Vorgeblättert

Leseprobe zu Azar Nafisi: Die schönen Lügen meiner Mutter. Teil 2

26.04.2010.
Die besten Erinnerungen an meine Mutter sind unsere gemeinsamen Spaziergänge durch die Straßen von Teheran. Insbesondere eine Straße wird immer das Teheran verkörpern, das ich liebe und in das ich zurückkehren möchte, selbst heute noch, während ich an meinem Schreibtisch sitze, in einer Stadt, die mir sehr viel mehr Freiheit gelassen hat und zugleich weniger Erinnerungen birgt. Als ich die Bilder in mir aufsteigen lasse, fällt mir plötzlich auf, dass der Name der Straße derselbe ist wie der meines Mannes: Naderi.
     Der Großteil meiner Kindheit, so kommt es mir vor, hat sich auf der Naderi-Straße und dem von ihr abzweigenden Netz von Straßen, abgespielt. Es gab den Piroggen-Stand und den Laden für Nüsse und Gewürze, den Fischmarkt, eine Parfümerie namens Jilla, wo meine Mutter L'Air du Temps von Nina Ricci kaufte und wo ich vom Besitzer immer ein paar Pröbchen bekam (echantillons nannten wir sie, solche Dinge hatten immer französische Namen). Und das Cafe, das einen fremd klingenden Namen hatte (gerade springt er mich aus der Erinnerung an: Aibeta hieß es), wo Mutter ihre Schokolade kaufte. Von allen Gerüchen und Düften dieser verwunschenen Straße ist mir der von Schokolade, die wir wie im Französischen chocolat aussprachen, am stärksten gegenwärtig. Es gab neben der Klinik, in der ich geimpft wurde, eine kleine Schokoladenfabrik, und meine Mutter belohnte mich nach jeder Impfung mit Schokolade aus dieser Fabrik. Das war meine erste Begegnung mit weißer Schokolade, die ich nicht deshalb liebte, weil sie besser schmeckte, sondern weil sie so ungewohnt aussah.
     Die Naderi-Straße ging in die Istanbul-Straße über, die nach links in die Lalehzar abzweigte - die Avenue der Tulpen. Während der Herrschaft der Kadscharenkönige im späten 19. Jahrhundert war dieser Streifen Land ein riesiger Tulpengarten gewesen. Die Regierung legte eine Avenue quer durch die Gärten und schuf so eines der belebtesten Geschäft sviertel von Teheran, in dem es auch Theater und Kinos gab. Was für ein Name für eine Geschäftsstraße! In der Lalehzar roch es immer nach Leder. Meine Mutter und ich durchkämmten die Geschäfte, überfüllte Läden mit Dessous, Stoffen, Lederwaren. Überall wechselte sie ein paar freundliche Worte und plauderte mit den Besitzerinnen, während ich herumwanderte und in die Hinterzimmer spähte, um einen Blick in die halbdunklen Werkstätten zu erhaschen, in denen Stoff- und Lederstreifen in Büstenhalter, Negliges, Schuhe und Taschen verwandelt wurden.
     Einmal im Monat gingen wir in einen Spielzeugladen auf der Naderi-Straße, der den Namen Iran trug und nach Mutters Ansicht der beste in ganz Teheran war. Sie suchte ein neues Spielzeug oder eine neue Puppe für mich aus, die dann zu Hause zu den anderen in den Schrank gesperrt wurden. Ich erinnere mich lebhaft an das Neonschild über der Tür dieses Geschäfts: ein großer, lustiger Nikolaus mit einem Rentier vor seinem Schlitten. Dieser Anblick kam uns nicht seltsam vor, so wenig wie die Namen vieler Restaurants und Filmtheater: Riviera, Niagara, Rex, Metropol, Radio City, Moulin Rouge, Chattamooga. Für mich war der Nikolaus so vertraut wie der Iran; wir nannten ihn Baba Noel. Wir akzeptierten all das als einen Teil des modernen Iran - wobei "modern" auch ein übernommenes Fremdwort war. Mein Vater sprach gerne mit einer Spur Sarkasmus von der erstaunlichen Flexibilität der persischen Sprache, die er mit der bedauerlichen Flexibilität seiner Bevölkerung verglich. Aber wie flexibel waren wir wirklich, und welchen Preis würden für all die Flexibilität zahlen?
     Die Ladenbesitzer der Naderi-Straße und des angrenzenden Viertels waren in der Mehrzahl Armenier, Juden oder Aserbaidschaner. Im 16. Jahrhundert, während der Regierungszeit des mächtigen Safawidenkönigs Schah Abbas, waren viele Armenier aus dem Iran vertrieben worden. Einige Armenier und Juden wanderten nach der Revolution aus Russland wieder ein; manche kamen nach dem Zweiten Weltkrieg aus Polen und anderen sowjetischen Satellitenstaaten. So wie es üblich war, Süßigkeiten und Eis von armenischen Händlern oder Stoffe und Parfum in jüdischen Läden zu kaufen, so selbstverständlich war es für manche Familien, die Minoritäten zu meiden, weil sie "unrein" waren. Kinder klopften an ihre Türen und sangen: "Armenier, armenischer Hund, Straßenfeger der Hölle". Die Juden waren nicht nur schmutzig, sie tranken auch noch das Blut unschuldiger Kinder. Zoroastrier waren Feuer anbeter und Ungläubige, während die Baha'i, eine abtrünnige islamische Sekte, nicht nur als Häretiker,sondern auch als britische Agenten und Spione verschrien waren, die getötet werden durften und sollten. Mutter ließ sich davon wenig beirren; trotz eines breiten Spektrums anderer Vorurteile gehorchte sie den Regeln ihres eigenen Universums, in dem die Menschen im Wesentlichen danach beurteilt wurden, bis zu welchem Grad sie ihre Werte und Fantasien billigten. Die meisten Menschen schienen ihren Platz in der sozialen Schichtung zu akzeptieren, nur gelegentlich traten die latenten Spannungen an die Oberfläche, bis sich der versteckte Konflikt mehrere Jahrzehnte später, nach der Islamischen Revolution, im Jahr 1979 blutig entlud, als die Islamisten viele Armenier, Juden und Baha'i angriffen, einsperrten und ermordeten und Restaurants dazu zwangen, in ihren Fenstern Schilder mit der Aufschrift "religiöse Minderheit" aufzustellen, wenn ihre Besitzer keine Muslime waren. Doch wir dürfen nicht alles der Islamischen Republik anlasten, denn in gewisser Weise brachte sie nur einen längst existierenden religiösen Eifer ans Tageslicht und verstärkte ihn.
     An den Donnerstagabenden, dem Beginn unseres Wochenendes, schlenderte ich mit meinem Vater durch dieselben Straßen. Wir statteten gewöhnlich dem weitläufi gen Delikatessenladen neben dem Ledergeschäft einen Besuch ab, wo wir Würste und manchmal Schinken oder Mortadella für unser Freitagsfrühstück kauften. Danach machten wir uns gemächlich auf die Suche nach einem Film oder einem Theaterstück. Nachts änderten sich das Aussehen und die Gerüche dieser Straßen. Überall auf der Naderi, der Istanbul und der Lalehzar gab es Restaurants, Th eater, Kinos und Kabarets im persischen Stil, jedes mit seiner eigenen Klientel aus unterschiedlichen Schichten und Milieus. Meistens landeten wir im Cafe Naderi, das ein Armenier führte. Es hatte einen wunderschönen Garten, in dem im Sommer immer Musik gespielt und getanzt wurde. Dorthin nahmen uns unsere Eltern schon als kleine Kinder oft mit. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie getanzt hätten, aber meine Mutter erzählte hin und wieder, was für eine perfekte Tänzerin sie gewesen sei. Manchmal lief ich mit den anderen Kindern zu den Erwachsenen auf die Tanzfläche, und wir bewegten uns zur Musik, dem Cha-Cha-Cha oder langsameren Tänzen wie dem Tango.
     Einige Straßen weiter lag ein traditionelleres Cafe, dessen Namen ich vergessen habe; es wurde vor allem von Männern frequentiert und man spielte dort meist persische Musik, manchmal auch aserbaidschanische oder arabische, die viel erotischer klang als der Cha-Cha-Cha oder der Tango im Cafe Naderi. Dieses Cafe und ähnliche waren immer voll; man trank vorwiegend Bier und Wodka zu Kebab. Die Männer, die oft hingingen, schwärmten für bestimmte Sängerinnen, von denen einige eine geradezu legendäre Berühmtheit erlangten; heute findet man ihre Bilder auf YouTube, als Andenken an eine vergangene, aber nicht vergessene Zeit. Doch nur wenige Straßen südlich fand sich ein ganz anderes Teheran - religiös, fromm und voller Hass auf das, was man dort als Exzesse einer heidnischen Kultur betrachtete.
     Die berauschende Kakophonie der Straße vermischte sich mit der leisen, klangvollen Stimme meines Vaters, wenn er mir eine seiner Geschichten erzählte. Ich wurde in jene andere Welt entführt, die von Firdausis Kriegern und Dämonen und seinen Heldinnen mit den rabenschwarzen Haaren, dem unartigen Pinocchio, Tom Sawyer, La Fontaines Tieren und Hans Christian Andersens armer kleiner Streichholzverkäuferin bevölkert war, deren Schattengestalt mich heute noch verfolgt, weil ich nie akzeptieren konnte, dass all ihr Leiden in dieser Welt nur mit dem Tod entlohnt wurde.
     Einmal, als ich vier Jahre alt war, verlor ich meine Mutter auf dem Rückweg vom Ballettunterricht aus den Augen. Wir hatten uns in verschiedenen Geschäften umgesehen, und als ich aus einem hinausging und mich nach einer Weile umdrehte, war meine Mutter verschwunden. Leise weinend stolperte ich weiter. Ich kannte die Straße gut, jeder Laden war wie ein Brotkrumen, der mich näher an mein sicheres Zuhause brachte: der Spielzeugladen, die Confiserie, der Fischhändler, die Schuhgeschäfte, die Kinos, die Juweliere, bis ich zu meinem Lieblingsgeschäft kam, einer Bäckerei namens Noushin. Ich liebte alles an Noushin, besonders das Eis mit der Schokoladensauce, das Vita Crème hieß. Immer wenn wir das Geschäft betraten, begrüßte uns sein Besitzer, ein lustiger Armenier, der mich gerne neckte, indem er verkündete, er habe mich als zukünftige Braut für seinen Sohn ins Auge gefasst. Diesmal platzte ich noch vor der Begrüßung damit heraus, dass ich meine Mutter verloren hätte, und fing an zu weinen. Er versuchte mich zu beruhigen und bot mir ein Vita Crème an, aber ich war ein gut erzogenes Mädchen und nahm nie etwas ohne die Erlaubnis meiner Eltern an. Und außerdem war ich so verängstigt, dass ich nicht einmal ein Eis wollte.
     Mutters Stimme war die Erleichterung anzumerken, als sie meinen Namen ausstieß: "Azi!" Doch ihr angstvoller Blick stand in krassem Gegensatz dazu. Ich werde diesen panischen Blick nie vergessen, weil er in den folgenden Jahrzehnten auch bei viel geringfügigeren Vorfällen immer wieder in ihre Augen trat: Wenn mein Bruder und ich zu lange ausgingen, wenn Vater nicht zur vereinbarten Zeit anrief oder wir nicht zu Hause waren, wenn sie von einer Party zurückkehrte. Später wurden ihre Enkel dieser immerwährenden Erwartung tragischer Ereignisse ausgesetzt, da ich sie unbewusst verinnerlicht und mir zu eigen gemacht hatte.
     Als ich nach der Revolution nach Teheran zurückkehrte, führte mich einer meiner ersten nostalgischen Spaziergänge in diese Straßen. Ich fühlte mich, als wanderte ich auf den Seiten von Firdausis Schahnameh umher - und erlebte eine der immer wiederkehrenden Szenen, in denen der Protagonist, der ein gastliches Fest erwartet, statt dessen einer Hexe in die Falle geht. Ich hätte mir in meinen wildesten Träumen nicht ausgemalt, dass Naderi und Lalehzar eines Tages zum Schauplatz blutiger Demonstrationen werden könnten und ich vor Milizen und Ordnungshütern würde fl üchten müssen, vorbei am Spielzeugladen, der Confiserie, dem Laden mit Nüssen und Gewürzen, der Ruine des Kinos, in dem ich meinen ersten Film gesehen habe, und dass ich nicht eine Sekunde Zeit für Reminiszenzen haben würde.


Kapitel 4

Kaffeestunde

Seit ich denken kann, lud meine Mutter alle möglichen Leute zu uns nach Hause ein, manchmal zum Essen, häufi ger jedoch nur zu Kaffee und Gebäck. Sie hatte mehrere Kaffeeservice, die sie je nach Anlass hervorholte: in kräftigen Farben mit dickerem Rand für enge Freunde und Familienangehörige, und elegantere - cremefarben mit Blumendekor oder weißes Porzellan mit Goldrand - für formellere Zusammenkünfte. Journalisten, Damen der Gesellschaft , Taxifahrer, ihre Friseurin, sie alle wurden zu verschiedenen Tageszeiten hereingebeten, während Mutter majestätisch über ihrem kleinen Kaffeemaschinchen präsidierte. Die Diskussionsthemen variierten bei diesem Ritual je nach Zusammensetzung der Runde, und ich saß wie gebannt in einer Zimmerecke und beobachtete meine Mutter, wie sie allen im Raum, auch mir, Kaff ee einschenkte. Später gab sie meinen Kindern Kaffee zu trinken, als sie gerade mal vier waren, und wischte meine vehementen Einwände vom Tisch: "Also", rügte sie, "sag du mir nicht, wie man Kinder ernährt!" Daraufhin schenkte sie meinen amüsierten Nachkommen Kaff ee ein, den sie nicht mochten, gab ihnen Schokolade, die sie mochten, und ermunterte sie: "Hört nicht auf eure Mutter. Nur zu, nur zu. Trinkt euren Kaffee und esst eure Schokolade."
     Als Kind hielt ich mich im Hintergrund und beschäft igte mich ab und zu mit meinen Ausschneidepuppen oder später mit einem Buch oder einer Zeitschrift. An Tagen, an denen meine Mutter mit mir zufrieden war, warf sie mir hin und wieder ein Lächeln zu oder bot mir ein Stück Gebäck an und verkündete, wie unnatürlich es für ein kleines Mädchen sei, ihre Zeit mit Lesen zu verbringen. Selbst wenn ich gerade nicht in ihrer Gunst stand, wurde ich von diesen Kaffeestunden nie ausgeschlossen. Ich glaube sogar, dass es ihr in gewisser Weise gefiel, mich dabeizuhaben. Ihr Zorn brauchte ein Publikum. Er konnte sich erst in der Öff entlichkeit richtig entfalten.
     Mindestens zweimal pro Woche lud sie für zehn Uhr ihre Freundinnen ein, um mit ihnen Klatschgeschichten auszutauschen und Kaffeesatz zu lesen. Da sie eine Frühaufsteherin war, verlegte sie so viele Aktivitäten wie möglich auf den Vormittag. Bei diesen Zusammenkünften war wenig von der Diktatorin zu spüren, die ich kannte. Mutters Kaffeestunden hatten etwas Skurriles, als hätten sich alle nur versammelt, um aufregende Geheimnisse zu lüften. "Sie kann doch nicht allen Ernstes mit ihm schlafen?" - "Hat ausgerechnet sie eine so gute Partie verdient?" - "Wie können Männer nur so grausam und gleichzeitig so dumm sein." Der Ton machte die Musik: die Gemeinheiten eines Ehemannes, eine hässliche Scheidung, ein Todesfall - über alles sprach man auf eine Art und Weise, durch die der Schmerz und der Skandal weit weg oder wenigstens überwindbar schienen. Manchmal warfen die Frauen argwöhnische Blicke in meine Richtung und senkten die Stimme. Einmal deutete eine auf mich und zitierte als Warnung ein persisches Sprichwort: "Vergessen wir nicht, dass die Wände Mäuse und kleine Mäuse Ohren haben!"
     Ganz besonders klar sind die Erinnerungsbilder, in denen meine Mutter strickt. Sie und Monir joon, eine Freundin und ehemalige Nachbarin, tauschten sich im selben Atemzug und mit dem gleichen Eifer über Klatsch und Strickmuster aus. Mutter strickte zu allen Jahreszeiten, sogar im Sommer, wenn man auch nie wusste, was bei diesen Bemühungen herauskommen würde. Sie hielt sich selten an Anleitungen, sondern suchte sich lieber selbst die Farben aus und erfand eigene Muster, wodurch die Resultate noch unvorhersehbarer wurden.
     Die Friseurin meiner Mutter, eine junge geschiedene Frau namens Goli, war bei diesen Treff en oft dabei. Eine ihrer Aufgaben war das Kaffeesatzlesen, eine Fertigkeit, in der sich auch Mutter versuchte. Wenn der Kaffee ausgetrunken war, drehten die Frauen ihre Tassen um - zum Herzen hin - und ließen sie auf den Untertassen stehen, bis der Satz zu trocken begann. Goli nahm jede einzeln in die Hand und spann aus den Linien und Wirbeln, die der Kaffeesatz bildete, unglaubliche Geschichten über vergangene, gegenwärtige und zukünftige Nöte und Eroberungen. Sie hatte ein viereckiges Gesicht, große Augen und dünne Lippen; wenn sie die Tasse in der Hand drehte und wendete, kniff sie die Lippen so zusammen, dass sie fast ganz verschwanden. Ich sah ihr mit Vorliebe bei diesem Trick zu und wartete darauf, dass die Lippen wieder sichtbar würden.
     Mein Blick streift Monir joon, eine dünne Jungfer mit einer scharf geschnittenen Nase, blauen Augen und ausgeblichenen, krausen roten Haaren, die kurze, abgehackte Sätze von sich gibt. Ich sehe die faule, übergewichtige Fachri joon, auch eine begabte Kaffeesatzleserin, die die Tasse in ihren plumpen Händen mit den überraschend langen Fingern dreht, und die fromme Schirin Khanum, deren Anwesenheit meist zu Spannungen führte, da nur wenige ihre selbstgerechten Äußerungen ertragen konnten. Ich möchte bei meiner Tante Mina verweilen, die sich immer einen Stuhl an einer möglichst unauffälligen Stelle suchte und selten einen Kommentar abgab. Wenn die anderen aufbrachen, blieb sie gewöhnlich noch zum Mittagessen. Mein Bruder und ich nannten die engen Freunde und Verwandten unserer Eltern generell Onkel oder Tante, aber Tante Mina war etwas Besonderes. "Die Schwester, die ich nie hatte", sagte Mutter gerne. Tatsächlich hatte sie eine echte Schwester, wenn auch Halbschwester, namens Nafi seh, mit der sie eine heikle Hassliebe verband.
     Tante Mina und meine Mutter hatten dieselbe Klasse in der Jeanne-d'Arc-Schule besucht, eine der wenigen Mädchenschulen in Teheran. Sie wurde von französischen Nonnen geführt. Beide waren sehr gute Schülerinnen und wetteiferten heftig miteinander. Die Konkurrenz verwandelte sich mit der Zeit in einen widerstrebenden Respekt; sie begannen, gemeinsam zu lernen und wurden unzertrennliche Freundinnen. Viele Jahre lang, bis zu ihrem Zerwürfnis, sahen wir Tante Mina fast täglich. Wir aßen entweder bei ihr oder bei uns zu Abend, und an den meisten Wochenenden und Feiertagen planten wir gemeinsame Aktivitäten.
     Tante Mina war leicht übergewichtig, wozu ihre schlanken, eleganten Beine einen Kontrast bildeten. Meistens trug sie die langen Haare im Nacken zu einem eleganten, lockeren Knoten geschlungen. Aber das alles erklärt nicht die Aura, die sie um sich verbreitete. Man hätte meinen könnn, sie würde sich unablässig vor unerwarteten Schlägen in Acht nehmen. Sie hatte als Kind beide Eltern verloren und war mit ihrer Schwester und zwei Brüdern von einem älteren Onkel, einem einflussreichen Politiker und ehemaligen Botschafter in Russland, aufgenommen worden, der schon zwei Töchter hatte. Hin und wieder sagte meine Mutter mitleidig, Mina werde vom Unglück verfolgt. Ihre Cousinen gingen auf die Universität und machten sich als Akademikerinnen einen Namen, sie dagegen konnte nur das Gymnasium abschließen. Damals hatte sie kein Geld. Sie wurde mit einem Mann verheiratet, der ihrem Onkel sehr ähnelte: Er war ehrgeizig, unflexibel und unnahbar. Allerdings ging ihm die Energie des Onkels und diese undefi nierbare Eigenschaft, die man Rückgrat nennt, ab. Zwei ihrer Geschwister - ihre ältere Schwester und ein Bruder - starben mit Anfang zwanzig, und der zweite Bruder erlag zwanzig Jahre später einem Herzinfarkt. Beim Tod ihres jüngeren Bruders erbte Mina alles. Doch da war es schon zu spät.
     Tante Minas Mann gelang es nur zum Teil, seine ehrgeizigen Pläne umzusetzen; wahrscheinlich gebärdete er sich aus diesem Grund zu Hause wie eine Autoritätsperson. Meine Mutter bewunderte ihn sehr und hing an seinen Lippen, obwohl er sich meinem Vater gegenüber sehr herablassend verhielt, was Tante Mina nicht entging, die sich über Mutters Schwäche für autoritäre Männer lustig machte. "Nezhat ist blind für ihre Schwächen", sagte sie. Ich selbst mochte ihn nicht, weil er mich viel zu sehr mochte. Immer wenn er mich allein antraf, etwa beim Mittagsschlaf oder im Flur am Telefon mit einer Freundin, versuchte er mich zu umarmen und mir zu sagen, was für ein wunderbares Mädchen ich sei und wie sehr er mich mochte. Ich konnte mich darüber bei meinen Eltern nicht beschweren, sondern nur versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Manchmal verspürte ich eine perverse Befriedigung, wenn ich daran dachte, wie sehr sich meine schwärmerische Mutter in ihm täuschte.

Teil 3
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