Vorgeblättert

Leseprobe zu Alice Munro: Was ich dir schon immer sagen wollte. Teil 2

08.03.2012.
Die Peebles fragten mich, was für ein Mann er war. Jung, älter, klein, groß? Ich wusste es nicht zu sagen.
     "Sieht er gut aus?", neckte Dr. Peebles mich.
     Ich konnte nur daran denken, dass er wiederkommen würde, um sich Wasser zu holen, er würde mit Dr. oder Mrs. Peebles reden, sich mit ihnen anfreunden, und er würde erzählen, wie herausgeputzt er mich an jenem ersten Nachmittag gesehen hatte. Warum es nicht erzählen? Er würde es komisch finden. Und keine Ahnung haben, in welche Schwierigkeiten er mich damit brachte.
     Nach dem Abendessen fuhren die Peebles in die Stadt, um ins Kino zu gehen. Mrs. Peebles wollte mit ihren frisch frisierten Haaren noch etwas unternehmen. Ich saß in meiner hellen Küche und grübelte, was ich tun konnte, denn ich wusste, an Schlaf war nicht zu denken. Möglich, dass Mrs. Peebles mich nicht entließ, wenn sie es herausfand, aber ihre Einstellung zu mir würde sich ändern. Dies war meine allererste Arbeitsstelle, doch ich hatte schon twas mitbekommen von den Erwartungen, die Menschen haben, wenn man für sie arbeitet. Sie denken gerne, dass man nicht neugierig ist. Nicht nur, dass man redlich ist, das genügt nicht. Sie haben gerne das Gefühl, dass man nichts wahrnimmt, dass man sich über nichts wundert und über nichts nachdenkt als darüber, was sie gerne essen, wie sie ihre Sachen gebügelt haben wollen und so weiter. Ich meine nicht, dass sie mich nicht gut behandelten, denn das taten sie. Sie ließen mich die Mahlzeiten mit ihnen zusammen einnehmen (was ich, um die Wahrheit zu sagen, auch erwartete, ich wusste nicht, dass es Familien gab, die es nicht so hielten) und nahmen mich manchmal im Auto mit. Aber trotzdem.
     Ich ging hinauf und sah nach, ob die Kinder schliefen, dann ging ich hinaus. Ich konnte nicht anders. Ich überquerte die Straße und ging durch das Tor zum alten Rummelplatz. Das Flugzeug, das dort stand, sah unnatürlich aus und leuchtete im Mondlicht. Am anderen Ende des Rummelplatzes, wo die Natur sich wieder durchsetzte, sah ich sein Zelt.
     Er saß davor und rauchte eine Zigarette. Er sah mich kommen.
     "Hallo, geht's um einen Rundflug? Ich fange erst morgen damit an." Dann sah er noch einmal hin und sagte:
     "Ach, Sie sind's. Ohne Ihr langes Kleid habe ich Sie gar nicht erkannt."
     Mein Herz schlug wie wild, mein Mund war ausgetrocknet. Ich musste etwas sagen. Aber ich konnte nicht. Meine Kehle war zugeschnürt, und ich war wie eine Taubstumme.
     "Wollten Sie mitfliegen? Setzen Sie sich. Nehmen Sie eine Zigarette."
     Ich konnte nicht einmal den Kopf schütteln, um nein zu sagen, also gab er mir eine.
     "Stecken Sie sie in den Mund, sonst kann ich sie nicht anzünden. Bloß gut, dass ich schüchterne Damen gewohnt bin."
     Ich steckte sie in den Mund. Es war nicht einmal meine erste Zigarette. Meine Freundin zu Hause, Muriel Lowe, stahl sie immer ihrem Bruder.
     "Ihre Hand zittert ja. Wollten Sie nur plaudern oder was?"
     In einem Atemzug sagte ich: "Bitte sagen Sie bloß nichts von dem Kleid."
     "Welches Kleid? Ach, das lange Kleid."
     "Das gehört Mrs. Peebles."
     "Wem? Ach, der Dame, für die Sie arbeiten, stimmt's? Sie war nicht zu Hause, also haben Sie sich ihr Kleid angezogen? Sie haben sich feingemacht und Prinzessin gespielt? Kann ich Ihnen nicht verübeln. Sie rauchen die Zigarette nicht richtig. Nicht nur paffen. Einatmen. Hat Ihnen noch niemand gezeigt, wie man inhaliert? Haben Sie Angst, ich verrate Sie? Ist es das?"
     Ich schämte mich so, ihn um sein Schweigen bitten zu müssen, dass ich nicht einmal nicken konnte. Ich schaute ihn nur an, und er sah, ja.
     "Werd ich nicht. Ich werde kein Wort davon sagen und Sie nicht in Verlegenheit bringen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort."
     Dann wechselte er das Thema, um mich zu erlösen, denn er sah, dass ich ihm nicht mal danken konnte.
     "Wie finden Sie dieses Schild?"
     Es war ein Holzschild, das dicht vor meinen Füßen lag.

SEHEN SIE DIE WELT VOM HIMMEL AUS. ERWACHSENE $ 1,00, KINDER 50 c. ERFAHRENER PILOT.

     "Mein altes Schild ging langsam kaputt, ich dachte, ich mache ein neues. Damit habe ich mir heute die Zeit vertrieben."
     Die Schrift war nicht besonders schön, fand ich. Ich hätte es innerhalb einer halben Stunde besser gemacht.
     "Ich bin kein Experte im Schildermalen."
     "Es ist sehr gut", sagte ich.
     "Ich brauch's nicht zur Reklame, Mundpropaganda genügt meistens. Heute Abend habe ich schon zwei Wagenladungen abgewiesen. Ich wollte meine Ruhe haben. Ich habe denen nicht gesagt, dass ich Damenbesuch erwarte."
     Mir fielen die Kinder ein, und ich hatte Angst, eins könnte aufgewacht sein, mich gerufen haben, und ich war nicht da.
     "Müssen Sie schon gehen?"
     Ich erinnerte mich an meine Manieren. "Danke für die Zigarette."
     "Nicht vergessen. Sie haben mein Ehrenwort."
     Ich rannte über den Rummelplatz, voller Angst, ich könnte das Auto aus der Stadt nach Hause kommen sehen. Mein Zeitgefühl war durcheinander, ich wusste nicht mehr, wie lange ich fort gewesen war. Aber alles war in Ordnung, ich kam nicht zu spät, die Kinder schliefen. Ich ging selbst zu Bett, lag da und dachte darüber nach, welch glückliches Ende der Tag doch genommen hatte und wie dankbar ich sein konnte, dass es nicht Loretta Bird war, die mich in meinem Aufputz erwischt hatte.
                         

Der Hof und die Beete wurden nicht platt getrampelt, so schlimm war es nicht. Trotzdem schien um das Haus herum viel Trubel zu sein. Das Schild hing am Tor zum Rummelplatz. Die meisten Leute kamen nach dem Abendessen, aber viele fanden sich auch nachmittags ein. Die Bird-Kinder kamen alle, brachten aber keine fünfzig Cent zusammen und lungerten am Tor herum. Wir gewöhnten uns an die Sensation des startenden und landenden Flugzeugs, es war keine Sensation mehr. Ich ging nach jenem einen Mal nie mehr hinüber, sah ihn aber, wenn er sich Wasser holte. Ich versuchte es so einzurichten, dass ich Arbeit hatte, die ich im Sitzen tun konnte wie Gemüse putzen, und saß dann draußen auf den Stufen der Veranda.
     "Warum kommen Sie nicht rüber? Ich nehme Sie im
Flugzeug mit."
     "Ich spare mein Geld", sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel.
     "Wofür? Für die Hochzeit?"
     Ich schüttelte den Kopf.
     "Ich nehme Sie umsonst mit, wenn Sie zu einer Zeit kommen, wo nichts los ist. Ich dachte, Sie würden kommen und noch eine Zigarette rauchen."
     Ich zog ein Gesicht, damit er schwieg, denn man wusste nie, ob die Kinder um die Veranda herumschlichen oder ob Mrs. Peebles selbst im Haus lauschte. Manchmal kam sie heraus und unterhielt sich mit ihm. Er erzählte ihr Dinge, die er mir nicht gesagt hatte. Aber schließlich hatte ich ihn auch nicht danach gefragt. Er erzählte ihr, dass er im Krieg gewesen war, dort hatte er fliegen gelernt, und jetzt konnte er sich nicht an ein normales Leben gewöhnen, dieses hier gefiel ihm. Sie sagte, sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass jemandem so etwas gefiel. Obwohl ihr manchmal die Langeweile so zusetzte, dass sie fast bereit war, selbst irgendwas auszuprobieren, sie war nicht geschaffen für das Landleben. Das war die Idee meines Mannes, sagte sie. Was mir neu war.
     "Vielleicht können Sie ja eine Flugschule aufmachen", sagte sie.
     "Würden Sie Unterricht nehmen?"
     Sie lachte nur.


Der Sonntag war ein arbeitsreicher Flugtag, obwohl von zwei Kanzeln dagegen gepredigt wurde. Wir saßen alle draußen und schauten zu. Joey und Heather saßen mit den Bird-Kindern drüben auf dem Zaun. Ihr Vater hatte es ihnen erlaubt, nachdem ihre Mutter es ihnen die ganze Woche über verboten hatte.
     Ein Auto kam die Straße herunter, fuhr an den parkenden Autos vorbei und hielt in unserer Auffahrt. Es war Loretta Bird, die ausstieg, voller Wichtigkeit, und auf der Fahrerseite stieg eine andere Frau aus, wesentlich gelassener. Sie trug eine Sonnenbrille.
     "Diese Dame will zu dem Mann, der das Flugzeug fliegt", sagte Loretta Bird. "Ich hab gehört, wie sie sich im Hotelcafé, wo ich gerade eine Cola trank, erkundigte, und da habe ich sie hergebracht."
     "Entschuldigen Sie die Störung", sagte die Dame. "Ich bin Alice Kelling, die Verlobte von Mr. Watters."
     Diese Alice Kelling trug eine braunweiß karierte Freizeithose und ein gelbes Oberteil. Für meine Begriffe hatte sie einen üppigen Hängebusen. Ihr Gesicht war besorgt. Ihre Haare hatten mal eine Dauerwelle gehabt, aber die war herausgewachsen, und sie trug ein gelbes Band, damit sie ihr nicht ins Gesicht fielen. Nichts an ihr, was irgend hübsch oder auch nur jung aussah. Aber an ihrer Redeweise merkte man, dass sie aus der Stadt kam oder gebildet war oder beides.
     Dr. Peebles stand auf, stellte sich, seine Frau und mich vor und bat sie, Platz zu nehmen.
     "Der ist jetzt gerade in der Luft, aber wenn Sie möchten, können Sie gerne auf ihn warten. Er holt sich hier immer Wasser, und er war heute noch nicht da. Er macht wahrscheinlich so gegen fünf Pause."
     "Das ist er also?", sagte Alice Kelling und spähte blinzelnd in den Himmel.
     "Er hat doch wohl nicht die Angewohnheit, Sie sitzen
zu lassen und einen anderen Namen anzunehmen?" Dr. Peebles lachte. Er war es, nicht seine Frau, der Eistee anbot. Sie schickte mich dann in die Küche, welchen machen. Sie lächelte. Auch sie trug eine Sonnenbrille.
     "Er hat nie was von einer Verlobten erwähnt", sagte sie.
     Ich machte gerne Eistee in hohen Gläsern mit vielen Eiswürfeln und Zitronenscheiben drin. Ich sollte noch erwähnen, dass Dr. Peebles Abstinenzler war, zumindest zu Hause, sonst hätte ich die Stelle gar nicht annehmen dürfen. Ich musste für Loretta Bird auch ein Glas machen, obwohl mich das wurmte, und als ich herauskam, hatte sie sich in meinem Liegestuhl breitgemacht, mir blieben nur die Treppenstufen.
     "Als ich Sie im Café gehört habe, wusste ich gleich, dass Sie Krankenschwester sind."
     "Wie können Sie so etwas wissen?"
     "Ich habe so meine Ahnungen. So haben Sie ihn kennengelernt, im Lazarett?"
     "Chris? Ja. Ja, das stimmt."
     "Ach, Sie waren in Übersee?", fragte Mrs. Peebles.
     "Nein, das war, bevor er nach Übersee ging. Ich habe
ihn gepflegt, als er in Centralia stationiert war und einen geplatzten Blinddarm hatte. Wir haben uns verlobt, und dann ging er nach Übersee. Mein Gott, ist das erfrischend, nach der langen Fahrt."
     "Er wird sich freuen, Sie zu sehen", sagte Dr. Peebles. "Bei seinem turbulenten Leben, an keinem Ort lange genug, um Freundschaften zu schließen."
     "Das ist aber eine lange Verlobung", sagte Loretta Bird.
     Alice Kelling ging darüber hinweg. "Ich wollte mir ein Zimmer im Hotel nehmen, aber als mir angeboten wurde, den Weg gezeigt zu kriegen, bin ich erst einmal herausgekommen. Könnte ich vielleicht dort anrufen?"
     "Nicht nötig", sagte Dr. Peebles. "Sie sind fünf Meilen weit von ihm weg, wenn Sie im Hotel übernachten. Hier brauchen Sie nur über die Straße zu gehen. Bleiben Sie bei uns. Wir haben Zimmer über Zimmer, schauen Sie sich dieses große Haus an."
     Leute zum Bleiben aufzufordern, einfach so, ist sicherlich auf dem Land Sitte, und vielleicht hielt er es inzwischen für selbstverständlich, aber nicht Mrs. Peebles,nach der Art zu urteilen, wie sie sagte, oh ja, wir haben viel Platz. Auch nicht Alice Kelling, die immer wieder protestierte, schließlich aber den Widerstand aufgab. Ich hatte das Gefühl, es war verlockend für sie, so nah zu sein. Ich versuchte, ihren Ring zu erspähen. Ihre Nägel waren rot lackiert, ihre Finger sommersprossig und faltig. Es war ein winziger Stein. Muriel Lowes Kusine hatte einen doppelt so großen.
     Chris kam Wasser holen, am späten Nachmittag, wie Dr. Peebles vorausgesagt hatte. Er hatte das Auto bestimmt schon von Weitem erkannt. Er kam lächelnd.
     "Hier bin ich und jage dir nach, um zu sehen, was du so treibst", rief Alice Kelling. Sie stand auf und ging ihm entgegen, und sie küssten sich vor uns, berührten sich nur ganz kurz.
     "Auf die Weise wirst du viel Geld für Benzin ausgeben", sagte Chris.
     Dr. Peebles lud Chris ein, zum Abendessen zu bleiben, da er schon sein Schild aufgestellt hatte, auf dem stand: KEINE FLÜGE MEHR BIS 19.00. Mrs. Peebles wollte, dass im Hof angerichtet wurde, trotz der Insekten. Für alle vom Land ist dieses Draußen-im-Freien-Essen etwas Sonderbares. Ich hatte schon Kartoffelsalat zubereitet, und sie hatte Gemüsesülze gemacht, etwas, was sie konnte, also ging es nur darum, beides hinauszutragen und dazu noch aufgeschnittenen Braten und Gurken und frischen Kopfsalat. Loretta Bird lungerte noch eine Weile herum und sagte: "Na, ich muss dann wohl mal nach Hause zu diesen Schreihälsen" und "Es ist so schön, einfach hier zu sitzen, ich hasse es, aufzustehen", aber zumeiner Erleichterung lud niemand sie ein, und schließlich musste sie gehen.
     Nachdem an jenem Abend die Flüge beendet waren, fuhr Chris mit Alice Kelling in ihrem Auto fort. Ich lag wach, bis sie zurückkamen. Als ich die Autoscheinwerfer meine Zimmerdecke streifen sah, stand ich auf, um die beiden durch die Spalten meiner Jalousie zu beobachten. Ich weiß nicht, was ich zu sehen erwartete. Muriel Lowe und ich schliefen immer auf der vorderen Veranda, um zu beobachten, wie ihre Schwester ihrem Freund gute Nacht sagte. Hinterher konnten wir nicht einschlafen vor lauter Verlangen, dass jemand uns küsste und sich an uns rieb, und wir erzählten uns, angenommen, du wärst auf einem Boot mit einem Jungen, und er würde dich nur wieder an Land bringen, wenn du es tätest, oder was, wenn jemand dich in einer Scheune gefangen hält, dann müsstest du doch, es wäre nicht deine Schuld. Muriel sagte, ihre beiden Kusinen versuchten mit der Papprolle aus dem Toilettenpapier, dass eine von ihnen der Junge war. Wir machten nichts Derartiges; lagen nur da und rätselten.
     Es geschah weiter nichts, als dass Chris auf der einen Seite des Autos ausstieg und sie auf der anderen und dass beide in verschiedene Richtungen gingen - er zum Rummelplatz und sie zu unserem Haus. Ich ging wieder zu Bett und stellte mir vor, wie ich mit ihm nach Hause kam, ganz anders.

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