Vorgeblättert

Leon Blum: Beschwörung der Schatten. Teil 2

04.08.2005.
Ich wohnte in Paris im Erdgeschoß eines in der Rue du Luxembourg gelegenen Hauses, in welchem auch ein hoher Beamter des Bergbauamtes (er hieß, glaube ich, Lender) ein Stockwerk gemietet hatte. Monsieur Lender lud oft zum Abendessen ein, und Arthur Fontaine, der Gründer der Legislation Internationale du Travail, der früher ebenfalls im Bergbauamt gewesen war, gehörte zu den regelmäßigen Gästen der Familie. Manchmal klingelte er bei mir, wenn er von Monsieur Lender herunterkam. Und so erzählte er mir einmal, immer noch lachend, einen Auftritt, der sich soeben zugetragen hatte. Bei Tisch hatte ein Offizier, um die Unterhaltung zu beleben, zu seinen Nachbarn gesagt : "Sie wissen ja, ich leite eines der Büros beim Generalstab. Und stellen Sie sich vor wir sind einer sehr ernsten Sache auf der Spur. Es hat sich ein jüdisches Syndikat gebildet, ein internationales Syndikat, das unbegrenzte Mittel zur Verfügung hat, um den Verräter Dreyfus zu befreien. Aber wir wissen Bescheid. Wir kennen sogar den Namen des angeblichen Schuldigen, den man an seine Stelle setzen möchte." Die Affäre war so tief in Vergessenheit geraten, daß einer der Tischgäste, Kollege und Freund von Arthur Fontaine, den Offizier unterbrach: "Dreyfus... ? Irgend etwas sagt mir der Name, aber ich kann mich nicht mehr an die Geschichte erinnern." "Na, hören Sie, wollen Sie im Ernst sagen, Sie erinnern sich nicht daran? ...", und der Offizier begann mit einer präzisen, eleganten Schilderung der Affäre. Der Freund Fontaines hörte vollkommen konzentriert zu. Als der Bericht zu Ende war, erklärte er im sanftesten und besonnensten Ton: "Aber, Herr Major, wenn sich die Dinge so abgespielt haben, wie Sie es uns eben erzählt haben, dann ist Dreyfus unschuldig ..." Der Offizier rief zornig: "Was! Sie stimmen diesen Verbrechern zu? Aber Dreyfus ..." Der Freund Fontaines wiederholte mit immer sanfterer Hartnäckigkeit : "Verzeihen Sie! Ich hatte alles das vergessen, bis hin zum Namen von Dreyfus. Ich weiß von seiner Geschichte nichts als das, was Sie mir eben selbst erzählt haben. Ich urteile allein auf Grund dessen, was Sie mir dargelegt haben. Und wenn das stimmt - dann kann es für keinen vernünftigen Menschen irgendeinen Zweifel geben: Dreyfus ist unschuldig ..." Die Unterhaltung lief aus dem Gleis, der Hausherr hatte die größte Mühe, sie zu unterbrechen. Der Offizier war ein gewisser Major Roget. Seinen Gesprächspartner, der noch sehr lebendig ist, nenne ich nicht, er wird sich wiedererkennen, wenn er mich liest.

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Michel Breal war Jude, Bernard Lazare war Jude, der Major Roget deckte bereits präventiv ein jüdisches Komplott auf. Man darf aber keineswegs annehmen, daß in den jüdischen Kreisen, wo ich verkehrte Bürger des Mittelstandes, junge Literaten, Beamte -, die geringste Neigung zum Dreyfusismus bestand. Zu dem Zeitpunkt, von dem ich hier spreche, war nichts dergleichen zu spüren. Allgemein gesprochen hatten die Juden die Verurteilung Dreyfus' als endgültig hingenommen, und als gerecht. Sie sprachen untereinander nicht von der Angelegenheit; sie flohen das Thema, anstatt es anzusprechen. Ein großes Unglück war über Israel gekommen. Man ertrug es ohne ein Wort und wartete darauf, daß die Zeit und das Schweigen die Folgen austilgten.
     Es war sogar so, daß die Masse der Juden den Anfängen der Kampagne für eine Wiederaufnahme des Verfahrens mit großer Vorsicht und viel Mißtrauen begegnete. Ein Gefühl herrschte vor, das sich gewissermaßen in dem Satz zusammenfassen ließ: "Das ist etwas, wo die Juden sich nicht einmischen dürfen ..." In dieser komplizierten Empfindung kamen verschiedene Beweggründe zusammen. Es lagen darin gewiß Patriotismus (und vielleicht sogar ein sehr empfindlicher Patriotismus), die Achtung vor der Armee, das Vertrauen in ihre Führung, ein Widerstreben, diese Männer als parteiisch oder fehlbar anzusehen. Aber es gab auch eine Art egoistischer, ängstlicher Klugheit, für die man noch strengere Worte finden könnte. Die Juden wollten nicht, daß man glauben könnte, sie verteidigten Dreyfus deshalb, weil er Jude war. Sie wollten nicht, daß man ihre Haltung auf einen Unterschied der Rasse, auf die Solidarität der gemeinsamen Abstammung zurückführte. Vor allem wollten sie nicht durch die Verteidigung eines anderen Juden der antisemitischen Leidenschaft Nahrung geben, die damals sehr deutlich anschwoll. Die Verhaftung, die Verurteilung hatten den Juden bereits geschadet; die Kampagne für ein neues Verfahren durfte ihnen nicht noch weiteren Schaden zufügen. Die Juden in Dreyfus Alter, jene, die derselben Gesellschaftsschicht angehörten, die sich wie er in schwierigen Prüfungsverfahren durchgesetzt hatten und in den Offizierskader des Generalstabs oder in die höchsten Spitzen der Zivilverwaltung vorgedrungen waren, erregten sich über die Idee, ein feindseliges Vorurteil könne ihre untadeligen Karrieren irgendwie behindert haben. Nachdem sie den Verräter exkommuniziert hatten, wiesen sie den peinlichen Eifer seiner Anhänger weit von sich. Alles in allem muß man, um sich ein genaues Bild von dem Geist zu verschaffen, den ich zu beschreiben suche, nur heutzutage in die Runde schauen. Die reichen Juden, die Juden der mittleren Bourgeoisie, die jüdischen Beamten hatten damals genauso Angst vor dem engagierten Kampf für Dreyfus, wie sie heute Angst haben vor dem engagierten Kampf gegen den Faschismus. Sie dachten nur daran, sich wegzuducken und sich zu verbergen. Sie glaubten, die antisemitische Leidenschaft ließe sich durch skrupulöse Neutralität abwenden. Sie verwünschten insgeheim diejenigen unter ihnen, die hervortraten und sie dadurch wieder ihren ewigen Feinden auslieferten. Sie begriffen damals ebensowenig wie heute, daß keinerlei Vorsichtsmaßnahme, keine gute Miene zum bösen Spiel, den Gegner täuschen konnte und daß sie immer die auserwählten Opfer des Antidreyfusismus wie des Faschismus im Fall ihres Triumphes blieben.
     Und deshalb hatte ich damals, als Lucien Herr mich an jenem Nachmittag auf dem Lande besuchte, als ein im Gleichmaß von Familie und gewohnter Bekanntschaft dahinlebender Durchschnittsjude, sicher keine stärkere Berufung, die Gnade des Engagements für Dreyfus zu empfangen, als irgendjemand sonst. Andererseits empfing ich die Botschaft von einem Apostel, der große Gewalt über mich hatte. Ich kannte Herr nun schon seit sieben Jahren - von dem Ort, wo er sich sein ganzes Leben lang freiwillig selbst eingeschlossen hatte, das heißt aus der Bibliothek der Ecole Normale. Im Verlauf dieser ganzen letzten Jahre hatte sich im fast täglichen Umgang zwischen uns eine große Vertrautheit herausgebildet. Aber zu dem Einfluß, den er auf mich ausübte, gehörte etwas, das sich durch die Freundschaft nicht hinlänglich erklären ließ und das ich gerne denen klarmachen wollte, die ihn nicht gekannt haben. Indem ich helfe, seine Persönlichkeit zu begreifen, leiste ich im übrigen einen Beitrag zur Zeitgeschichte, der kostbarer ist, als man glaubt. Herr war es, der Jaures zum Sozialismus gebracht hatte, oder um es genauer zu sagen Herr hatte Jaures dazu gebracht, sich Rechenschaft darüber abzulegen, daß er eigentlich Sozialist war. Und er hatte nun vor kurzem mit Lucien Levy-Bruhl zusammen Jaures von der Unschuld Dreyfus überzeugt. Er sollte dann die Bewegung der Intellektuellen ins Leben rufen und lenken, die den Frieden des Labors oder der Studierstube verließen, um sich in die Schlacht um Dreyfus zu werfen. Er sollte mit Charles Peguy zusammen jene Buchhandlung Bellais gründen, in der alle jungen Sozialisten und Dreyfusards den Mittelpunkt für ihre Versammlungen und Aktionen fanden. Und er sollte noch dreißig Jahre lang bis zu seinem letzten Lebenstag der Beichtvater der akademischen Elite bleiben, ihr Bekehrer, ihr Führer - und für eine bedeutende Zahl von Männern der Öffentlichkeit der Vertraute, der Lenker des Gewissens und der Gedanken.
     Die Kraft Herrs, seine unglaubliche und wahrhaft einzigartige Kraft (denn ich habe so etwas nie in demselben Maße bei einem anderen Menschen gefunden) hing wesentlich davon ab, daß in ihm die Überzeugung selbst Beweiskraft erlangte. Er formulierte die Wahrheit mit einer so vollständigen, so ruhigen Macht, daß sie sich ohne Anstrengung und wie mühelos seinem Gesprächspartner mitteilte. Die bloße Möglichkeit einer Diskussion schien ausgeschaltet. Sein ganzes Wesen strahlte die Gewißheit aus: "Ja, dies denke ich, das glaube ich; es ist vollkommen unmöglich, daß ein Mensch auf einem gewissen Niveau es nicht ebenfalls denkt, es nicht auch glaubt." Und man wurde gewahr, daß man tatsächlich dachte und glaubte wie er; man hatte sogar den Eindruck (oder die Illusion), daß man insgeheim ebenjenen Gedanken oder jenen Glauben schon lange mit sich herumgetragen hatte. Man wußte nicht mehr, ob er einen überredet oder einem das eigene Innere enthüllt hatte. Ohne jedes Pathos könnte man ganz einfach sagen: Kein Mensch "beherrschte" einen anderen Menschen auf solch natürliche Weise. Der körperliche Eindruck trat zu dieser überlegenen Vernunft hinzu, denn er war gebaut wie ein gütiger Riese, hatte einen ungeheuren Schädel, sprach ohne Härte, fast zärtlich, aber mit Worten, die alles entblößten, alles erschütterten, und er hatte einen Blick, in dem sich Autorität und Fürsorglichkeit trafen. Das war der Mann, der mir ohne Umschweife sagte, als wir zusammen eine Gartenallee entlangschritten: "Dreyfus ist unschuldig", und der, als er mich von seiner Stimme ergriffen und fast schon besiegt sah, mir nun eins nach dem anderen die Fakten, die Argumente, die Beweisstücke aufzählte.

Teil 3