Vorgeblättert

Leseprobe zu German Sadulajew: Ich bin Tschetschene. Teil 2

29.06.2009.
4

Dreihundert Jahre waren vergangen, die Nomaden hatten sich gegenseitig niedergemetzelt und waren in den Weiten der Steppe verstreut. Die von ihrer Reiterei aufgewirbelten Staubwolken hatten sich gelegt. Daraufhin kehrte ich zurück. Ich erinnere mich, wie ich deinen Busen mit dem Hakenpflug durchfurchte, er war eingefallen und festgestampft von den Hufen der Heerlager. Ausgetrocknet war er, ohne Milch. Ich fiel zu Boden, ich umarmte dich und weinte, Mutter. Dann hielten wir unsere Rituale ab. Zur Sommerzeit fingen wir Schlangen und hängten sie an den Bäumen auf. Wir zerstörten Krähennester. Wir pflügten die trockenen Flußbette auf, flußauf- und flußabwärts. Wir schauten zu den Bergen. Und dann kamst du zu uns zurück, Mutter. Als der nächste Frühling begann, legtest du verschämt deine Schulter bloß, die Schwarzerdeschicht kehrte sich zuoberst, und für uns floß die Milch wieder.
Ihr braucht keine Angst zu haben. Wenn der Tod kommt, gehen wir in die Berge und bauen dort Türme.

5

Aber ich ging nicht in die Berge. Ich setzte mich in einen Zug und fuhr zurück in die Stadt im Norden. Ich war nicht bei dir. Kannst du mir verzeihen, Mutter?
Ich war nicht bei dir, als die ersten schweren Bomben fielen. Du konntest sie nicht abwehren, dein Kleid wurde zerfetzt, Bombentrichter rissen deinen Frauenleib auf, daß sogar der schamlose, grausame Himmel seine Augen schloß. Ich hätte deine Wunden bedecken sollen, ich hätte wenigstens einen einzigen Splitter von dir abhalten, deinen Körper mit meinem Blut waschen, mein Gesicht an dich pressen und deinen Schmerz in mich aufnehmen sollen. Aber ich war nicht bei dir.
Du wolltest zum Luftschutzbunker, schon halb blind, mit deinen kranken Beinen, gestützt auf deine Freundin und Nachbarin, einer im ganzen Umkreis beliebten russischen Krankenschwester, man nannte sie Tante Dusja, alle kannten sie, sie humpelte von Geburt an. Ein Kampfpilot beschoß euch im Scherz mit seinem Maschinengewehr, du brachst in Tränen aus und setztest dich am Wegrand hin. Denn du konntest nicht schneller gehen mit deinen müden, durch die geschwollenen Venen verunstalteten Beinen, und Tante Dusja setzte sich daneben und weinte ebenfalls. Dann ging dem Piloten die Munition aus, und er flog davon. Du hobst deine weiße Hand, du strecktest sie nach oben, mit deinen fast erblindeten Augen schautest du zum Himmel und riefst: "Sei verflucht!"
Du hattest keine "Stinger", keine Zenit-Anlage, keine Boden-Luft-Raketen, keine Luftverteidigungsradare. Du hattest nur deinen Fluch, gerichtet zum Himmel mit seiner ermüdeten Engelschar und zum Piloten hinter dem Steuerhorn des Bombenflugzeugs. Der Himmel bedeckte sich mit dicken Wolken, drei Tage lang fiel Regen. Und der Pilot wurde durch einen einsamen Schuß aus einer Kalaschnikow abgeschossen, man fand ihn am Boden liegend, verheddert in den Fangleinen seines Fallschirms, man schnitt ihm die Kehle durch.
Aber ich war nicht bei dir.
Und als die schweren Raupenketten der Panzer dich niederdrückten, als die Angriffe Tage und Nächte anhielten, als du Blut verlorst, deine von Vakuum-Bomben zerstörten Häuser in sich zusammenfielen, als du vor Schmerz leise in einem der hinteren Zimmer unseres Hauses stöhntest, als du die von den Splittern rührenden Schrammen in den Mauern nicht mehr bedecktest und die Fensterscheiben nicht mehr erneuertest, da war ich nicht bei dir.
Ich fürchtete mich vor dem Wiedersehen mit dir. Ich fürchtete mich, dir in die Augen zu schauen. Ich kehrte zurück und begriff, wie überflüssig meine Furcht vor einem Vorwurf in deinem Blick gewesen war. Als ich zurückkehrte und in deine Augen sah, konnte es keinen Vorwurf in deinem Blick geben. Du warst blind. Und das Haus war blind, mit leeren Fensteraugenhöhlen.
Aber du nahmst meine Hand und sagtest: "Grüß dich, mein Sohn! Schön, daß du zu Hause bist."

6

Schwer ist es, Tschetschene zu sein. Wenn man Tschetschene ist, muß man seinen Feind, wenn er als Gast anklopft, bewirten und beherbergen. Man muß ohne Zaudern für die Ehre eines Mädchens sterben. Man muß seinen Bluträcher töten, indem man ihm einen Dolch durch die Brust bohrt, denn man darf ihn nicht hinterrücks erschießen. Man muß seinem Freund das letzte Stück Brot überlassen. Man muß anhalten und aus dem Auto steigen, um einen vorübergehenden Ältesten zu grüßen. Man darf nicht weglaufen; selbst wenn die Feinde zu tausend sind und es keine Chance gibt zu siegen, muß man den Kampf mit ihnen aufnehmen. Und man darf nicht weinen, egal, was geschieht. Selbst wenn du von einer geliebten Frau verlassen wirst, wenn Armut dein Haus verwüstet oder in deinen Armen Kameraden verbluten, du darfst nicht weinen, wenn du Tschetschene bist, wenn du ein Mann bist. Nur ein Mal, ein einziges Mal im Leben darfst du weinen: wenn deine Mutter stirbt.
Als der Krieg begann, wollte meine ältere Schwester unsere Eltern zu sich nach Noworossijsk holen. Meine Mutter und mein Vater waren dagegen, sie glaubten immer noch, daß der Krieg nicht lange dauern würde, daß es sich um einen grausamen Fehler handelte, ein Mißverständnis, daß bald alles vorbei sei. Sie wollten ihren Heimatort nicht verlassen. Immer wieder kamen sie zu meiner Schwester zu Besuch, verfolgten die Fernsehnachrichten, und wenn man vom Bildschirm aus sagte, daß die Kampfhandlungen eingestellt worden seien, glaubten sie es und fuhren wieder nach Hause, ohne auf die Bitten meiner Schwester zu achten. So ging es mehrere Male, bis meine Eltern sich endlich entschlossen zu bleiben. Sie zogen um, und in Schali blieb nur unsere zweite Schwester zurück, Sarema. Sie wollte heiraten und lehnte es entschieden ab, wegzuziehen.
Nach einem langen, beschwerlichen Leben und dem schrecklichen Krieg lebten meine Mutter und mein Vater drei Jahre in Noworossijsk, die zu den glücklichsten ihres Lebens wurden. Vorher hatte immer etwas gestört, sie daran gehindert, einfach nur zusammenzusein. Zuerst die Arbeit, die Trinkgelage meines Vaters mit Kollegen, Besuch von Gästen, die Streitereien mit Verwandten. Und dann noch das Gefängnis. Und der Krieg. Nun war das alles vorbei. Meine Mutter war erblindet und schwer krank, von welchem Glück hätte da die Rede sein können? Aber sie waren glücklich. Den ganzen Tag blieb mein Vater in der Nähe meiner Mutter, sie hatten Zeit für Gespräche, mußten nirgendwo mehr hin. Jeden Abend nahm er sie bei der Hand, und sie spazierten über den abendlichen Hof, endlos, besonders im Sommer, wenn man ganz trunken ist von den Gerüchen des Südens und die Wärme einen schwindlig macht. Und alle Nachbarn beobachteten sie mit hellem Neid, das verliebte Paar, das schon mehr als dreißig Jahre zusammenlebte.
Als Sarema verwundet wurde, verschlechterte sich der Zustand meiner Mutter zusehends. Diese Boden-Boden-Rakete brachte meine Mutter dem Tod näher, nahm ihnen ein paar weitere Jahre, Jahre des ungetrübten Glücks im Leben meines Vaters und meiner Mutter.
Ein Jahr später ging es Sarema schon besser, sie war fast wieder gesund, aber unsere Mutter ... Ich bekam einen Anruf von meiner älteren Schwester, und wir flogen noch am selben Tag von Sankt Petersburg ab. Als wir in die Wohnung kamen, war Mutter noch am Leben, oder ... ich weiß es nicht. Ob sie uns gehört hat, ob sie gefühlt hat, daß wir da sind, ob sie gespürt hat, daß ich ihre Hand hielt. Meine Mutter lag im Koma, die ganze Nacht. Am Morgen wurde sie ruhig.
Im Haus waren die Spiegel verhängt, deswegen hatte ich es nicht bemerkt. Es war meine Schwester, sie blickte mich an und sagte: Du hast graue Schläfen. Ich war über Nacht grau geworden.
Und ich ließ alle meine Tränen fließen. Nur einmal im Leben darf ein Mann weinen, und dabei weint er alle Tränen seines Lebens, um alles, was war, und um alles, was sein wird, im voraus.
Am Morgen verließ ich das Haus. Ich schaute mich um und spürte eine leichte, klirrende Leere. Da war keine Angst mehr. An jenem Morgen hatte ich aufgehört, mich zu ängstigen. Nun konnte nichts Schlimmes mehr passieren. Es war bereits geschehen. Keine Tränen mehr. Nie wieder werde ich weinen.

Teil 3