Vorgeblättert

Enrique Vila-Matas: Die merkwürdigen Zufälle des Lebens

Meine Mutter erschloss mir die unendlichen Wonnen des Spionierens. Obwohl sie es nie zugeben wollte, besaß sie schon immer eine tiefe Neigung zum Spionieren. Die hatte sie von ihrem Vater geerbt, der in seinen letzten Lebensjahren mit unverdrossener Hingabe alles erkundete, von dem er dachte, es könne überirdisch sein. Von ihm hatte meine Mutter wohl diesen Hang, allen Menschen nachzuspionieren, von denen sie glaubte, sie verkörperten etwas Göttliches, was erklären mag, warum sich ausgerechnet an dem Tag, als wir, meine Mutter, mein Vater, mein Bruder Maximo und ich, uns in unserem nagelneuen Sechshunderter auf dem Weg nach Cadaques befanden, alle geheimen Mächte des Universums verschworen, um uns nach Port Lligat in der Nähe von Cadaques zu locken, denn wir wollten unbedingt den Ort kennen lernen, wo Salvador Dali lebte.
Gegen Mittag, kurz vor Port Lligat, fiel mir auf, dass meine Mutter unruhig wurde. Ihre Aufregung steckte uns schließlich an, als wir plötzlich Dali entdeckten, der in Gesellschaft einiger Gäste auf der Terrasse seines Hauses zu Mittag speiste. Nie hätte meine Mutter zu hoffen gewagt - und wir schon gar nicht -, dass wir das Genie des Ampudan so problemlos zu Gesicht bekommen und beobachten könnten, wie er sich auf dieser aufsehenerregenden, von zwei Rieseneiern gekrönten Terrasse bewegte.
Auf Anweisung meiner Mutter hielt mein Vater sofort und zog in der letzten Kurve auf der Straße, die nach Port Lligat hinabführte, die Handbremse an. Es war ein einmaliger, unvergesslicher Augenblick. In unseren Sechshunderter eingepfercht, begannen wir, meine Mutter, mein Bruder, mein Vater und ich, in ehrfurchtsvollem Schweigen jedes noch so winzige Detail dieses Mittagessens unter den Rieseneiern - quasi eine Sondervorführung für uns - zu beobachten.
Eine ganze Weile verfolgten wir alles, bis meine Mutter plötzlich auf ihre typisch heisere Art sagte, sie würde sich nicht von der Stelle rühren, bis sie wüsste, ob der Tagesablauf eines Genies, sein Schlaf, seine Verdauung, seine Fingernägel, seine Erkältungen, sein Blut, sein Leben und sein Tod sich wirklich wesentlich von den Gewohnheiten der restlichen Menschheit unterschieden.
"Verrate mir mal, wie du das herausfinden willst", sagte mein Vater.
Statt zu antworten, begann meine Mutter wie wild zu hupen und sagte zu mir:
"Du erzählst ihm, dass du Marcelino heißt. Das wird ihn ganz sicher erfreuen."
Ich war entsetzt und fragte mich, was wohl in meine Mutter gefahren war. Aber schon sahen wir, dass Salvador Dali, der vielleicht bemerkt hatte, dass man ihm, dem Universalgenie, in einem winzigen spanischen Gefährt Beifall klatschte, uns mit seinem zum Himmel erhobenen Stock energisch fuchtelnd zuwinkte.
Doch meine Mutter sagte, das sei nicht genug und lasse ja nicht einmal erkennen, ob Dali tatsächlich ein Genie sei oder nur ein ganz gewöhnlicher Mensch wie fast alle Sterblichen. Und dann sagte sie mit sanftem Lächeln zu uns allen, ich sei derjenige, der herausfinden würde, ob sich das Leben des vermeintlichen Genies dort auf der von zwei Eiern gekrönten Terrasse tatsächlich von dem der übrigen Menschheit unterschied.
"Es genügt, ihm einen einzigen Satz zu entlocken", sagte meine Mutter. Sie verlangte, dass ich mich unterhalb der Terrasse postierte, als wollte ich ihm ein Ständchen bringen, und ihm eine Frage zurief, nur eine einzige Frage, die Erstbeste, die mir in den Sinn käme, jede Frage sei brauchbar und würde Dali zu einer Antwort verpflichten und somit enthüllen, ob er tatsächlich pausenlos genial sei oder auch Momente habe, wo er nachlasse und zum Beispiel kleine Jungs, die versicherten, Marcelino zu heißen, beschimpfte.
Beim bloßen Gedanken, eine so ungewöhnliche und außerordentlich komplizierte Mission zu erfüllen, fingen meine Beine an zu zittern, doch gleichzeitig ergriff mich wohl die typische Euphorie passionierter Spione.
Auf einmal sah ich die Person des Künstlers Dali wie ein spannendes Rätsel. Ich glaube, das gab mir den Mut, den Wagen zu verlassen und mich als Spion zu beweisen.
Langsam schlich ich mich zum Haus und hielt vor dem Sockel der Terrasse an, wo ich eine ganze Weile die Unterhaltung belauschen konnte, ohne jedoch ein Wort zu verstehen. Nicht einen einzigen Ausspruch von Dali oder seinen Gästen konnte ich mir merken außer vielleicht einen, der mir damals freilich nichts sagte, einen Satz von Dali, den ich spontan in mein Notizbuch schrieb, wo ich vieles notierte, was mir unverständlich war, um später meine Eltern danach zu fragen.
Der rätselhafte Ausspruch, den ich notierte, lautete: "Morgen werde ich mich den Eiern der Phidiasbüste widmen".
Ich schrieb den Satz auf und spionierte unentdeckt weiter, bis ich auf einmal merkte, dass es wohl an der Zeit war, die Mission, mit der man mich betraut hatte, zu Ende zu führen. Ich nahm also meinen ganzen Mut zusammen und rief gleich dreimal hintereinander:
"Señor Dali, Señor Dali, bitte, schauen Sie mal her!"
Dali selbst beugte sich als erster herab, um zu sehen, was dort unten los war.
"Ich heiße Marcelino", sagte ich. "Ich bin gekommen, um Sie etwas zu fragen, nur eine Frage, Señor Dali."
Dali, der einen aus Lorbeer-, Oliven- und Rosenzweigen gewundenen Kranz auf dem Haupt trug, guckte mich erst einigermaßen verblüfft und dann ungeheuer bohrend an.
Da sagte ich das, was mir gerade in den Sinn kam:
"Ich wüsste gerne, Señor, wären Sie wohl so freundlich, mir ein Souvenir für meine Familie zu verehren."
"Unmöglich", sagte jemand. Nach einem kurzen Blinzeln blickte Dali mich ganz seltsam an, wobei ich eine wesentliche Veränderung in seinem Gesicht bemerkte, einen äußerst merkwürdigen Wandel, als sei er plötzlich nicht mehr dieselbe Person wie noch kurz zuvor. Auf einmal verschwand er und tauchte wenige Sekunden später wieder vor mir auf, diesmal nicht mit seinem anderen Gesicht, sondern mit dem alten, das er hatte, als ich ihn um ein Souvenir bat.
Ohne ein Wort warf er mir mit theatralischer Geste einen Briefbeschwerer in Form eines Nashorns vor die Füße.
Meine Rückkehr zum Sechshunderter war spektakulär, ja geradezu triumphal. Mein armer Bruder weinte vor Rührung, als er sah, was ich in wenigen Minuten erreicht hatte. Mein Vater sagte, an diesem Tag sei ich erwachsen geworden, und er sei sehr stolz auf mich. Meine Mutter hingegen schien kein bisschen beeindruckt oder zumindest erstaunt über das Nashorn, das in den Besitz unserer Familie übergegangen war. Das einzige, was sie wissen wollte, war, was Dali mir auf meine Frage hin geantwortet hatte.
Da er nichts gesagt hatte und ich nicht einzugestehen wagte, dass ich in diesem Punkt kläglich versagt hatte, griff ich auf mein amerikanisches Notizbuch zurück und sagte meiner Mutter, Dali habe lediglich folgende Antwort gegeben: "Morgen werde ich mich den Eiern der Phidiasbüste widmen."
"Was für eine abscheuliche Ungehörigkeit!" sagte meine Mutter und bekreuzigte sich.
Seither wollte sie nie mehr von dieser Sache hören. Es war fast so, als hätte sie in dem Moment, als ich ihr den Satz des Genies sagte, eine so tiefe Enttäuschung erlitten, dass sie ihre Spionagetätigkeit endgültig an den Nagel hängte.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Nagel und Kimche

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