Vorgeblättert

Leseprobe zu Jean-Luc Seigle: Der Gedanke an das Glück und an das Ende. Teil 3

23.06.2014.
Da Gilles als einziger der beiden Chassaing-Söhne Alberts große Gestalt, seine braunen Augen, sein dickes schwarzes Haar geerbt hatte, stellte er sich nie vor, aus dem Bauch seiner Mutter, sondern aus dem seines Vaters gekommen zu sein. Seit Frühlingsanfang weckten ihn die Vögel im Kirschbaum, doch an diesem Sommermorgen ersetzte eine Säge das Gezwitscher. Es war gerade erst sieben. Sein noch schläfriger Blick fiel auf das Buch, das er abends eher zufällig begonnen hatte. Der Titel stand in Goldbuchstaben auf dem roten Lederrücken: Eugénie Grandet. Allein dieser Name machte Gilles Lust, seinen imaginären Gang durch die mit Kieselsteinen gepflasterten dunklen Straßen von Saumur zu Vater Grandets Haus wieder aufzunehmen. Aber draußen ging der Krach weiter. Er kam von unten. Gilles schaute aus dem Fenster und sah seinen Vater, der in Hemdsärmeln angefangen hatte, am Kirschbaum zu sägen. Ganz mit der Frage beschäftigt, wohin die Vögel geflohen sein mochten, machte sich Alberts Sohn keine Gedanken darüber, dass es nicht normal war, im Juli einen Baum zu fällen. Gilles war das letzte Kind dieses Zweiundsiebzigseelendorfs ohne Bäcker, ohne Kirche, ohne Laden, ohne Arzt, das zu der fünf Kilometer entfernten Gemeinde Saint-Sauveur gehörte. Zweiundsechzig sich selbst überlassene Einwohner, eine Art Stamm, in dem die Chassaings zu den Jüngsten gehörten. Gilles lebte in einer Welt von Alten und zog gewisse Vorteile aus dieser Situation, besonders wenn die Frauen ganz offen vor ihm redeten. Wie oft hatte er zugehört, wenn seine Mutter laut träumte und sich über ihr Leben in diesem Nest beklagte oder seine Tante Liliane von den Späßen mit ihren Freundinnen in der Fabrik oder, noch lustiger, von den ehelichen und einfallslosen Sturmangriffen ihres Mannes erzählte. Gilles lauschte gern ihren Frauengeschichten und empfand dabei das gleiche Vergnügen wie beim Lesen, wenn er in den Büchern unbekannte, oft ferne Welten entdeckte, eine andere Wirklichkeit, die ihn einlud, erwachsen zu werden. Von seinem Vater wusste er nicht viel. Albert redete nicht oder wenig, außer wenn seine Schwester Liliane da war. Jedes Mal wenn sie nach Assys kam, war das für ihn die Gelegenheit, mit ihr in Streit zu geraten, aus Gründen, die niemand verstand, die aber seine Schwester seltsamerweise nicht daran hinderten, regelmäßig zu erscheinen. Es würde gleich wieder losgehen, denn Liliane und ihr Mann sollten zum Mittagessen kommen.
     Vom Fenster aus schaute Gilles zu seinem Vater, dann zum Himmel, wieder zum Vater, dann zum Kirschbaum. Kein Zweifel, die Vögel waren verschwunden. Irgendwann würden sie wiederkommen. Er nutzte das frühe Wachsein, um sich noch vor dem Frühstück in den Roman zu stürzen, er ließ Assys hinter sich und setzte sich zu den Gästen in den großen Saal des Hauses Grandet, wo Nanon spät das Feuer im Kamin angemacht hatte. Eine neue Figur trat auf, Charles, Eugénies Cousin. Sein überraschendes Erscheinen mitten am Abend löste Fragen und eine gewisse Erregung aus. Der junge Mann war hübsch und gut gekleidet, er brachte Licht in dieses traurige, kalte Haus; es war ein Rätsel, warum er gekommen war. Auch Gilles fragte sich, was der da wollte mitten in der Nacht, ohne sich angekündigt zu haben. Dank der Worte Balzacs, der Art, wie er die Worte zu Bildern verwob, konnte sich Gilles in die Szenerie hineinversetzen, ohne auch nur zu merken, dass er damit in ein anderes Jahrhundert wechselte, vielleicht auch, weil ihm das Haus der Grandets nicht so anders erschien als die Häuser seiner alten Nachbarinnen, Quader aus schwarzem Vulkanstein, in denen derselbe strenge Geruch nach kalter Asche, Bohnerwachs und Scheuermittel herrschte. Gilles wuchs noch in einer alten, relativ festgefügten Welt auf trotz der beinahe heimtückischen Bestrebungen seiner Mutter, die das Bauernhaus, in dem ihr Mann geboren war, unbedingt in etwas Modernes verwandeln wollte.

Das Moderne war, neben Gott, denn die Sonntagsmesse versäumte sie nie, das Einzige, worauf Suzanne sich berief. Nach all den Entbehrungen und Mühen, die sie während des Krieges und in den Tagen der Befreiung, als ihr Mann gerade erst aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, hatte ertragen müssen, stellte das moderne Leben die beste Antwort auf ihre Gebete dar, davon war sie überzeugt. Jeden Tag dankte Suzanne mit gefalteten Händen und hochgekrempelten Ärmeln dem streitbarsten Boten der modernen Zeiten, dem zu groß geratenen Engel mit der zitternden Stimme, der Frankreich von Gott gesandt worden war, General de Gaulle, dem sie keinerlei Vorwürfe machte, nicht einmal den, dass er ihr Kind nach Algerien geschickt hatte. Mit Feuereifer und größter Hingabe begann sie also, die Welt von vor dem Krieg zu zerstören, um eine neue Welt aufzubauen. Die hatte nichts mit dem Paradies der Schöpfungsgeschichte zu tun, das war viel zu ländlich für sie, und schon gar nichts mit dem kommunistischen Paradies, woran ihr Schwager und ihre Schwägerin glaubten; Suzanne legte all ihre Hoffnung in eine Welt, die es eben vorher noch nie gegeben hatte, eine Welt der Perfektion, deren Aufbau sie sich mit ganzer Kraft widmen wollte. Doch so sehr sie auch die Außenwände des alten Bauernhauses verputzen und weiß anstreichen, die Türstürze verschalen, die Fenster ersetzen ließ, es sah einfach nicht neu aus. Im Herzen des Dorfes, das im 13. Jahrhundert eine Leprakolonie gewesen war, stellte das Haus Chassaing einen rechten Schandfleck dar, immerhin aber einen Schandfleck, der sauber aussah. Die Sauberkeit war der schlagende und unwiderlegbare Beweis für Suzannes Streben nach einem modernen Leben, das sie eines Tages dazu bringen würde, aus diesem Nest zu fliehen, um in ein schlüsselfertiges Einfamilienhäuschen oder eine lichtdurchflutete Stadtwohnung im obersten Stockwerk eines neuerbauten Mietshauses zu ziehen. Sie glaubte daran, irgendwann auch Albert überzeugen zu können. Sie verfügte über alle Argumente, die sie benötigen würde, wenn es so weit war, und sei es nur die Nähe zur Fabrik, wodurch er jeden Tag eine Menge Zeit sparen würde, weil er nicht den Arbeiterbus zu nehmen brauchte. Sie kannte ihren Mann; er würde sogar einen kleinen Schrebergarten an der Eisenbahnlinie bestellen können, um die gewonnene Zeit auszufüllen. Sie hatte an alles gedacht. Doch sie wusste, solange ihre Schwiegermutter lebte, hatte sie von Albert nichts zu erhoffen. Sie nahm es mit Geduld, denn sie war sich sicher, dass sie nicht mehr lange zu warten brauchte. Wenn das Haus in Assys erst einmal verkauft war sie verließ sich darauf, dass nach dem Tod Madeleines zwischen Albert und seiner Schwester gerecht geteilt würde -, könnten sie ein Häuschen oder eine Wohnung in der Stadt bezahlen. Im Augenblick war das noch ein Traum, den sie geheimhielt, so gut verstaut wie die Wäsche in ihrem Schrank.
     Hier konnte sie noch so sehr versuchen, die Dinge, innen wie außen, zu verändern, nichts wurde wirklich anders: Wenn ein neues Element in die Küche kam, ersetzte es nur ein altes, und die Topographie blieb dieselbe. Beim Frühstück gab es eine einzige Veränderung: Das Graubrot wurde jetzt auf ein weißes Geschirrtuch gelegt nicht aus Gründen einer rustikalen Ästhetik und schon gar nicht um jenem Gesetz zu genügen, dem zufolge auf einem Stillleben auch ein Wäschestück vorzukommen hat, sondern bloß um zu vermeiden, dass die dicke, zu stark gebackene Kruste des Brots Kratzer im Resopal hinterließ, das empfindlicher war als die Eichenplatte des alten Tischs. Das zwar geflickte, aber strahlend weiße Geschirrtuch zeigte, welche Sorgfalt Suzanne auf die neuen Dinge verwandte. Es war die Empfindlichkeit, die in Suzannes Augen einen Resopaltisch ebenso wertvoll machte wie das chinesische Teeservice, das im Buffet des Neorenaissance-Esszimmers aufbewahrt wurde. Sie hasste diesen überladenen Stil und hoffte sehr, das schwere Mobiliar gegen eine skandinavische Anrichte und sechs schmiedeeiserne Stühle einzutauschen, die sie in der Abteilung "zeitgenössische Wohnungseinrichtung" der Galeries de Jaude entdeckt hatte. So ein Esszimmer wollte sie schon lange, und dennoch hatte sie auf die Anschaffung gerade zugunsten eines Fernsehapparats verzichtet. Durch die Antenne, seit dem Vortag auf dem Dach installiert, wusste das ganze Dorf von Suzannes neuer Erwerbung. Die Vögel hatten sich auf die neue Sitzstange geflüchtet, aber sie sangen nicht.
     In seinem letzten Brief aus Algerien hatte Henri bedau-
ert, dass in Assys noch niemand einen Fernsehapparat besaß. Sein Regiment war von einem Team des staatlichen Fernsehens für Filmaufnahmen ausgewählt worden, die dem französischen Publikum einen Einblick in die Lebensbedingungen der Einberufenen und die Realität der Kämpfe geben sollten. Seitdem kam es für Suzanne nicht mehr infrage, womöglich die Chance zu verpassen, ihren Sohn lebend zu sehen. Die Aussicht auf Henris Auftritt in ihrer Küche genügte, dass sie sich auf einen Ratenkauf einließ. Albert duldete es, ohne einverstanden zu sein. In zweiundzwanzig Jahren Ehe hatte er seiner Frau übrigens nie etwas abgeschlagen. Jeden Monat übergab er ihr seinen Lohn von Michelin. Er hatte das in der Fabrik verdiente Geld nie gemocht, und Suzanne konnte nach Belieben darüber verfügen, vorausgesetzt, keinem fehlte etwas, weder ihr noch ihren Söhnen, noch ihrer Schwiegermutter. Vom ersten Jahr ihrer Ehe an und obwohl sie erst siebzehn war, hatte Suzanne ihre Aufgabe, dank des in der Haushaltsschule genossenen Unterrichts, bestens bewältigt und sich als ausgezeichnete Wirtschafterin erwiesen, auch mithilfe der Ersparnisse, für die Albert mit dem Gemüse aus seinem Garten, seinem Geflügel und seinem kleinen Weinberg sorgte nicht unerhebliche Ersparnisse, umso mehr als Albert stets behauptete, nichts zu brauchen. Es gab immer ein Theater, wenn er sich ein Jackett oder eine Hose kaufen sollte. Er begnügte sich mit seinem blauen Anton, seinem Hochzeitsanzug und der Lederjacke, die seine Mutter ihm zum dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte und aus der er das Lammfellfutter herausknöpfen konnte, wenn der Sommer kam. Er unterschrieb, ohne zu murren, den Kaufvertrag, der ihn verpflichtete, die Summe in dreißig Monatsraten zu zahlen. Dreißig Monate, beinahe drei Jahre, das erschien ihm so lang, dass er lächeln musste. Suzanne zog es vor, dieses Lächeln nicht zu deuten. Sie hatte, was sie wollte, nur das zählte. Für Henri war sie zu allem bereit, zu allen Opfern, zu allen Veränderungen, zu allem, was ihr garantierte, dass ihr Sohn am Leben blieb. Es war sogar so weit gekommen, dass sie sich sagte, sie könne den Tod ihres Mannes, vielleicht sogar den Tod Gilles" ertragen, aber wenn Henri im Krieg fiele, würde sie ihn nicht überleben.

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlages
(Copyright C.H. Beck)

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