Vorgeblättert

Leseprobe zu J.J. Voskuil: Das Büro. Teil 2

09.07.2012.
In ihrer Art war diese Intervention vernichtend. Maarten wusste, was in dem Artikel stand. Es war einer der Aufsätze, die eine viel plausiblere Erklärung lieferten als die, die Zandstra gerade präsentiert hatte. Der Gedanke versetzte ihn derart in Erregung, dass er kaum auf die anderen Reaktionen aus dem Saal hörte. Fieberhaft suchte er nach einer vernichtenden Formulierung, mit der er diesen Aufschneider in die Schranken weisen konnte, verhedderte sich in seinen Gedanken und spürte, wie er unter dem Druck der Forderung nach Konsequenz immer unglücklicher wurde. Abwesend lauschte er den Worten eines weiteren Zuhörers, ohne dass deren Bedeutung zu ihm durchdrang. "Niemand?", hörte er Zandstra in der Ferne sagen. Ohne weiter nachzudenken, stand er auf. "Es gibt sehr viel bessere Erklärungen!", sagte er laut. Es klang unerhört aggressiv.
"Dann lade ich Sie nun zum Mittagessen im Restaurant ein", sagte Zandstra, ohne Maartens Worten Beachtung zu schenken.
Um ihn herum erhoben sich die Leute lärmend und setzten sich in Bewegung, um die Reihen zu verlassen. Maarten wollte noch etwas sagen, doch da Zandstra sich ebenfalls abwandte und von der Bühne stieg, schwieg er. Er sah Beerta an und lachte hilflos.
"Beim nächsten Mal musst du es etwas besser t-timen", sagte Beerta.
"Skandalös, so schlecht, wie das vorbereitet war", sagte Buitenrust Hettema. Er war rot vor Wut und wackelte mit dem Kopf, so dass seine Wangen zitterten.
"Er hätte sich besser vorbereiten müssen", pflichtete ihm Beerta bei. "Es ist auf jeden Fall unverschämt", sagte Buitenrust Hettema mit unterdrückter Wut.

Als Maarten das Restaurant betrat, war es bereits voll mit Leuten, die sich unterhielten und ihre Plätze suchten. An dem Tisch, an dem Beerta und Buitenrust Hettema saßen, war kein Platz mehr. Mit etwas Mühe fand er einen leeren Stuhl an einem der hinteren Tische, bei einer fensterlosen Wand. "Ist dieser Stuhl frei?", fragte er verlegen.
Nur der Mann am Kopf des Tisches blickte auf. Er nickte. Maarten zögerte. Er wusste nicht, ob er sich vorstellen musste, aber da niemand auf ihn achtete, nickte er nur und setzte sich. Die fünf anderen waren damit beschäftigt, sich mit Brot und Belag zu versorgen, wobei sie kurze Bitten austauschten. Nachdem er einen Moment zugeschaut hatte, reihte er sich ein und legte ein dunkles Brot auf seinen Teller. "Darf ich Sie um die Butter bitten?", fragte der Mann neben ihm, als Maarten gerade dabei war, mit einer kleinen Gabel eine Scheibe Leberwurst auf seinen Teller zu heben. Maarten reichte ihm die Schale mit den Butterstückchen, nahm selbst auch eines und öffnete das Papier. Befangen schmierte er sein Brot, legte die Leberwurst darauf, vergewisserte sich, dass sich jedermann bedient hatte, und wollte gerade beginnen, als vorne im Saal, dort wo an einem etwas längerer Tisch die Prominenten saßen, mit dem Messer gegen einen Teller geklopft wurde. "Darf ich einen Moment um Ruhe bitten?", fragte die Stimme von Zandstra. Es wurde ganz still. Der Mann neben Maarten bekreuzigte sich, der Mann ihm gegenüber faltete die Hände und senkte den Kopf. In der Stille ertönte aus der Küche das Klirren des Geschirrs und eine Stimme, die in lautem Ton etwas sagte. Maarten senkte den Kopf auch ein wenig, um nicht indiskret zu sein, sah aber doch, dass die Frau ihm gegenüber, eine ältere, resolute Dame, einfach vor sich hin blickte. "Dann wünsche ich Ihnen einen guten Appetit", sagte Zandstra laut. Daraufhin öffneten sich in dem wiedereinsetzenden Stimmgewirr die Schwingtüren zur Küche, und Serviererinnen mit Suppentabletts und Kaffeekannen betraten den Saal.
"Womit sind Sie gerade beschäftigt, wenn ich fragen darf?", erkundigte sich der Mann, der neben Maarten am Kopfende des Tisches saß.
Maarten brauchte einen Moment, bis zu ihm durchdrang, dass sich die Frage an ihn richtete. "Mit Wichtelmännchen", sagte er dann.
Der Mann sah ihn verwundert an, etwas unsicher. "Sehr interessant", fand er.
Maarten nickte vage und sah auf, da die Suppe gerade kam. Er überlegte, ob er nun seinerseits fragen müsse, was der Mann tat, doch da er dies zu indiskret fand und es ihn überdies nicht interessierte, schwieg er.
"Ich hatte den Eindruck, dass Zandstra völlig neue Wege einschlagen wollte", sagte der Mann zu der älteren Dame, die Maarten gegenüber saß.
"Ich fand es außerordentlich fesselnd", antwortete die Frau mit einem ausgeprägten Leidener Akzent.
Maarten sah kurz zu ihr und beugte sich dann wieder über seine Suppe. Während er sie in sich hineinlöffelte, folgte er vage den Gesprächen um sich herum.
"Dazu weiß ich noch eine nette Geschichte", übertönte der Mann, der ihm schräg gegenüber saß, die Unterhaltung.
Maarten sah auf und begegnete dem Blick des Mannes, der ihn sofort in das Gespräch einbezog - ein hochgewachsener Mann mit einem nackten Gesicht und dünnem, nach hinten gekämmtem Haar.
"Sie kennen meine Frau nicht", sagte der Mann zu Maartens Nachbarn, mit einem anschließenden seitlichen Blick zu Maarten, "aber wenn ich Ihnen jetzt erzähle, dass sie sehr jung und charmant aussieht, werden Sie es besser verstehen." Er lächelte voller Vorfreude. "Ich habe nämlich in einer Mitgliederliste entdeckt, dass ein Neffe von mir Trompeter in einem Residenzorchester ist, ein ziemlich großer Neffe, wir sind nämlich alle ziemlich groß, während meine Frau dagegen ziemlich klein ist. Und obwohl ich nie in Konzerte gehe, einfach, weil ich dafür keine Zeit habe, wollte ich mir den Spaß machen, ihn einmal meiner Frau vorzustellen und dann zu ihm zu sagen: Sag einfach Tante." Er lachte vergnügt, mit der Szene noch vor Augen.
Der Mann neben Maarten lachte ein wenig mit. Maarten wartete noch auf die Pointe.
"Also habe ich einmal Karten für ein Konzert für zwei Trompeten gekauft", er machte eine kurze Pause, mit unterdrückter Freude, "und dieser Neffe war aber dritter Trompeter!" Er lachte aus voller Brust.
Der Mann neben Maarten fand es eine schöne Geschichte. Maarten wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. "Vielleicht wird es noch einmal ein Stück für drei Trompeten geben", sagte er schließlich, unfreundlicher, als es gemeint war.
"Wer weiß", sagte der Mann desinteressiert und begann ein neues Gespräch mit seinem Nachbarn auf der anderen Seite.

Nach dem Mittagessen hatten sie noch eine halbe Stunde Zeit. Als Maarten aus dem Speisesaal kam und die Halle betrat, war sie voll mit Grüppchen von Leuten, die sich unterhielten. Ihm kam kurz der Gedanke, sich der Gruppe um Balk und Beerta anzuschließen, er verwarf ihn jedoch sofort wieder. Ohne sich umzusehen, als wäre er mit einem klaren Ziel unterwegs, durchquerte er die Halle, ging an der Garderobe vorbei durch die Eingangstür und in den Garten hinaus. Die Kälte und die Feuchtigkeit taten gut. Er eilte den Weg entlang, vom Gebäude weg, und blickte sich erst um, als er das Gefühl hatte, halbwegs außer Sicht zu sein. Aus der Ferne sah er hinter den beschlagenen Fenstern, im Licht der Deckenlampen, die vagen Silhouetten der Menschen in der Halle. Er fühlte sich befreit und zugleich von Gott verlassen. Er zitterte. Ohne Mantel war es kalt draußen. Er drehte sich um, weil hinter ihm ein paar Leute herauskamen, und schlug einen Seitenweg ein. Das Gelände war dünn bewaldet, mit mickrigen Birken sowie hier und da ein paar Tannen, zwischen denen sich morastige Wege zogen. Er begegnete zwei Männern, die eifrig ins Gespräch vertieft waren, und etwas weiter einem Dreiergrüppchen. Es waren mehr Leute auf die Idee gekommen, frische Luft zu schnappen, und er sah sie, nachdem er hinten um das Gebäude gegangen war, in kleinen Gruppen überall zwischen dem dürren Gehölz herumlaufen, hin und wieder auch einen allein. Einmal kreuzte sein Weg den Beertas, der mit ernster Miene einem kleinen, dicken Mann zuhörte und ihn im Vorbeigehen mit einem leichten, ironischen Nicken grüßte. Um all den Menschen zu entgehen, ging er den Weg hinunter zur Bushaltestelle und blieb dort stehen. Es war ein stiller Weg. Auf der gegenüberliegenden Seite, auf stacheldrahtumzäunten Weiden, grasten ein paar Schafe. Er stellte fest, dass seine Sohlen ein Loch hatten, und fühlte sich nass, kalt und zutiefst unglücklich.

Als er in den Saal zurückkam, saß Buitenrust Hettema bereits auf seinem Platz. Maarten nickte ihm verlegen zu und setzte sich neben Beertas noch leeren Stuhl.
"Wir müssen uns mal unterhalten", sagte Buitenrust Hettema und wandte sich ihm zu. Er sprach jedes Wort sehr deutlich aus, so wie jemand spricht, der sich durch nichts aus der Fassung bringen lässt.
"Ja", sagte Maarten. "Sie sind jetzt auch in der Kommission."
"Ja, das auch." Er wandte sich wieder ab und sah vor sich hin, woraus Maarten den Schluss zog, dass seine Bemerkung falsch gewesen war.
Beerta kam in die Reihe. Er lächelte geheimnisvoll, als er sich hingesetzt hatte. "Ich habe eine interessante Neuigkeit", sagte er vergnügt. "Es scheint, dass de Graaf Zandstra überhaupt nicht als Nachfolger haben wollte, sondern dass Zandstra ihn einfach rausgedrängt hat. Das erklärt, warum er jetzt nicht da ist."
"Aber de Graaf ist doch viel besser", sagte Maarten.
"Ja", sagte Beerta geheimnisvoll.
Buitenrust Hettema schien die Bemerkung nicht gehört zu haben. Er blickte mit hochgerecktem Kinn in die Ferne, als sei er mit seinen Gedanken woanders.

So sah Maarten ihn auch in der Pause zwischen den Gruppen sich unterhaltender Menschen stehen, in der Mitte der Halle, eine Tasse Tee in der Hand, die Unterlippe nach vorn geschoben. Durch seine Körpergröße überragte er alle, und um ihn herum war es leer: ein einsamer Mann, doch einer, dem das nichts anhaben konnte. Maarten stand seitlich am Fenster und fragte sich, ob er wegen dieses Gesprächs zu ihm hingehen sollte, doch weil er keine Ahnung hatte, worüber sie reden sollten, blieb er, wo er stand. Ein Mann kam auf ihn zu, in dem er im letzten Moment Overzee erkannte. Overzee erkannte ihn ebenfalls. "O nein", sagte er, "Sie habe ich schon kennengelernt." Er wandte sich ab und zog weiter.

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