Tagtigall

Vereiste Jamben spucken

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
25.04.2023. "Winterpoem 20/21" heißt der neue Band der russischen Dichterin Maria Stepanova, niedergeschrieben, wie die Jahreszahl sagt, in den Hochzeiten der Pandemie. Ein Langpoem, das aus zwei Teilen besteht. Zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse morgen abend erhält die für ihr Werk vielfach ausgezeichnete Dichterin den Preis für Europäische Verständigung.
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Im Traum sieht Ovid in Tomis
Die weißen Gänse von Rom.

Hier wie an vielen anderen Stellen im ersten Teil legt Maria Stepanova explizit Spuren zu Ovidius Naso, dem römischen Dichter, der - wohl weil er den Kaiser Augustus mit seinen Versen beleidigt hatte - aus Rom in das entfernte "Tomis" verbannt worden war, ein Ort am Schwarzen Meer, der heute in Rumänien liegt. In der Verbannung hatte er zunächst Klagelieder, "die Tristien" verfasst, später die "Epistulae ex Ponto", Briefe vom Schwarzen Meer - beide Bände geschrieben in der dringenden Hoffnung, mit seinen Versen die Herrschenden zu erweichen und eine Rückkehr nach Rom zu erreichen. Doch er starb im Exil. Seine Briefe sind durchzogen von Bildern der Kälte, des Schnees, des Winter, der Vereisung - symbolischer Ausdruck seiner Einsamkeit und Isolation. Ein Leben, wie aus der Zeit gefallen. Kann in politischen Eiszeiten auch Inspiration vereisen?

Maria Stepanova ist Dichterin, Essayistin und politische Denkerin. Über Jahre hat sie in Russland im Internet "colta.ru" geleitet, eine freie - inzwischen geschlossene - Kulturzeitschrift, der zunehmenden Repression zum Trotz. Zu Beginn des Lockdowns im März 2020 fand sie sich plötzlich in Isolation auf ihrer Datsche nahe Moskau wieder. Rundherum Schnee, Kälte, Stille. Kurze Zeit später wurde die Opposition in Belarus vertrieben und inhaftiert, russische Oppositionelle wurden in Lager verbracht. Vereisende Zeiten also, die offensichtlich für Stepanova in Ovids Beschreibungen aus Tomis ein Echo fanden. Doch wo Ovid die Ungerechtigkeit beklagte, die ihm und seinem dichterischen Ego widerfuhr, nimmt Stepanova dessen Bilder - und nicht nur seine - als Folie, um der eigenen Isolation in Zeiten der Pandemie einen Hallraum zu verschaffen. Wie konfrontiert man den Zeitenbruch und die zunehmende "Vereisung" der Sprache? "Und da schlief alles ein", heißt es einmal, oder: "und da fror alles ein" - die Friseurin im Kittel nach Feierabend, die Tram vor einer gelben Ampel, die Schlagstöcke der Polizisten in der Winterluft. Ein bedrückendes Bild, fast wie einem bösen Fluch aus dem Märchen entsprungen.

Auch Ovids brennende Sehnsucht nach seinem früheren Leben, das ihm so jäh genommen ward, hallt in Stepanovas Poem hinein.

Und doch, wenn ich bloß daran denke, wie ihr dort alle
Von einer Dichterlesung zur nächsten rennt,
Mit wehenden Alkoholfahnen, die Köpfe bekränzt -
Und keiner, der zwischen all der Bekenntnislyrik
Aufblickt und fragt: "Was macht eigentlich Naso?"
Oder zumindest sein Glas hebt auf die, die auf See sind -,

Möchte ich vereiste Jamben spucken

Wo "Bekenntnis"-Verse erklingen, "vereist" die Sprache. Eine universelle Erfahrung.

Ein Fremder bin ich, Barbar, kein native speaker.
ein fauler Strick mit inzwischen schlohweißem Haar.
Meine toten Lippen murmeln getische Wörter,
Meine toten Füße betreten gehärtetes Wasser.
...
Fische stecken im Eis fest mit offenem Mund.
Keiner da, der sie rauszieht, Keiner, der mich versteht.

Das Bild vom Eis zieht sich durch die Literatur Russlands. Die Futuristen etwa sprachen vom "Eiskasten des Kanons". Der Lügenbaron von Münchhausen, den Stepanova im "Winterpoem 20/21" im Motto zu Wort kommen lässt, begegnete auf seiner Russlandreise bekanntlich einem Postillon, dem die Töne des Horns eingefroren waren.

Vor Stepanova hatten bereits zahlreiche russische Dichter, allen voran die verbannten bzw. exilierten Schriftsteller Alexander Puschkin, Osip Mandelstam und Joseph Brodsky Ovids Verse zitiert. Und auch sie sind hier, in Stepanovas "Winterpoem", gegenwärtig. Wenn die Fische an dieser Stelle im Poem mit offenen Mündern im Eis stecken, bleibt gegen alle Verzweiflung die Idee präsent, dass die "vereisten Jamben", die derzeit zu keinem Ohr vordringen, eines fernen Tauwettertages zu einer neuen Verständigung beitragen könnten.

Die russischsprachige Ausgabe des "Winterpoems" erschien Anfang 2022. Heute, mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, ist die Bedrohlichkeit gewachsen. Mit den neuen Gesetzen und dem wachsenden Terror sind immer mehr Menschen in Russland ins Schweigen verbannt. Das Wissen darum prägt unsere Lektüre heute.

Es kennzeichnet große Werke der Literatur, dass es den Autorinnen oder Autoren gelingt, aus der Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft herauszuspringen und so auch das Diktat der Gegenwart zu schwächen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden gleichwertig; Fragen der Gegenwart bekommen auf diese Weise eine andere Gegenwart. Eine derart "zeitlose Zeit" erschafft Stepanova in ihrer Lyrik nicht zuletzt dadurch, dass sie mit der ihr eigenen poetischen Unbedingtheit Klänge, Rhythmen, Bilder und Erfahrungen aus allen Welten und Zeiten in ihre Dichtung hinein gewissermaßen "auftaut". "Lebte einst ein Hase mit seiner Fuchsfrau / Am blauen Meeresstrand / In einem alten Erdbau / Bis sich was Besseres fand:", beginnt eines der Klangfragmente märchenhaft. An anderer Stelle erklingt die Kraft chinesischer Lyrik: "Abend. Die blauen Berge verschweben im Dämmer. / Unter den Wintersternen / Steht tief verschneit unser kleines Haus."

Die Arbeit am Gedächtnis durchzieht das Werk dieser Dichterin. In einem Land wie Russland, in dem - so die Propaganda -  die Vergangenheit die Zukunft beherrscht und definiert, ja sich ihr nachgerade aufzwingt, ist die Frage, welche Gewalt die Vergangenheit über uns hat, zentral. Stepanovas Kunst geht weiter. Sie fragt danach, welche Kraft wir der Vergangenheit geben wollen und wie man die Betrachtung der Vergangenheit re-pluralisieren kann. Eine politische und eine poetische Frage zugleich, die Stepanova auch ästhetisch in den Blick nimmt. Ihrer Überzeugung nach ist die Vergangenheit polyglott und polyphon. Sie hat viele Stimmen und viele Gesichter; und auch die Literatur hat ein eigenes Gedächtnis, das sich immer neu befragen lässt.

In dem Gedichtband "Der Körper kehrt wieder" hatte sie bereits aus Protest gegen den Krieg im Dombas die auftrumpfende mythendurchtränkte Kriegsrhetorik aus Literatur, Film und Poesie einer Rückschau unterzogen. Nun also neue Perspektiven.

Im zweiten Teil des "Winterpoems" kommen Frauenstimmen zu Wort - Briefe einsamer und verlassener Frauen aus der griechischen und römischen Mythologie, darunter Penelope, Dido und Ariadne. Schon Ovid hatte ihnen in seinen Heroiden eigene Äußerungen angedichtet, allerdings aus männlicher Sicht. Stepanova nimmt Ovid "die Fernbedienung" aus der Hand, wie sie das nennt, und gibt so den Frauen ein Selbstbewusstsein, das ihnen die Literaturgeschichte allzu lange verweigert hatte. Auch das ist Teil ihrer Arbeit am (literarischen) Gedächtnis.

Ein kriegerisches Vokabular durchtränkt viele der Äußerungen: "Bei mir ist alles in bester Schlachtordnung", notiert eine, die hier A. genannt wird. Und auch wenn das lyrische Ich der Überzeugung ist, dass man besser nicht "den Zorn eines Mannes" weckt, / Welcher an Macht den Göttern gleicht", heißt es an anderer Stelle. "Wir drehten die Machtverhältnisse um und um", und später im Buch schreibt Dido an Aeneas: "Wer warst du schon, ein Flüchtling warst du, der nicht mehr weiß, wie er heißt." Schnee, Krieg, Flüchtlinge, Sturmgewehre, Küstenwachboote und gesunkene Schiffe geistern durch die Zeilen dieser Frauen, die sich hier den jahrhundertealten Zuschreibungen verweigern.

Alles normal, wie bei meinen Freundinnen auch: der Mann
Der einen ging in die Stadt, um Arbeit zu suchen - weg war er;
Der andere hat sich anwerben lassen von der Armee,
Weg war auch er. Ich lebe, wie man so lebt:

Maria Stepanova dichtet, wie sie einmal sagte, aus dem Klang heraus; eine solche Dichtung zu übersetzen ist eine Herausforderung. Verse bilden schließlich (bewusst oder unbewusst) Reihen von Vokalen und Konsonanten. Dass der Chor der Stimmen auch im Deutschen überzeugt, liegt an der großartigen Übersetzung von Olga Radetzkaja. Sie weiß, dass man im Übersetzen immer einen Teil der Rhythmen und Assoziationen verloren geben muss, und hat wie als Antwort darauf, den Text mit deutschen Alliterationen, Klangräumen und Stimmen angereichert. Einmal beispielsweise schwingt klanglich und rhythmisch eine Zeile aus dem Erlkönig unscheinbar hinein ("... wozu/ Schminkt sie so früh ihr Gesicht"), ein andermal vielleicht die Winterreise ("dass ich geweinet hab").

Das "Winterpoem 20/21", 2022 in Russland erschienen, liest sich heute mit neuartiger Bedrängnis: "Diejenigen, deren Stimmen in diesem Text sprechen oder schweigen, durchleben einen gemeinsamen Winter, sie stecken fest wie Fliegen im Bernstein", sagt die Dichterin. In dem Maße, in dem dies unsere Epoche kennzeichnet, ist das "Winterpoem" ein Epochengedicht.

Mit Maria Stepanova wird erstmals in Leipzig explizit eine Dichterin mit dem Preis für europäische Verständigung ausgezeichnet. Eine großartige Entscheidung, denn in diesen sich verfinsternden Zeiten kann gerade die Poesie, in der die Regeln der Logik ausgesetzt sind, Räume der Verständigung öffnen. Deshalb wohl lobte die Jury in ihrer Begründung, mit welcher "Unbedingtheit" Stepanova auf der poetischen Wahrnehmung der Welt besteht: "Die Gedichtzyklen - so liedhaft wie erzählerisch - führen eindrücklich vor, wie sich in aktuelle Poesie ein waches Geschichtsbewusstsein einschreibt." Und nicht nur das. Mit ihrem Humor und mit allen Mitteln ihrer Kunst schafft sie der bedrängenden Wirklichkeit einen lebendigen Gegenraum.

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Maria Stepanova, "Winterpoem 20/21", aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Suhrkamp 2023, 120 Seiten, 22 Euro.

Dies., "Mädchen ohne Kleider". Gedichte, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Suhrkamp 2022, 69 Seiten, 23 Euro.

Dies., "Der Körper kehrt wieder". Gedichte, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Suhrkamp 2020, 138 Seiten, 22 Euro.

Dies., "Nach dem Gedächtnis". Ein Romanessay, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Suhrkamp Taschenbuch 2020, 574 Seiten, 14 Euro.