Vorgeblättert

Leseprobe Kapka Kassabova: Die letzte Grenze, Teil 2

15.08.2018.
EINHUNDERTUNDZWANZIG
SÜNDEN

Auf der holperigen Forststraße zwischen dem Schwarzen Meer und der türkischen Grenze wechselte das Autoradio zwischen verschiedenen Sendern hin und her. Klebrig süße türkische Pop-Balladen wichen der Sommerausgabe von Radio Zarewo, das Nachrichten auf Bulgarisch, Englisch und Russisch brachte. Hin und wieder ein Dorf, außer Sicht, kaum hatte man es erblickt. Dann ein Häuschen mit der Aufschrift »Grenzpolizei«, das einzige Gebäude an der Straße. Im Häuschen waren zwei Grenzpolizisten. Ich blieb davor stehen.
     »Na. Da gibt’s nichts zu erzählen, es ist ein Leben wie alle anderen«; der ältere Polizist zuckte die Achseln. »Die Schichten sind lange, keine Hunde mehr, die Dinge haben sich geändert seit den alten Zeiten. Es war der gefürchtetste Dienst in der Armee, und jetzt ...«
     »Jetzt ist es keine Armee mehr, sondern Polizei«, sagte der Jüngere.
     Er hatte die Arme verschränkt und musterte mich aus verhangenen Augen. Er hatte vertraut wirkende, gemeißelte Wangen, aber ich konnte ihn nicht zuordnen.
     »Ich gehe in Rente«, sagte der Ältere. »Werd den ganzen Tag fischen. Kennen Sie die Quelle der heiligen Marina?«
     »Hier war es früher eher ruhig, aber seit dem Syrienkrieg ist viel los«, sagte der junge Grenzer.
     »Die heilige Marina, Beschützerin der Schlangen. Man ruft sie an, um geheilt zu werden«, sagte der alte Grenzer.
     »Jetzt kommen alle möglichen Typen rüber«, sagte der junge Grenzer. »Manche sind sogar bewaffnet.«
     »Ich erinnere mich an die Flüchtlinge von früher. Jedes einzelne Gesicht«, sagte der alte Grenzer. »Sie sind in die andere Richtung gerannt, nach Süden. Wir haben so viele verhaftet. Zwei deutsche Burschen, so in den Zwanzigern. Ich erinnere mich an die Nacht. Wir haben sie eingekreist, achtzig von uns mit Hunden, und sie waren nur zu zweit. Ihre Hosen waren ganz zerfetzt vom Draht. Die Suchscheinwerfer waren auf sie gerichtet. Und sie sind dagestanden. Ich vergesse das nie. Weil sie trotzig ausgesehen haben. Obwohl ihr Leben vorbei war. Ich schlug einen Pass auf. Das Foto seiner Freundin. Aber was kann man machen? Schicksal. Sie hatten sich selber ihr Urteil unterschrieben.«
     »In der letzten Woche haben wir eine schwangere Frau aufgegriffen«, sagte der junge Grenzer. »Ihr Mann hatte Verletzungen von Granaten. Syrien.«
     »Ein Typ, Klaus Hoffmann«, sagte der alte Grenzer. »1986. Ich sehe ihn, als wäre es gestern gewesen. 45-jähriger Radiologe aus Ostdeutschland. Ich erinnere mich, wie ich seinen Namen auf dem Formular Buchstabe für Buchstabe hinschrieb. Gutaussehend, gewandt. Er hatte was Besseres verdient.«
     »Manche zerreißen ihre Papiere und stellen sich«, sagte der junge Grenzer.
     »Schicksal«, sagte der alte Grenzer. »Jeder, der das Arrestzimmer passierte, wurde in diesen dicken grünen Fahrtenbüchern registriert. Die sind jetzt weg. Ich gehe nächstes Jahr in Rente. Werd meine Erinnerungen mitnehmen.«
     »Sie sind halb verhungert, erschöpft, es hat keinen Zweck, wenn sie sich verstecken«, sagte der junge Grenzer. »Sie stellen sich, wir erledigen den Papierkram, und sie landen im Flüchtlingslager.«
     »Einmal«, sagte der alte Grenzer, »Ende der Siebziger, haben ich und mein Kumpel im Wald einen Rucksack gefunden, vollgestopft mit US Dollars. Wir haben die Fußspuren gesehen, den Typ aber nie erwischt. Tausende Dollars. Was haben wir also getan, wir pflichtbewussten Soldaten der Volksrepublik? Den Rucksack zum Chef gebracht. Haben geglaubt, wir würden für unsere Ehrlichkeit belohnt. Ha!« Er riss ein Päckchen Schokokekse auf und bot mir eines an.
     »Die Patrouille oben an der Straße hat diese Frau im Wald gefunden«, sagte der junge Grenzer. »Sie war erfroren.«
     »Die schlimmste Zeit waren die späten Achtziger«, sagte der alte Grenzer, »als unsere Türken wegen der Namensänderungskampagne wegzu gehen begannen. Erinnern Sie sich?«
     Allerdings. Der junge Grenzer nicht, er war zu jung. Er sah auf seine Uhr und sagte:
     »Eines lernt man in der Arbeit. Leute überleben Dinge, die man sich nicht vorstellen kann.«
     »Sommer 1989«, sagte der alte Grenzer. »Diese Straße war schwarz vor Autos, Fuhrwerken, Bussen, Taxis. 300 000 Menschen sind in die Türkei ausgewandert. Einige sind zurückgekommen. Ich erinnere mich an eine Frau. Sie ist von Soldaten auf beiden Seiten vergewaltigt worden.« »Vorige Woche sind zwei Palästinenser im Wald aufgetaucht«, sagte der junge Grenzer. »Haben tagelang nichts geredet. Die Leute brechen zusammen, wenn man ihnen Essen gibt, aber die zwei hatten Pflaumen gegessen und waren nicht hungrig. Die Zigaretten haben das dann geschafft, am dritten Tag. Sie haben inhaliert wie Staubsauger. Und sind zusammengebrochen. Die Geschichte ist rausgekommen.«
     Wie ging die Geschichte?
     Er sah mich misstrauisch an, und ich erkannte ihn. Natürlich – es war der Sohn des Akkordeonspielers, vom Fest am Sonntag! Wie doch eine Uniform und ein Gewehr einen Mann veränderten.
     »Na ja«, sagte er mit unbewegtem Gesicht. »Ich habe Sie erkannt. Das ist mein Job.«
     Der alte Grenzer begann eine weitere Geschichte zu erzählen, aber der junge unterbrach ihn.
     »Wir werden Sie mal überprüfen«, sagte er und trat in das Häuschen. »Wir haben ein Identitätsüberprüfungssystem, das nach Ihnen suchen kann. Da, sehen Sie, wie es funktioniert.«
     »Ach, lass das«, sagte der alte Grenzer verlegen.
     Aber der junge Grenzer war neue Schule, skrupulös. Er nahm das Funksprechgerät. Er nannte einer Frau am anderen Ende meinen N amen, und als wir in der plötzlichen Stille warteten, kroch das alte Frösteln hoch. Das Frösteln, entlarvt, erwischt zu werden, von Suchscheinwerfern angestrahlt. Ein Grenzfrösteln.
     Der alte Grenzer wollte ein Publikum. Der junge Grenzer nicht; er hatte mir gegenüber den Spieß umgedreht. Dann kam die ruhige Frauenstimme wieder mit den Angaben zu meiner Person; sie fügte hinzu:
     »Keine Verurteilungen.«
     »Sie sind überprüft«, sagte der junge Grenzer und ging, um in einer Waldhütte hinter dem Grenzhäuschen ein Schläfchen zu halten.
     »Na gut«, sagte der alte Grenzer entschuldigend, »Beruf ist Beruf.«
     Ein Auto mit einem Kennzeichen aus Sofia hielt. Ein Mann mit Brille stieg aus. Sie suchten die Grotte der heiligen Marina, und der ältere Grenzer gab ihnen Anweisungen.
     »Und halten Sie sich von den Vipern fern!« Er klopfte auf das Dach des Autos.
     »Am Rücksitz ein kleines, verkrüppeltes Mädchen«, sagte er, als er zurück war. »Schicksal. Aber sie könnten Glück haben. Einmal habe ich im Fluss in der Nähe der heiligen Marina gefischt. Das Herz war mir schwer, wie es halt manchmal so ist. Bin ausgerutscht und in den Fluss gefallen, habe mir die Hand an einem spitzen Stein aufgerissen. Direkt in der Handfläche. Überall Blut. Was passiert dann? Ich wasche mir die Hand in der Quelle der heiligen Marina, und die Wunde schließt sich. Verdammt noch mal, als wäre nichts gewesen! Niemand hat mir geglaubt.«
     »Das ist schön«, sagte ich.
     »Schön, Blödsinn«, sagte er. »Hören Sie, was dann passiert ist. In der nächsten Woche gehe ich wieder hin, und was sehe ich? Bei meinen Füßen ein Knäuel Schlangen. Verdammte Scheiße. Ich hab einen Stein genommen und ihnen die Köpfe zerquetscht. Es waren drei Schlangen. Man tötet eine Schlange, und vierzig Sünden sind vergeben.«
     »Also 120 Sünden«, sagte ich.
     »Aber der Haken ist«, sagte er, »die heilige Marina ist die Schutzpatronin der Schlangen. Die Schlangen bei ihrem Brunnen darf man nicht anrühren. Sie könnten ja, wissen Sie, was anderes sein. Was für ein Teufel hat mich geritten, dass ich nach dem Wunder mit der Hand diese Schlangen gekillt habe?«
     Er öffnete den obersten Knopf seiner Uniform. Der Asphalt unter unseren Füßen war am Schmelzen.
     »Wenn Sie hingehen, halten Sie sich von den Vipern fern. Eine ist nämlich sicher bei der heiligen Marina. Wir unterschreiben unser eigenes Urteil.«
     Und er streckte den Arm aus und steckte ein Päckchen pampiger Schokokekse in meine Umhängetasche, plötzlich scharf darauf, unser Gespräch zu beenden.

Ich konnte Klaus Hoffmann nicht mehr aus dem Kopf bekommen – unter all den Opfern der Grenze, von denen ich gehört hatte, war er der Einzige, dessen Name von einem Grenzpolizisten genannt worden war. Als ich den Experten für deutsche Flüchtlinge kontaktierte, fand er in seinen Akten einen Klaus Hoffmann. Aber einiges passte nicht zusammen. Der Klaus Hoffmann in den Akten war jünger, und er war kein Radiologe. Auch das Jahr stimmte nicht. Nach seiner Festnahme hatte er ein paar Monate in einem bulgarischen Gefängnis verbracht, gefolgt von einer langen Haft im Krankenhaus des Berliner Stasi-Gefängnisses Hohenschönhausen. Am wenigsten passte das folgende Detail: Der Klaus Hoffmann in den Akten war von den Soldaten angeschossen und geschlagen worden, bevor sie seinen Namen in eines der grünen Logbücher eingetragen hatten, die verschwunden waren.
     Gab es zwei Klaus Hoffmanns? Oder war der erinnerte Klaus Hoffmann eine fiktionalisierte Schöpfung meines Grenzers, eine Verbesserung der Realität für jedermann: Klaus Hoffmann, den Grenzbeamten und mich?
     Ich hatte beim Wegfahren gewinkt, und der ältere Grenzer hatte zurückgewinkt, hatte seinen Arm länger in der Luft gehalten als üblich, eine seltsam endgültige Geste. Vielleicht hatte er Angst, dass er sich, wenn ich länger blieb, hinreißen ließe und ein so schreckliches, so schwer zu bewältigendes Geständnis machte, dass es, einmal ausgesprochen, die einzige Realität sein würde, die noch da war. Und wer würde in einer so furcht baren Welt leben wollen?   

---  Sozialistische Persönlichkeit  ---

In Ostdeutschland und allgemein im Sowjetblock eine vorgeschriebene Reihe von Einstellungen und Verhaltensweisen, die jemanden als politisch korrekt auswies. In der Theorie war die Sozialistische Persönlichkeit eine Ablage für moralische Rechtschaffenheit und »Klassenbewusstsein«. In der Praxis war sie eine Verkörperung jenes langmütigen Wesens, des Homo sovieticus, und meinte in Wirklichkeit, kein Gesicht, keinen Namen, kein Schicksal zu haben außer die richtigen.
     Eines Tages, als der Wald von Strandscha mir die Luft abzuschnüren begann, fuhr ich zur letzten Lagune vor der roten türkischen Flagge, um zu schwimmen und Frieden zu finden. Stattdessen fand ich den Ursprung einer Geschichte darüber, wie ein Deutscher das grundlegende Gebot der Sozialistischen Persönlichkeit gebrochen hatte: das Gebot der Grenze. Und was danach geschah.

Leseprobe Teil 3