoon verbunden fühlt.

Die tägliche Gewalt gegen Frauen durchzieht auch Kim Hyesoons Werk.

Dein toter Geliebter will dich treffen. Er will dich treffen im Café. Er will dich treffen auf der Toilette. Er will dich treffen in der Klinik. Er will dich treffen im Ausland. Wenn das nicht geht, will er dich treffen im Bett. Nur ganz kurz. Du kannst mir nicht aus dem Weg gehen. Lehn dich aus dem Fenster. Nur ganz kurz. Du kannst mir nicht aus dem Weg gehen.

Die Stimme, die hier redet, ist anfangs eine Stimme aus dem OFF, die mit dem "Du" eine Frau adressiert, deren Geliebter gestorben ist. Doch gleichzeitig ist es die innere Stimme der Geliebten selbst. Gespenstisch wandelt sich im Laufe der Verse die Perspektive, und der tote Geliebte spricht selbst: "Du kannst mir nicht aus dem Weg gehen." Die Macht der Männer.

Kim Hyesoon sucht die Leerstellen der Muttersprache auf. In ihrer Poesie, so erläutert der Dichter und Übersetzer Sool Park, spielt sie unter anderem mit der Tatsache, dass das Subjekt in der koreanischen Sprache oft unausgesprochen bleibt. Die Pronomen fehlen. Meist ist das Subjekt durch den Kontext eindeutig. Aber Kim Hyesoon nutzt die Ambiguität der Grammatik. Manchmal, so scherzte sie im Berliner Poesiegespräch, wisse sie selbst nicht, wer das Subjekt ist - vielleicht eine 6. oder 7. Person ...

Wir wissen zu wenig von koreanischer Dichtung. Wir wissen zu wenig von den Mythen, den Gestalten und den Klängen, aus denen sie sich speist. Doch wer einmal den Kosmos Kim Hyesoons betreten und sich hineingehört hat, bleibt hängen. Was für Geschichten - so fremd und doch so nah. So traurig und doch so leicht. Urbane Szenarien, Küchenszenen, Liebesgedichte, Totengespräche.  Wer kennt schon hierzulande die bereits genannte Nanseolheon, die wie die Männer ihrer Zeit auf Chinesisch dichtete, obwohl Frauen damals auf Koreanisch in der Lautschrift Hangeul zu schreiben hatten? An ihr faszinierte Hyesoon offensichtlich, dass sie es geschafft hat, sich in ihrer Dichtung aus der weiblichen Misere zu erheben - sich einen imaginierten Mond der Freiheit zu erobern.

Einmal, so erzählt Kim Hyesoon in Berlin, wurde sie im Büro des Zensors geschlagen, weil sie sich weigerte, eine bestimmte Auskunft zu geben. Sieben Mal hintereinander wiederholte sich die Szene. Am Abend, zu Hause, begann sie in das eigene stumme Weinen hinein, Stimmen zu hören. Gedichte, die sie niederschrieb. Eines der Gedichte bestand offensichtlich nur aus Schimpfwörtern. Wie mit einer Pinzette habe sie sich aus dem Raum mit der Ohrfeige herausgehoben und sich selbst einverleibt, sodass es aus ihr heraus "zu murmeln" begann, erzählt sie. - Dichtung, ein geisterhaftes, ichloses Murmeln?

Ein anderes Gedicht aus dem Buch der Toten ("Auf dem Weg zur Arbeit / Tag Eins") handelt von einer Frau, die in einer U-Bahn tot zusammenbricht.

Man hat dich aus der Bahn geworfen. Es scheint, dass du jetzt stirbst.
Obwohl du stirbst, denkst du etwas. Obwohl du stirbst, hörst du etwas.

Gott, was ist mit der los? Menschen, An dir vorbei...
...
Kurz darauf zerrt man deine Handtasche weg,
Zwei Schüler kommen, wühlen in deiner Hosentasche.
Tritte. Das Klicken einer Kamera.
Dein Sterbebild ruht jetzt in den Handys der Jungs.

Dichterinnen gibt es in der Geschichte Koreas nur wenige. Sogar die Sprache kennt nur zwei Kategorien: "den" Dichter und "den" weiblichen Dichter. Ein Wort wie "die Dichterin" ist in der Sprache nicht vorgesehen. Mit ihrer radikal weiblichen Poetik eröffnet Kim Hyesoon der Dichtung neue Wege. Nicht nur in Korea.


***

P.S. Das Poesiefestival beauftragte Sool Park und Uljana Wolf, einige Gedichte von Kim Hyesoon ins Deutsche zu übersetzen, darunter auch die beiden, aus denen ich im Text zitiere.

Zum Weiterlesen

Kim Hyesoon, Tongueless Mother Tongue, ins Englische übertragen von Helen Cho, ins Deutsche von Simone Kornappel, hg. von Matthias Kniep und Katharina Schultens, Göttingen 2023, 60 Seiten. Die Übersetzung ist leider stellenweise undeutlich, was wohl unter anderem der bereits beschriebenen "offenen Subjektzuordnung" geschuldet sein dürfte. Der koreanisch-deutsche Sprachdialog harrt der Erweiterung.

Kim Hyesoon, Autobiography of Death, aus dem Koreanischen von Don Mee Choi, New Directions, NY, 2019.

Zum Weiterstöbern im Netz:

Die Poetry Foundation hat vor kurzem eine extra Abteilung für Kim Hyesoon eingerichtet - "Doing Poetry, A Kim Hyesoon Folio" - mit Essays, Gedichten und Reaktionen auf ihr Werk von zeitgenössischen Autoren. 

Kim Hyesoons eigene Webseite versammelt großartiges Material zur Dichterin, darunter alle Bücher, weitere Reden der Autorin sowie poetische Essays.

Mehr zu Nanseolheon bei Wikipedia