Vorgeblättert

Catalin Dorian Florescu: Der kurze Weg nach Hause, Teil 1

Timisoara. Da waren sie, die Kulissen, die ich mir gewünscht hatte. Noch nicht ganz mein Revier, aber nah dran. Immerhin hätten all jene Leute meine Lehrer, meine Freunde, meine Bekannten sein können. Mein Onkel hätten sie nicht sein können.
Seine Welt hatte sich verengt auf die siebzig Quadratmeter der Wohnung, Balkon inklusive, und einer Geraden. Die Gerade von Vor-dem-Schnaps-Ort bis zum Schnapsort, Bar Doina genannt. Denn der Onkel fand nur noch den Schnaps. Darin war er instinktsicher. Vom Balkon aus hätte er, wenn er gewollt hätte, bis zur Stadtgrenze sehen können.
Vater hatte erzählt, daß er die Tante geheiratet hatte, weil er mußte. Eines Tages waren meine Großeltern, tataie und mamaie, auf Brautschau gefahren, und die Braut war eine andere, als er es sich wünschte. Es war meine Tante. Den ganzen Tag hatte er auf die Rückkehr der Eltern gewartet, und weil sie mit dem Ochsenkarren unterwegs waren und weil sie zwanzig Kilometer weit fahren mußten, wartete der Onkel lange, bis in die Nacht hinein. Er hatte sich die ganze Zeit nicht von den Stufen vor dem Haus wegbewegt, Vater sah seinen Rücken vom Flur aus. Er saß da, die Flasche stand daneben, immer im gleichen Abstand. Kein einziges Mal hatte er sie berührt, wenn Vater hingeschaut hatte. Als ob er den Blick im Rücken spürte. Von Mal zu Mal aber war sie leerer. Vater saß hinter ihm auf der Bettkante und dachte, was für ein Glück er hatte, daß er gebildet werden durfte, während sein Bruder ungebildet bleiben mußte. Denn um einen Hof zu führen, brauchte man nur den Umgang mit dem Boden und mit dem Vieh zu kennen, nicht aber mit den Worten. Vater dachte, wenn er 1938, mit sieben, für alle Zeiten lahm geblieben wäre, dann würde er dort sitzen und tuica trinken. Sein Bruder hingegen wäre in der Stadt und unter den Röcken jener Frau, die er wollte. Er hatte also Glück gehabt, damals mit sieben, und bedanken mußte er sich bei den Heiligen oder dem Schicksal. So klar war es ihm nicht. Der Bruder hatte kein Glück, denn als die Eltern nach Hause kamen, waren sie mit der Schau zufrieden. Als sie zu ihm gingen, um es ihm zu sagen, war er steif wie ein Stück Holz. Als tataie ihn am Arm schüttelte, fiel er seitlich um, wortlos. Achtzehn war er, und weil er nicht heiraten durfte, wen er wollte, beschloß er, unausstehlich zu werden, kaum noch zu reden, nur noch zu trinken. Als Vater längst gebildet war, holte er ihn und die Tante in die Stadt. Der Durst kam mit. Fünfundzwanzig Jahre Durst in der Stadt, und davor fünfzehn auf dem Land. Vater liebte seinen Bruder, aber er machte es einem schwer, bei der Liebe zu bleiben.
Wir fuhren nach Timisoara hinein über die Calea Aradului. Die Menschen bewegten sich wie Geister, aus jeder Straßenbahn und jedem Bus stiegen welche aus. Weil es inzwischen ganz dunkel war, sah man nur noch die Umrisse. Im hinteren Fenster eines Busses schnitten Kinder Grimassen, sie waren kaum höher als der untere Fensterrand. Luca machte mit, und ich hoffte, daß er bei der nächsten Haltestelle nicht aussteigen wollte, um unser Gepäck zu verteilen.
Kurz nachdem links von uns die lange Mauer des Heldenfriedhofs begonnen hatte, bog ich rechts ab. Ich konnte mich vage erinnern, daß der Weg unter dem Viadukt hindurch zum Zentralpark, zu den Elektromotor-Werken und zum Bahnhof führte.
Im Viertel Circumvalatiunii waren viele Menschen auf der Straße, von den einen die Beine, von den anderen die Bäuche, von den dritten die Hüften. Die mit den Beinen krochen unter Dacia Autos, denn hier war man immer Bastler gewesen, Ersatzteilbeschaffer, Notfallmechaniker. Genauso wie man Notfallinstallateur, Notfallelektriker, Notfallzimmermann war. Zaubern mußte man schon können. Die Magie der Misere.
Die mit den Bäuchen zauberten Bier hervor, eine Flasche nach der anderen, auch dies eine Form von Ersatzteil. Von einem Schluck zum andern führten sie einen Tango auf dem Asphalt vor, drei Schritte vor, einer zurück. Die mit den Hüften waren junge Mädchen. Dort, wo sie hinkamen, war die Luft dichter als sonst. Im spärlichen Licht der Straßenlampen standen manche stumm.
Kinder schrien, schubsten sich, zogen sich an den Kleidern, waren vergnügt und ganz und gar in ihrer eigenen Welt. Allein ihre dünnen, weichen Stimmen genügten, damit ich mich klein fühlte. Klein und ganz und gar einer von ihnen. Wenn sie nah an das Auto herankamen, sah ich ihre Gesichter, und zusammen mit ihren Stimmen ergab das lauter winzige Deja-vus. Manche trugen noch die Pioniersuniformen, manche die alten Jungmädchenröcke der verheirateten Schwestern, manche zerrissene Trainingshosen. Es fehlte das Geld für die neuen Möglichkeiten. Es gab so viele Kinder in den Hauseingängen, in den Höfen der Plattbauten und vorne an den Straßen, daß sie sich wie ein riesiger Vogelschwarm anhörten, der in der Stadt gelandet war. Auf den Balkonen wachten Mütter und Großmütter über sie.
Nicht in Zürich, nicht anderswo, war mir etwas so nah gekommen wie hier. So ungefiltert in mich eingedrungen. Der Motor lief, und von hinten rief mir jemand "Sonntagsfahrer" zu. Ich merkte, daß ich mitten auf der Straße angehalten hatte und für einen kurzen Augenblick in Gedanken versunken war. Ich hielt das Steuerrad fest, als ob es mich vor dem Kippen bewahren könnte.
Vor dem Bahnhof parkte ich das Auto. Es war sehr ruhig, die wenigsten hatten sich etwas zu sagen. Wer redete, flüsterte eher. Die Straße 13. Dezember ging geradeaus zum Bega-Kanal und führte über die Brücke zu einer breiten Straßenkreuzung. Wenn man dann noch ein Stück weiterlief, kam links die Schule Nr. 8 und dann einmal ums Eck die Kellerwohnung, in der die Tante und der Onkel die ersten zehn Jahre gelebt hatten. Die Fenster waren hoch oben in der Wand, sie reichten nur für die Schuhe und die Waden der Fußgänger. Wenn ich nach der Schule bei ihnen zu Besuch war, saß der Onkel da und schaute sich Frauenwaden an. Er sagte, er könne schon sagen, welche Wade zu welcher Nachbarin oder Lehrerin gehörte. Ich mußte das auf der Straße überprüfen gehen. Er täuschte sich oft, aber ich gab ihm recht. Im kleinen Hof des Hauses wuchsen Karotten, Tomaten, Kartoffeln, Salatköpfe. Das Dorf mitten in der Stadt. Pflaumenschnaps für den Onkel wuchs nirgends.
Wenn man an der Kreuzung nach links abbog, kam bald jener Photoladen, wo ich für den Abschied photographiert worden war. Das Photo wurde in den Paß geklebt, der Paß in die Innentasche von Vaters Jacke gesteckt, gleich beim kleinen Herzen, das er am Zoll gehabt haben muß.
Danach kam Stoica, die Bäckerei aller Schüler, deren Nase wuchs zuerst vom Geruch der warmen Apfel- und Käsestrudel, des Kakaos und der Hörnchen und danach von den Lügen, die sie wegen der Verspätung in der Schule erzählen mußten. Große Pinocchios wir alle. Weiter hinten kamen die Geburtsklinik und der Laden, in dem mir die erste Uniform gekauft worden war. Und nach dem Marienplatz kam das Zentrum mit den weißen Steinplatten, der Kathedrale und der Oper. Für mich als Kind die große weite Welt.
Rechts von der Kreuzung hingegen kam der Jozefin-Platz mit dem Markt und der Schule Nr. 12. Unweit von dort, an der Straße Josef Ranghet, ruhig und abgeschieden, schattig, fast schon wie auf dem Land, wohnte Valeria, das Mädchen, das meine Kindheit beendete. Nicht mit ihrem Körper, denn dafür war es noch zu früh. Bloß mit ihrer Anwesenheit.
Alles in Reichweite hier. Ich konnte nicht mehr klagen.Links und rechts von uns, der Straße entlang, standen die Wohnblocks, die ich seit immer kannte, und hinter uns der Bahnhof. Wenn ich die Augen schloß, konnte ich herumlaufen, ohne anzustoßen. Neun Jahre schon hatte ich Übung darin. Emigrantenzauberei.
Im Bahnhof war nur stellenweise Licht. Die Menschen standen, lagen, liefen im Halbdunkel. Jene, die im Warteraum schliefen mit dem Hut auf dem Gesicht und dem Kopf auf der Stuhllehne; jene, die auf Korridoren schliefen, den Hut schräg auf dem Kopf und den Kopf auf dem Kartoffelsack; jene, die überhaupt nicht schliefen und wie zufällig dort waren. Es gab viele davon, und ihnen war alles zuzutrauen. Gruppen schliefen in Raten. Einmal schlafen, einmal wachen, damit das Gepäck nicht Beine kriegte. Wer alleine war, schlief nur auf einem Auge. Mit dem anderen prüfte er von unter dem Hut Luca und mich. In der Eingangshalle waren alle langsam unterwegs. Langsam, doch mit schnellen Blicken.
Weil der Bahnhof zu kurz war für den Zug, der gerade eingetroffen war, stiegen die Menschen in den Büschen aus. Sie kamen den Gleisen entlang, hundert, zweihundert Meter weit. Zuhinterst sah man sie kaum, dann nur ihren Umriß, wenn sie über Gräben sprangen und durch Zaunlücken in die Stadt schlüpften.
Wir fuhren im Schrittempo die Straße 13. Dezember hinunter, und ich zeigte Luca die wichtigen Orte, soweit man etwas sehen konnte. Vor dem Block B3, Eingang A hielt ich an.
"Zuoberst, die Wohnung ohne Licht, das ist sie. Wir kommen wieder, wenn jemand zu Hause ist. Oder wach."
Alles war noch an seinem Platz. Neun Jahre vergangen wie neun Tage. Der Vorteil der Armut: Veränderung gibt es nur in homöopathischen Dosen. Weil die Nacht in den Dingen war, konnte ich nicht sagen, ob sie geschrumpft waren, wie Zsofia es prophezeit hatte. Dafür mußte der Morgen kommen.Hinter uns bog die Straßenbahn Nr. 1 mit lautem Kreischen in meine Straße ein. Bereits als ich sie hörte, wußte ich, daß sie es war. Hinschauen mußte ich nicht.
"Jetzt genau hinhören, Luca."
"Worauf?"
"Auf das, was nach der Straßenbahn kommt... Jetzt."
Nach der Straßenbahn kam kurz die Stille. Die Nach-der-Straßenbahn-Stille, gehört Nacht für Nacht fünfzig Meter über dem Boden, in der Wohnung, in der jetzt andere fehlten. Zuletzt mit vierzehn Jahren, in der Nacht vor dem letzten Tag der Kindheit.
"Ich höre nichts", sagte er.
"Macht nichts, wenn du es nicht hörst."
Ich gab Gas und fuhr in das Viertel Calea Sagului.

Teil 2