Vorgeblättert

Darf ich dir das Sie anbieten?

Von Katharina Hacker
02.10.2019. Es gibt Zeiten, in denen die Sprache zu nichts da zu sein scheint, als die Position zu bestimmen, dies und jenes genau abzugrenzen und sich von anderen. Andererseits aber ist Sprache dazu da, Platz zu schaffen, Gerümpel beiseite zu schaffen, damit man endlich wieder atmen kann. Minutenessays
Katharina Hackers Buch "Darf ich dir das Sie anbieten? Minutenessays" erscheint am 14. Oktober (alle Angaben unten). Wir danken der Autorin und dem Berenberg Verlag für der Erlaubnis, einige der Minutenessays hier zu veröffentlichen. D.Red.

============



Wetter


Man redet über das Wetter, es geht den Bach runter, sagt man, der Winter kein Winter mehr, die Sommer zu heiß und zu trocken, die Nächte zu kalt, der Globus dreht sich, das ist auch alles, und der Philosoph Bertrand Russell bemerkte schon zum Huhn, das jeden Morgen sein Futter erwartet, jedoch eines Tages geköpft wird, es hätte sich besser einen genaueren Begriff von Induktion gemacht. Das Wetter ist zum Fürchten, oder anders herum, wenn man sich eh fürchtet, warum nicht auch vor dem Wetter. Harmlos ist das Thema nicht, seit wir denken, das Wetter sei weder launisch noch gottgegeben. Wir haben es gemacht, und was wir angerichtet haben, ist schlimmer als ein Gottesgericht.
Wir sind uns selbst ausgeliefert, in uns sind wir das schon immer, jetzt sind wir es auch in der Welt. Das Werk unserer Phantasie quält unsere Phantasie.


Versuchen

Es gibt Zeiten, in denen die Sprache zu nichts da zu sein scheint, als die Position zu bestimmen, dies und jenes genau abzugrenzen und sich von anderen.
Andererseits aber ist Sprache dazu da, Platz zu schaffen, Gerümpel beiseite zu schaffen, damit man endlich wieder atmen kann.
So sind Essays gemeint, und wenn man dann von Versuchen spricht, hat das eine zweite Absicht: eine Verlockung aus dem enger werdenden Geflecht hinaus.


Meinung

Daß es als selbstverständlich und geradezu natürlich gilt, eine Meinung zu diesem und jenem zu haben, darüber kann man sich gar nicht genug wundern. Wie lustig, möchte man sagen. Eine Meinung, schon wieder eine !


Wie lange denn?

Gegen das Sterben von alten Leuten ist nichts einzuwenden, nur dagegen, daß sie auch anderntags noch tot sind und auch wochenlang danach, gar nicht mehr aufhören damit. Warst lange genug tot, nun komm! – möchte man sagen, es hilft aber nicht, und das ist der Kummer.
Andererseits hat es bei Alten auch etwas Großzügiges, wenn man noch einmal (als wäre Neujahr mit Vorsätzen und Guten Wünschen und Mahnungen auch) sich fragt, wer man nun sein wird, wo diese oder jener tot – und will ich nicht vielleicht, da sie nun davon und die Geltung ihres Blicks disponibel, doch einen roten Mantel kaufen, nach Brindisi fahren oder einfach früh schlafen gehen, ohne einen gestrengen Anruf fürchten zu müssen und gescholten zu werden?
Gute Tote geben mit ihrem Tod Wege frei.
So stünde alles zum Besten. Blieben sie nur nicht so ewig tot.


Blühendes Alter

Es gibt einen guten Grund, warum man gebrechlich und schäbig wird: Nichts nämlich macht dies Debakel wett, außer Witz, Charme, Großzügigkeit.
Das Alter ist die Zeit, aufzublühen – vorher blüht's sich von selber.


Authentisch

Inszeniert sollte im Leben viel mehr sein, das Authentische neigt zu Socke und Trainingshose.
Aus der Entfernung sieht man andere besser und sich selbst auch, was nicht schaden kann – immerhin die Perspektive, die man mit anderen teilt.
Ist es ein erfreulicher Anblick, der sich bietet? Aus der Ferne sieht man, wie segensreich Lippenstift ist oder delirierender Charme über einem Abgrund.


Bei Trost!

Als ich meine Patentante, die mit Anfang achtzig ihren Mann verlassen hatte, mit gewisser Strenge fragte, ob das habe sein müssen, antwortete sie:
Du hast ja keine Ahnung. Sechzig Jahre, und jeden Tag verheiratet. Ein Wunder, daß man noch bei Trost ist!
Sie pausierte und sagte mir, die mit Anfang dreißig allein lebte: Du, du bist frei wie ein Vogel. Pausierte und ergänzte: Wie ein Vogel auf der Stange!


Unberechenbare Freundlichkeit

Erstaunlich, daß man täglich andere erheitern kann, nicht nur die nahen, auch ganz unbekannte Menschen, deren Müdesein sich mühelos durchbrechen läßt durch etwas Unerwartetes, eine unberechenbare Freundlichkeit, ein ungefragtes Geschenk, eine nebensächliche Gabe, eine überraschende Anteilnahme.
In der Manteltasche solle man für den Geliebten stets einen Bleistift von Koh-i-Noor tragen, schreibt Milena Jesenská.
Für griesgrämige Schalterbeamte lohnt es, einen Marienkäfer aus Schokolade einzustecken, oder für eine bleiche Verkäuferin, oder für einen verregneten Verkehrspolizisten.
Komplimente gehören auch zu den Geschenken.
Und wie man es bedenkt, ist erstaunlich, wenn man es nicht tut: anderen den Tag angenehmer machen.


Immer das gleiche

Ich nehme Idioten, die mir nicht erlauben, sie zu ignorieren, vor allem übel, daß ich ihretwegen immer das gleiche sage, noch schlimmer, ein ums andere Mal das gleiche denke. Es ist nicht fruchtbar, darüber nachzudenken, warum es keine Ehe zwischen Menschen des gleichen Geschlechts geben solle. Es ist nicht fruchtbar, darüber nachzudenken, ob Menschen, die in Not sich mit ihren Kindern zu retten versuchen, Wirtschaftsflüchtlinge sind.


Kuscheltiere

Auch Kuscheltiere sind bedeutsam.
In ihrer Gestalt nehmen sie Anteil an der Welt der Lebendigen. Mehr noch als beim Tier ist klar, daß wir für sie antworten müssen. Leihen wir ihnen nicht unsere Stimme, bleiben sie stumm.
Mit den Kuscheltieren meiner Kinder rede ich, mit einigen selten, mit anderen häufig, eine Frage der Sympathie. Der alten Bärin, die schon mein Bär war, gebührt ein Abschiedswort vor einer längeren Reise und eine Begrüßung bei der Rückkehr. Ich richte das Wort an das unklare Geschöpf, das ein Freund aus Paris für meine Tochter brachte. Und zweifellos sind die beiden unabdingbaren Begleiter meiner Töchter Schaf und Schnufi nicht nichtswürdig.
Anzeichen dafür, daß sie mir meine Aufmerksamkeit danken, suche ich nicht. Es kommt vor, daß ich sie in eine Tasche stopfe. Das würde ich mit dem Hund nicht tun. Andererseits habe ich den Hund einmal am Eisladen vergessen, die beiden Stofftiere vergessen wir nie.
Sie, auf die wir projizieren, ohne daß sie respondierten, markieren eine Grenze. Wir sind gleichsam aller Verpflichtungen ledig ihnen gegenüber, sie sind ja totes Ding.
An ihnen lernt man deswegen, daß der Respekt, den wir anderen zollen, sich an uns selber mißt. Ob wir sorgsam sind, ist die Frage. Ob wir unsere Ansprache jederzeit ernst nehmen. Ob wir den Blick, den wir schenken und zu erhalten hoffen, würdigen. Ob wir darauf beharren, auch wenn es niemals Antwort geben wird, weil es unsere Seele ist und unsere Würde, auf der wir beharren müssen. Ob wir begreifen, daß alle Forderungen, die wir stellen, Forderungen an uns sind, die einzigen, mit denen wir jeden Moment unserer Existenz teilen.
Die Kuscheltiere sitzen nebeneinander und halten ihre Augen auf mich gerichtet. Auch wenn sie auf Zuruf nicht kommen und nicht den Kopf heben, Namen haben sie doch.


Sie II

Selbst meine Eltern würde ich noch siezen, wenn's nicht zu spät wäre, sie bald neunzig, ich über fünfzig Jahre alt, fängt man da noch an mit derlei, und doch, gerade jetzt wäre es passend, vor dem Abschied, der sich glücklich hinauszögert, gerade da, wo der Blick auf die anderen freier wird, neugieriger auch, wo gehen sie jetzt wohl hin, wie war es vorher, ich habe ja viel zu wenig daran gedacht, in achtloser Nähe, auch oft gereizt, und jetzt wäre dies Sie eine Geste verflogenen Grolls, größerer Achtung aus der Ferne, ja, gerade jetzt, Zeichen der Annäherung.
Darf ich dir das Sie anbieten ?
Nein, das gehört sich nicht. Auch Freunden zuweilen ein Sie, zwischenrein meinetwegen, wieder in die Ferne rücken, in diese verwunderte, auch traurige Neugierde, die zum Älterwerden gehört, die auf ihre Weise bebt. Sind Sie das also ? Bist du's ? Sehen wir uns wieder ?


Hund

Hunde sind Vorbilder in Wiedersehensfreude. Man kann sie lästig finden, wenn sie herumhüpfen, man kann sie laut finden, wenn sie bellen, sie stinken auch, vor einigen muß man sich hüten, und häßliche Hunde gibt es zuhauf.
Aber sie sind ein Vorbild in Wiedersehensfreude. Ihnen steht der Jubel nicht nur ins Gesicht geschrieben, der ganze haarige Hund füllt schier den Raum mit seinem Glück über den einfachsten aller Vorgänge: Du bist wieder da.


Beizeiten

Sieht man um sich her, wie Leute nicht sterben, sondern noch weiterleben, wo es gar nicht mehr schön wird, gewinnt man den Eindruck, der Tod verteile Tickets, Fahrscheine, die alle den großen Nachteil haben, daß Sterben darauf steht, man lehnt sie deswegen gern ab. Und dann wieder fragt man sich, ob nicht doch dies Ticket, die Lungenentzündung etwa, geradezu ein Fahrschein erster Klasse gewesen wäre.


Wie sieht es aus?

Ausführung ist etwas für die, die sich auf eine Kunst verstehen. Vielleicht können auch nur sie wirklich meisterhafte Skizzen anfertigen.
Skizzen als Gedankenvorschläge oder als Frage, wie eine Sache beschaffen sei, müssen nicht ausgeführt sein, sondern rechtzeitig beendet.
Eine Skizze ist eine Weise, sich festzulegen, nämlich darauf, wie man etwas sieht, darauf, was man überhaupt gesehen hat. Dabei kann man merken, daß man eben gar nicht weiß, wie etwas eigentlich aussehe, zu dem Gegenstand zurückkehren und noch einmal nachsehen. Oder man zeichnet, um danach die anderen fragen zu können: Sieht es wohl so aus ?
Sich festlegen bedeutet dann nicht, sich abgrenzen gegen andere, sondern gemeinsam fragen, sich gemeinsam vergewissern.


Entgangenes

Immer wieder geht es darum, wie man sich zu dem stellt im Leben, was man verpaßt. Der Umgang mit Dingen, die einem entgehen, ist gerade so wichtig wie der mit dem, was einem zufällt.
Für ein Geschöpf der Möglichkeiten zählt ebenso, was sich nicht verwirklicht. Abwegig ist es dabei nicht, daß man sich auch über Dinge freut, die hätten sein können. Man kommt nur nicht immer darauf.


Evidenz

Mit Evidenz war es nie weit her.
Seit offenkundig unzuverlässig ist, was getreuliches Abbild zu sein schien, Foto- und Filmmaterial, ist es erst recht Zeit, sich auf Beschreibungen zu verlegen.

Katharina Hacker


Katharina Hacker: Darf ich dir das Sie anbieten? Minutenessays. 120 Seiten . Flexibler Leinenband,
fadengeheftet. 125 × 188 mm. ISBN 978-3-946334-57-6, EUR 18. (Bestellen bei buecher.de)