Vorgeblättert

Don und Petie Kladstrup: Wein und Krieg, Teil 1

Einleitung

Das Stahltor rührte sich nicht. 
Die französischen Soldaten hatten alles versucht - vom Nachschlüssel bis zum Vorschlaghammer. Nichts hatte funktioniert. Jetzt versuchten sie es mit Sprengstoff. Die Explosion erschütterte den Berg bis hinab ins Tal; Schutt und Geröll stürzten den Abhang hinunter. Als sich der Staub gelegt und der Rauch verzogen hatten, fanden die Soldaten das Tor einen Spaltbreit offen, gerade weit genug, daß Bernard de Nonancourt, ein 23jähriger Sergeant des Heeres aus der Champagne, sich hindurchquetschen konnte. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken. 
Vor sich hatte er einen Schatz, für den so mancher Kenner sein Leben gegeben hätte: eine halbe Million Flaschen der besten Weine aller Zeiten, Chateaux Lafite- und Mouton-Rothschild, Chateau Latour, Chateau d'Yquem und Romanee-Conti, alle sorgsam verpackt in Holzkisten oder aufgereiht in Regalen, die praktisch jeden Zentimeter des Gewölbes ausfüllten. In einer Ecke fanden sich seltene Portweine und Cognacs, darunter sogar viele aus dem 19. Jahrhundert. 
Eines sprang de Nonancourt jedoch sofort ins Auge: Hunderte Flaschen 1928er Champagner der Marke Salon. Fünf Jahre zuvor, als er bei einer anderen Champagnerkellerei gearbeitet hatte, hatte er verwundert deutsche Soldaten beobachtet, die in das kleine Champagnestädtchen Le Mesnil-sur-Oger eingerückt waren und kistenweise Flaschen aus den Kellern der Firma Salon schleppten. Und nun stand er vor genau den Flaschen, deren Diebstahl er damals beobachtet hatte. 
Der junge Soldat war völlig aufgeregt und konnte das ganze kaum glauben. Er konnte es nicht fassen, daß all diese kostbaren Schätze, in einer Höhle knapp unterhalb eines Berggipfels versteckt, einem Mann gehörten, der sich kaum weniger daraus hätte machen können - jemandem, der eigentlich überhaupt keinen Wein mochte. Dieser Mann war Adolf Hitler.

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Die Öffnung dieses Weinkellers hätte Bernard de Nonancourt sich vorher nicht träumen lassen. Tatsächlich hatte er noch nicht einmal etwas von der Existenz dieses Gewölbes geahnt. Am 4. Mai 1945 hatte Sergeant de Nonancourt, ein Panzerkommandant in General Leclercs Zweiter Französischer Panzerdivision, höchstens Gedanken dafür übrig, wie schön es war, am Leben geblieben zu sein. Nur wenige Tage zuvor hatte de Nonancourt die gute Nachricht erfahren: Die letzten deutschen Einheiten in Frankreich hatten sich ergeben. Sein Land war-endlich!-befreit. Jetzt drangen die Alliierten in Deutschland weiter vor, ihre Flugzeuge warfen Tausende Tonnen Bomben über deutschen Industrieanlagen, Flugplätzen und Werften ab. Zwar gab es weiterhin einzelne Widerstandsnester, doch die deutschen Truppen waren vollständig auf dem Rückzug, und die Soldaten ergaben sich in großer Zahl. Jeder wußte, daß der Krieg bald zu Ende sein würde. 
An jenem freundlichen Frühlingstag - das helle Sonnenlicht brach wärmend durch das frische Blattgrün - befand sich de Nonancourts Einheit unmittelbar vor ihrem Ziel: Berchtesgaden in den bayerischen Alpen, über der Stadt das "Walhalla der Nazigötter, -herren und -meister", (1) wie der Historiker Stephen Ambrose den dortigen Gebäudekomplex hoch oben in den Bergen bezeichnete. Hitler hatte hier ein Anwesen, den Berghof, sowie auf dem Gipfel des Kehlsteins in über 1 800 Meter Höhe ein steinernes Panoramagebäude, den sogenannten Adlerhorst, errichten lassen. Auch andere Nazigrößen wie Göring, Goebbels, Himmler und Bormann hatten dort Häuser. In Berchtesgaden hatten sich die Regierungschefs Europas Ende der 30er Jahre getroffen, um sich von Hitler erniedrigen zu lassen, (2) Männer wie der österreichische Bundeskanzler und Außenminister Kurt Schuschnigg oder der britische Premierminister Neville Chamberlain. In Berchtesgaden horteten die Nazis auch einen großen Teil ihrer Kriegsbeute: Gold, Juwelen, Gemälde und andere in den besetzten Ländern geraubte Kunstschätze. 
Den Mittelpunkt dieses "Walhalla" bildete natürlich der Berghof, Hitlers Wohnsitz, der nach außen wie ein typisches Alpenhaus aussah, das auf einen Bergrücken gebaut war. Tatsächlich war es alles andere als das. Ein Besucher berichtete: "Hinter den idyllischen weißen Mauern und Blumen in den Fensterkästen versteckte sich eine palastartige Festung mit erstaunlichen Proportionen und Symbolen von Macht und Reichtum, die an ein mittelalterliches Schloß erinnerten." Das Wohnzimmer des Berghofs war 18 Meter lang und 15 Meter breit, "so groß, daß sich die Besucher darin ganz verloren vorkamen". Schwere Holzmöbel im alpenländischen Stil standen vor einem jadegrünen Kamin. Die Wände hingen voller Gobelins und italienischer Gemälde. Es waren so viele Gemälde so vieler unterschiedlicher Stile, "daß der Raum eher dem Panoptikum eines verschrobenen Gemäldesammlers glich".(3) 
Nur wenige erhielten Zutritt zum "Adlerhorst", einer mehrere Hundert Meter höher gelegenen regelrechten Festung. Hitler selbst soll nur ganze drei Mal dort oben gewesen sein und sich beklagt haben, es sei zu hoch gelegen, die Luft dort zu dünn, und das Atmen falle ihm schwer. Dennoch war der "Adlerhorst" ein ingenieurtechnisches Meisterwerk. Erbaut über einen Zeitraum von drei Jahren und ausgelegt, um Bomben und Artillerieangriffen zu widerstehen, konnte die Anlage nur durch einen Aufzug erreicht werden, dessen Schacht in den harten Fels gesprengt worden war. 
Nun, fünf Jahre später, stand de Nonancourt während einer Rast am Fuß des Berges und blickte zum Gipfel hinauf. Er versuchte, an die unermeßlichen Schrecken zu denken, die dort oben in einer so malerischen Umgebung ausgedacht worden waren. Da riß ihn ein Vorgesetzter aus seinen düsteren Phantasien. 
"Sie da, de Nonancourt, Sie sind doch aus der Champagne, oder?" 
Bevor Bernard antworten konnte, fuhr der Offizier mit fester Stimme fort: "Dann müssen Sie sich ja gut mit Weinen auskennen. Kommen Sie mal mit."
Bernard sprang von seinem Panzer und folgte dem Offizier zu dessen Geländewagen, wo bereits eine kleine Gruppe anderer Soldaten versammelt war. "Dort oben", sagte der Offizier und zeigte auf den "Adlerhorst" an der Spitze des Obersalzbergs, "ist ein Gewölbe mit einem richtigen Weinkeller. Dort hat Hitler den ganzen Wein versteckt, den er in Frankreich gestohlen hat. Den holen wir uns jetzt zurück, und jetzt sind Sie gefragt, de Nonancourt!" 
Bernard war verblüfft. Er wußte, daß die Deutschen Millionen Flaschen Wein aus Frankreich geraubt hatten; er war sogar Augenzeuge einiger dieser Raubzüge gewesen, in dem Ort, wo er damals arbeitete. Aber ein Weinkeller auf einem Berggipfel - das war kaum zu glauben. Und die Aussicht, derjenige zu sein, der diese Schatzkammer als erster betreten sollte, kam ihm doch ziemlich verrückt vor. 
Bernard wußte, daß seine Aufgabe nicht leicht war. Der 2 400 Meter hohe Gipfel war steil, und einige Passagen des Aufstiegs waren wahrscheinlich vermint. Er fragte sich, ob nicht auch der Keller selbst mit Sprengfallen gesichert war. 
Beim Gedanken an den Aufstieg und den möglichen Fund kam dann aber doch ein Hochgefühl in ihm auf. Seit dem Überfall der deutschen Truppen auf Frankreich 1940 hatte er wie viele andere junge Franzosen gehofft, der Krieg würde lange genug dauern, daß er selbst noch an der Befreiung würde teilnehmen und so in die Geschichte eingehen können. Jetzt wurde ihm klar, daß seine Chance gekommen war, denn Hitlers Flaschensammlung war viel mehr als nur ein Weinkeller; sie war ein Symbol für die Grausamkeit Nazi-Deutschlands und seine Gier nach den Schätzen und Reichtümern der Welt. 
Wie aber kam ein junger Mann aus der Champagne nach Berchtesgaden und wurde einer der wenigen Augenzeugen der Schätze, die Hitler für sich selbst zusammengerafft hatte? Dies ist eine der faszinierendsten Geschichten des Zweiten Weltkriegs. 
Wir selbst hatten durch einen bloßen Zufall davon erfahren.

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Alles begann mit einem Ratespiel bei einer Weinprobe.
Wir waren im Loiretal unterwegs, um Gaston Huet von der Kellerei Vouvray zu einem Plan der französischen Regierung zu interviewen. Diese wollte in der Gegend einen neuen Tunnel für den Hochgeschwindigkeitszug TGV bauen. Die örtlichen Winzer, darunter Huet, damals Bürgermeister von Vouvray, waren auf den Barrikaden. Sie fürchteten, die Bahnlinie würde ihre Weinberge zerstören und ihre Weine ruinieren, die sie in den umliegenden Kalksteinhöhlen lagerten. 
"In den Gewölben liegen Hunderttausende Flaschen", sagte Huet, der sich an die Spitze der Widerstandsbewegung gesetzt hatte. "Die Erschütterungen durch die Züge könnten katastrophale Folgen haben." 
Plötzlich entschuldigte sich Huet und verließ den Raum. Er kam mit einer Flasche und drei Gläsern zurück. "Das hier ist einer der Gründe, warum ich gegen diesen Zug bin", meinte er und zeigte uns die Flasche, die kein Etikett trug. Sie war voller Spinnweben und staubbedeckt. Ohne noch ein einziges weiteres Wort zu verlieren, entkorkte Huet die Flasche und begann, die Gläser zu füllen. Der Wein hatte eine leuchtend goldene Farbe. Wir schauten einander erwartungsvoll an und blickten dann auf Huet. Ein verschmitztes Lächeln zog über sein Gesicht. 
"Bitte, probieren Sie!", forderte er uns auf. 
Schon der erste Schluck machte uns ohne jeden Zweifel klar, daß wir es hier mit einem ganz außerordentlichen Tropfen zu tun hatten. Der Wein war umwerfend. Er war von üppiger Süße, und dennoch so frisch und lebendig, daß man hätte meinen können, er sei gerade erst frisch gekeltert worden - und das sagten wir Huet auch. 
"Um was für einen Jahrgang handelt es sich wohl?", fragte Huet. 
Wir tippten auf 1976, ein großer Jahrgang für Loireweine, doch der Winzer schüttelte den Kopf und ließ uns noch einmal raten. 1969? Die gleiche Reaktion. Dann etwa 1959? Auch falsch.

Teil 2