Vorgeblättert

Alai: Roter Mohn, Teil 2

16.02.2004.
In diesem Augenblick begann ich herzzerreißend zu weinen. Die Frau des Fürsten hatte keine Milch mehr und versuchte immer noch, mit ihren leeren Brüsten dem idiotischen Sohn den Mund zu stopfen. Mein Vater stampfte mit seinem Stock hörbar auf den Boden und sagte: "Weine nicht, nun hast du eine Amme." Als hätte ich verstanden, hörte ich auf zu weinen. Die Amme nahm mich aus den Armen meiner Mutter entgegen, und ich fand ihre vollen Brüste auf Anhieb. Ihre Milch sprudelte wie aus einer Quelle, warm und süß. Ich schmeckte einen Hauch von Schmerz sowie den Duft wilder Blumen und Gräser weiter Ebenen. Die Milch meiner Mutter dagegen war wie ein Bündel farbenfroher Gedanken, die mein kleines Hirn zum Bersten füllten.
           Mein Magen war bald bis zum Rand gefüllt, und als Ausdruck meiner Zufriedenheit entleerte ich meine Blase in den Armen der Amme. Als ich ihre Brust freigab, wandte sie den Kopf zur Seite und weinte. Es war noch nicht lange her, dass die Lamas für ihren kleinen Sohn die Totengebete gelesen, ihn in Rinderfelle gelegt und am Grunde eines tiefen Sees bestattet hatten. "Was für ein Unglück!", sagte Mutter.
           Die Amme antwortete: "Herrin, verzeiht mir dieses eine Mal, ich konnte nicht an mich halten." Mutter befahl ihr, sich selbst zu ohrfeigen.
           Inzwischen war ich dreizehn. In all diesen Jahren hatten meine Amme und die anderen Bediensteten tiefen Einblick in die Geheimnisse der Fürstenfamilie gewonnen und waren längst nicht mehr so gehorsam wie früher. Auch meine Amme hielt mich für blöd und sagte oft in meiner Gegenwart: "Herren, ha! Diener, ha!" Damit stopfte sie sich etwas, das sie gerade zur Hand hatte, in den Mund - etwas Deckenfüllung aus Schafwolle oder die Seidenfäden eines Kleidungsstücks - und spuckte es mit viel Speichel gegen die Wand. Seit ein, zwei Jahren schaffte sie jedoch keinen so hohen Bogen mehr. Darum spielt sie jetzt einfach eine alte Frau. Als ich nun laut zu schreien und zu weinen anfing, kam sie hastig herbeigehumpelt: "Bitte, Junger Herr, lassen Sie das nicht die Herrin hören."
           Dabei weinte ich, weil es mir Spaß machte. "Junger Herr, es schneit!", sagte die Amme. Was hat der Schnee mit mir zu tun? Aber ich hörte auf zu weinen. Vom Bett aus wirkte das kleine Fenster wie ein Bilderrahmen um den atemberaubend blauen Himmel. Als sie mich hochhob, um mir den Schnee zu zeigen, der schwer auf das Geäst der Bäume drückte, wollte ich wieder anfangen zu weinen.
           "Schau, auch die Drosseln kommen aus den Bergen", sagte die Amme eilig.
           "Wirklich?"
           "Ja, sie kommen. Hör nur, sie rufen euch Kinder zum Spiel." Daraufhin ließ ich mich brav anziehen.
           Himmel, nun bin ich endlich bei den Drosseln angelangt - du meine Güte, sehen Sie nur den Schweiß auf meiner Stirn. In unserer Gegend hier gibt es nur Wilddrosseln, und wenn es bedeckt ist, weiß niemand, wo sie stecken. Sobald es aber aufklart, kommen sie geflogen und lassen ihren hellen, wohlklingenden Gesang hören. Singdrosseln können nicht gut fliegen, sie gleiten mehr von den Höhen herunter, und in sehr tief gelegenen Gegenden sieht man sie selten. Doch sobald es schneit, ändert sich das, dann finden sie in den Höhen, in denen sie leben, nichts mehr zu fressen und müssen in von Menschen bewohnte Gegenden herunterkommen.
           Der Schnee zwingt sie, die Berge zu verlassen.
           Als ich mit Mutter beim Frühstück saß, kamen ununterbrochen Leute mit einem Anliegen herein. Als Erster fragte der hinkende Verwalter, ob der Junge Herr nicht lieber warme Stiefel anziehen solle, um im Schnee zu spielen, und wenn der Herr im Haus sei, plädiere er dafür, dass ich die Schuhe wechselte. Mutter antwortete: "Verschwinde, du Krüppel, häng dir die Stiefel um den Hals und verschwinde!" Der Verwalter ging hinaus, ohne sich jedoch die Stiefel um den Hals zu hängen und ohne zu "verschwinden".
           Einen Augenblick später kam er zurückgehumpelt und berichtete, dass die Leprakranke, die man aus der Festung in die Berge gejagt hatte, im Schnee nichts mehr zu essen gefunden und sich an den Abstieg gemacht habe.
           Mutter fragte hastig: "Wo ist sie jetzt?"
           "Sie ist auf halbem Weg in eine Wildschweinfalle getappt."
           "Kommt sie da wieder heraus?"
           "Auf keinen Fall, sie ruft jetzt laut um Hilfe."
           "Dann begrabt sie eben!"
           "Lebend?"
           "Das ist mir egal. Jedenfalls darf eine Leprakranke auf keinen Fall unser Dorf betreten."
           Danach ging es ans Almosenspenden für den Tempel und ans Verteilen von Saatgut an die Leute, die unser Land bestellten. Im Messingbecken brannte ein Holzkohlenfeuer, und ich war nach kurzer Zeit schweißüberströmt.
           Nachdem sie die offiziellen Angelegenheiten erledigt hatte, verschwand normalerweise der müde, erschöpfte Ausdruck vom Gesicht meiner Mutter. Sie schien von innen zu leuchten, als sei ein Licht in ihr entzündet worden. Ich starrte so gebannt in ihr strahlendes Gesicht, dass ich ihre Frage nicht hörte. Das machte sie wütend, und sie wiederholte mit lauter Stimme: "Was, sagtest du, willst du?"
           "Die Drosseln rufen nach mir", antwortete ich.
           Da verlor die Frau des Fürsten die Nerven und stampfte wütend hinaus. Ich schlürfte langsam meinen Tee und nahm dabei ganz die Haltung eines wahren Aristokraten ein. Bei der zweiten Tasse Tee hörte ich aus der Heiligen Halle in der oberen Etage Glocken und Trommeln und wusste, dass die Frau des Fürsten für den Lebensunterhalt der Mönche sorgte. Wäre ich kein Idiot, hätte ich meine Mutter nicht ausgerechnet jetzt so enttäuscht. In den letzten Tagen kostete sie die Rechte des Fürsten so richtig aus. Vater war mit meinem älteren Bruder in die Provinzhauptstadt gegangen, um den Nachbarfürsten Wangpo anzuklagen. Mein Vater hatte kürzlich geträumt, dieser habe einen Korallenstein an sich genommen, der aus meines Vaters Ring gefallen war. Ein Lama sagte, das sei kein guter Traum. Und richtig, kurz darauf betrog uns ein Führer an der Grenze, indem er mit zehn seiner Diener auf das Gebiet von Fürst Wangpo überlief. Als mein Vater Leute mit kostbaren Geschenken hinüberschickte, wurde ihnen die Auslösung der Diener verweigert. Die nächste Delegation führte Goldgeschenke mit sich und bot an, nur den Kopf des Verräters zurückzukaufen und die übrigen Leute sowie das Land dem Fürsten Wangpo zu schenken. Das Gold wurde zurückgeschickt. Dazu kam die Nachricht, wenn Fürst Wangpo einen seiner verdienstvollen Männer umbrächte, würden seine Untergebenen genauso in alle Richtungen davonlaufen wie die von Fürst Maichi.
           Nun sah Fürst Maichi keinen anderen Ausweg mehr. Einer Truhe mit Einlegarbeiten aus Silber und Perlen entnahm er ein offizielles, hohes Siegel aus der Qing-Dynastie sowie eine Landkarte und ging damit zur Militärregierung der Provinz Sichuan, die unter der Kontrolle der Republik China stand. Er wollte sich beschweren.
           Die Familie Maichi bestand außer mir und meiner Mutter, außer meinem Vater und meinem älteren Halbbruder, der von einer anderen Frau war, noch aus meiner älteren Halbschwester und einem Onkel, der Kaufmann war. Diese beiden lebten in Indien, und später ging meine Schwester in das noch viel weiter entfernte England. Es hieß, das sei ein riesiges Land, und alle sagten, die Sonne gehe dort niemals unter. Ich fragte Vater, ob in großen Ländern immer Tag sei?
           Vater lachte: "Kleiner Dummkopf."
           Nun waren sie fortgegangen, und ich war sehr einsam. Deshalb sagte ich: "Die Singdrosseln."
           Damit ging ich die Treppe hinunter. Unten angekommen wurde ich sogleich von den Kindern der Dienerschaft umringt. Vater und Mutter sagten oft zu mir: "Schau, sie sind deine Haustiere." Ich hatte meinen Fuß kaum auf die Steinplatten im kleinen Innenhof gesetzt, da kamen meine zukünftigen Haustiere schon angelaufen. Sie trugen weder Stiefel noch Lederkleidung und schienen dennoch nicht mehr zu frieren als ich. Sie warteten auf meine Befehle. "Wir gehen Drosseln jagen", entschied ich.
           Ihre Gesichter begannen rot zu glühen.
           Ich schwenkte die Arme, stieß einen Schrei aus und rannte mit einer Horde Jungtiere im Gefolge zum Tor hinaus. Damit schreckten wir die Wachhunde auf, die wild zu bellen anfingen und so die freudig erwartungsvolle Stimmung des Morgens noch verstärkten. Was für ein Schnee! Das Land war strahlend weiß und schier unendlich weit. Meine Diener fielen in den aufgeregten Lärm ein. Sie traten den Schnee mit nackten Füßen von sich und sammelten die Taschen voll kalt überfrorener Steine. Die Drosseln reckten ihre dunkelgelben Schwänze hoch in die Luft und hüpften hin und her, um am Fuß der Mauer, wo weniger Schnee lag, etwas zu fressen zu finden.
           "Los!", brüllte ich.
           Meine kleinen Diener und ich begannen, hinter den Vögeln herzurennen. Da sie nicht in der Lage sind, besonders hoch zu fliegen, suchten sie hastig Zuflucht im Obstgarten beim Fluss. Wir schlitterten und stolperten durch den knöcheltiefen Schnee den Hügel hinunter. Die Vögel wurden einer nach dem anderen von den Steinen erschlagen. Ihre Körper krümmten sich, und die Köpfe hingen schlaff im tiefen Schnee. Die das Glück hatten, zu überleben, retteten ihren Kopf auf Kosten des Schwanzes und hockten zwischen Steinen und Baumwurzeln, bevor sie uns dann doch in die Hände fielen.
           Das waren die Kämpfe, die ich in meiner Kindheit anführte, erfolgreich und vollkommen.
           Ich schickte einige meiner Diener nach Hause, um Feuer zu holen, andere ließ ich auf Apfel- und Birnbäume klettern, von denen sie trockene Zweige und Äste abbrachen, während der Mutigste von allen sogar in die Küche ging, um Salz zu stehlen. Die übrigen schließlich blieben zurück, um Schnee zu fegen, denn wir brauchten einen freien Platz, um Feuer darauf zu machen und uns mit einem Dutzend Kumpels darum zu versammeln. Sonam Tserang, der Salzdieb, war so etwas wie meine rechte Hand. Er war am schnellsten und kam als Erster zurück. Ich nahm das Salz entgegen und wies ihn an, den anderen zu helfen. Noch außer Atem fegte er mit dem Fuß den Schnee zur Seite und war dabei immer noch viel schneller als die anderen. Deshalb ließ ich es ihm auch durchgehen, als er mir eine Ladung Schnee ins Gesicht trat. Selbst Diener haben manchmal das Recht auf bevorzugte Behandlung. Für einen Herrscher ist das so etwas wie ein ehernes Gesetz, eine nützliche Wahrheit. Aus diesem Grund duldete ich ein solches Verhalten mangelnder Unterordnung und musste kichern, als mir der kalte Schnee den Nacken hinunterglitt.
           Bald loderte das Feuer. Wir rupften den Drosseln die Federn aus. Sonam Tserang tötete sie dazu nicht erst, sondern rupfte die erbärmlich zappelnden und kreischenden Vögel bei lebendigem Leib, sodass man eine Gänsehaut bekam - nur er gab sich unberührt. Bald stieg vom Feuer der beruhigende Geruch von geröstetem Vogelfleisch auf. Nicht lange, und jeder von uns hatte vier oder mehr Drosseln im Bauch. 

Teil 3