Vorgeblättert

Leseprobe zu Zsuzsa Bank: Die hellen Tage. Teil 2

07.02.2011.
Sobald die ersten kühlen Nächte anfingen, den Sommer zu verdrängen, kam Besuch in Ajas Haus. Er kam von weit her, wie Evi sagte, mit einem Schiff, einem Zug und einem Bus, und nach seinen Briefen hatten Aja und Evi ihn seit Wochen schon erwartet, ohne genau zu wissen, an welchem Tag er kommen würde. Jeden Samstag hatte Evi ein Huhn in den Topf geworfen und dann mit uns gegessen, sie hatte sich die Fußnägel lackiert, erst rot, dann rosa, hatte vor dem Spiegel, den sie aufklappen und aufstellen konnte, ihr Haar mit Nadeln aus einem blauen Tuch hochgesteckt und später gelöst. Sie hatte den Schmutz von den Böden gefegt, die kurzen Gardinen in einer Wanne im Garten gewaschen, nass aufgehängt und in Falten gelegt. An den Nachmittagen hatte sie über die Feldwege und an den Abenden auf den Kalender geschaut, bis irgendwann jemand am schiefhängenden Tor stand. Aja und ich konnten ihn vom Fenster aus sehen, mit einem dunklen Koffer in der einen, einem Hut in der anderen Hand, den er abgenommen hatte, als sich Evi in der Tür gezeigt, als sie das Fliegengitter gelöst, einen Fuß auf die Stufen gesetzt und zwei Strähnen aus ihrer Stirn gestrichen hatte, um über die losen Platten zum Tor zu laufen, die Hände auszustrecken und an seine Wangen zu legen. Aja sagte, er sei ihr Vater, aber ihre Mutter schüttelte den Kopf, und wenn Aja nicht in der Nähe war, sagte sie, ein Mann, der sie einmal im Jahr besuche, könne nicht Ajas Vater sein. In diesen Wochen sammelte Aja die Seile und Bälle, die sie im Garten verstreut hatte, am Abend ein, sie aß, was Evi auf den Tisch stellte, und nach der Schule ging sie schnell nach Hause und nicht wie sonst mit mir und den anderen über Obstwiesen und Felder zum Bahnwärterhäuschen, wo wir im Gras lagen und warteten, bis die Schranken sich senkten und die rostroten Waggons der Güterzüge vorbeiratterten. Zigi hieß ihr Vater. Aja nannte ihn so, auch ihre Mutter nannte ihn so, manchmal Zigike oder Zigili oder Zigikem oder Zig-Zig, und ich fragte mich, wie man so heißen konnte, ob das überhaupt ein Name war, Zig-Zig.

Zigis Haare hingen ins Gesicht, seine wirren Locken, die in alle Richtungen wuchsen und die er nur selten schneiden ließ. Zwei seiner Zähne waren dunkler und standen über-einander, ein bisschen wie Menschen in einer Menge, die aneinander vorbeizuschauen versuchen. Er sah aus, als habe er Hunger, als habe er in letzter Zeit zu wenig gegessen, und weil Evi glaubte, er solle es in diesen Wochen nachholen, verließ sie ihre Küche kaum noch und stellte alle zwei, drei Stunden Würstchen und Brezeln, süßen Tee und Zuckerkringel auf den Tisch. In Zigis Brusttasche steckte ein rotes Tuch, in das Aja sich schneuzte, wenn sie nichts anderes fand, und das sich absetzte von Zigis dunkler Kleidung, über die Evi sagte, Zigi sehe darin aus, als gehe er zu seiner eigenen Beerdigung. Zigi trug keine Strümpfe und immer dasselbe Paar dunkler Schuhe, dessen Leder an den Seiten Risse zeigte und in dem seine schmalen Füße breiter wirkten, und obwohl er die Bänder nicht knotete, lösten sich die Schuhe beim Laufen nie von seinen Füßen. So wie andere eine Mücke verscheuchten oder Sahne in ihren Kaffee rührten, sprang Zigi rückwärts auf die Hände, kam auf die Füße, sprang wieder rückwärts auf die Hände, viele Male hintereinander, als fliege er durch Evis Garten in Kreisen, die er mit den Beinen in die Luft zeichnete, über Stühle und Bänke, die nie in seinem Weg standen. Wenn er mit seinem Kaffee am Küchenfenster lehnte, wussten wir schon, gleich würde er die Knie an die Brust reißen, die kleine Tasse unter seinen Füßen von einer Hand in die andere geben, und sobald er stand, in einem Zug leer trinken, Aja reichen und sich vor uns verbeugen, bis seine spitze Nase zwischen die Knie stieß und wir die Libelle unter seinem Nacken sehen konnten, die er vor Jahren mit etwas schwarzer Farbe und einer feinen Nadel in die Haut hatte zeichnen lassen.

Wir liebten Zigis Kunststücke und konnten uns nicht sattsehen an ihnen. Aja sagte, sobald sie aufwache, stelle sie sich noch im Nachthemd in den schiefen Türrahmen und warte, bis Zigi die Decke zurückschlage, seine Hände auf den Boden setze, die Beine hochreiße und so neben ihr in die Küche gehe. Wenn ich mittags kam, balancierte Zigi zwischen den Birnbäumen auf einer Kugel, die er unter dem Blechdach neben den Hühnern hervorgeholt hatte, wo Evi die leeren Blumentöpfe stapelte. Wenn er mit den Armen ruderte, wenn er die Kugel mit nackten Füßen über Maulwurfshügel rollte und den Rücken weit nach hinten bog, wenn es aussah, als müsse er kippen und fallen, zerrte Aja Evis Korbsessel nach draußen und saß dann wie auf einem Thron unter seiner hohen Lehne, die weit über ihren Scheitel reichte, im Schneidersitz, die flachen Hände auf den Schenkeln, die Knie unter den Armlehnen. Sie folgte Zigis Bewegungen, und wenn er anfing, ihr Blickfeld zu verlassen, drehte sie den Kopf nach ihm, Aja, die ihren Namen rückwärts sagen konnte, ohne dass er anders geklungen und sich verändert hätte, wie oft wir ihn auch auflösten und zusammenfügten, wie oft wir ihn auch auseinandernahmen und über uns kreisen ließen, mit derselben Leichtigkeit, mit der Zigi durch die Luft in Evis Garten sprang, vor und zurück unter zwei Bäumen, wenn er abhob und diesen Namen rief, Aja.

Jedes Jahr brachte Zigi Dinge, mit denen Aja und ich nichts anzufangen wussten, über die Evi sich aber freute wie über nichts sonst. Diesmal waren es die Reste einer Tapete, auf der rote Rosen rankten und die für eine Seite ihrer winzigen Küche reichten. Zigi nahm das Regal ab, sah zu, wie Geldscheine hinabsegelten, die er in einem Briefumschlag geschickt und die Evi hinter Tellern und Tassen versteckt hatte, und klebte die Tapete an einem Vormittag rund um das Fenster, durch das wir über den Pfad aus losen Platten zum schiefhängenden Tor schauen konnten. Er legte kein Zeitungspapier aus, schmierte mit einem breiten Pinsel Kleister auf die Wand, ohne dass etwas auf den Boden getropft wäre, schnitt die Bahnen im Stehen, mit schnellen, kurzen Bewegungen, mit einem von Evis scharfen Messern, nur nach dem Maß seiner Augen, drückte sie mit beiden Händen an und strich sie glatt mit dem roten Tuch, das er aus der Brusttasche seiner schwarzen Jacke genommen und unter sein Hemd gesteckt hatte. Am Abend saß Evi in ihrer Küche, umgeben von roten Rosen, die nach nichts dufteten, aber dort rankten, als wollten sie hochwachsen, durch das Fenster hinaus ins Freie.

Die Zeiten mit Zigi waren Evi heilig, die wenigen Wochen, in denen er in ihrem Bett schlief und an ihrem Tisch aß, wenn sie vorgeben konnte, sie seien eine Familie wie jede andere. Evi zog sich zurück, sobald Zigi Haus und Garten mit ihnen teilte, und sie blieb stiller, als wolle sie mit den verfügbaren Sätzen haushalten und Zigis Aufmerksamkeit nicht zerstreuen, als dürfe sie Aja und Zigi nichts von ihrer Zeit rauben, aus der Aja so viel mitnehmen musste, damit es für ein Jahr reichen würde. Wenn ich am Zaun entlanglief, sah ich Evi unter tiefhängenden Zweigen an einen Baum gelehnt, die Hände vor dem Bauch gefaltet, als wolle sie sich verstecken und habe keinen besseren Platz dafür gefunden. Sie glaubte, erst wenn Aja abends auf Zigis Schoß eingeschlafen sei und ihr Kopf auf seiner Brust liege, dürfe sie selbst anfangen, mit ihm zu reden, jedenfalls sagte sie es so, nur in den Stunden am späten Abend und in der Nacht, als könnten Zigi und sie erst dann zueinanderfinden und als gehöre er sonst allein Aja.

Sobald Evi auf einer Leiter Pflaumen in einen Eimer warf, sobald sie die Wäsche durch den Garten trug und hinter den Sonnenblumen an die Leine hängte, lief Zigi mit uns zum kleinen Waldsee, hob uns über Zäune, über Sträucher und Baumstümpfe, und manchmal riss er die Arme hoch, um mit einer Rolle rückwärts über unsere Köpfe zu springen. Wir verbrachten ganze Nachmittage damit, zwei Stöcke zu einem Kreuz zu legen und Zigi zuzusehen, wie er sich durch die Luft drehte und genau davor zum Stehen kam. Wenn er Aja auf eine Schulter setzte und mich auf die andere, hielten wir uns fest an seinem Kopf und legten die Hände vor seine Augen, und selbst dann, selbst wenn Zigi nichts sehen konnte, lief er ohne zu zögern und ohne zu stolpern weiter, mit den gleichen schnellen Schritten, als brauche er seinen Blick gar nicht fürs Laufen, als wisse er auch so schon, wo auf seinem Weg Äste und Steine liegen könnten. Sobald der Abend das blaue Licht des späten Sommers in Evis Garten goss, drängten sich Kinder am Zaun und zogen sich an den Latten hoch, damit sie nichts versäumten, wenn Zigi den Kopf in den Nacken legte und auf der Stirn ein Tablett mit Gläsern balancierte, wenn er am Zaun entlanglief, Evi im Vorbeigehen roten Saft einschenkte und Aja die Gläser über die Latten reichte, bis Zigi den Kopf senkte, das Tablett mit einer Hand auffing, unter den Arm klemmte und mit Aja anstieß. Wenn sie auf dem Schulhof, auf ihren Wegen durch Kirchblüt gefragt wurde, ist das dein Vater, der mit der Stirn Gläser auf einem Tablett durch euren Garten trägt, sagte sie, ja, das ist mein Vater, und sie ließ es klingen, als passe niemand besser in ihre Welt, als habe niemand
einen festeren Platz in ihr als Zigi.

Zigi fing mit seinen Übungen an, auch wenn ihm keiner zusah, wenn er nicht wusste, dass Aja und ich uns hinter Gardinen versteckt hatten, hinter einem Busch, um ihn zu beobachten, wenn er Holzreifen aus dem Verschlag hinter den Hühnern holte, um sie an Armen und Beinen kreisen zu lassen und so den Feldweg hinablief, um hinter dem Mais zu verschwinden. Wenn Zigi nichts dergleichen tat, wurden wir unruhig, wenn er wie jedermann ging, ohne auf die Hände zu springen, wenn er seinen Kaffee trank und die Knie nicht hochriss dabei, wenn er sich auf einen Stuhl setzte, ohne ihn vorher durch die Luft geworfen zu haben, wenn er einfach nur den kleinen Block aus dem Futter seiner dunklen Jacke nahm und mit Ajas Stiften etwas zeichnete, das gerade fingernagelgroß war, und den Rest des Papiers weiß ließ. Jedes Jahr untersuchte Zigi Evis Häuschen, strich mit den Händen übers Holz, über Bretter und Leisten, die schiefen Rahmen der Fenster, ihre tiefen Risse, durch die im Sommer Ameisen schlüpften. Er band das rote Tuch um sein rechtes Hosenbein und trug darunter einen Hammer, mit dem er auf Nägel klopfte, die sich gelöst hatten, oder Bretter hochstemmte, die verrutscht waren. Evis Haus sollte winterfest sein, bevor Zigi sich aufmachen würde. Er hatte Angst, Aja und Evi könnten frieren, die Kälte könne durchs Fliegengitter, unter der Tür hereinkriechen, in den langen dunklen Monaten, die einem zu frühen Herbst folgten, und wir gewöhnten uns schnell an den hohlen Klang, wenn er von Schelle zu Schelle an die Regenrinne klopfte, der uns sagte, es ist Zigi, er schaut nach dem Haus.

Gerade als der Sommer in den Herbst überging, schlug er die Wand in Evis Zimmer mit einer Axt ein, stieß den Fensterrahmen heraus und setzte eine Glastür ein, die er bei einem Schrotthändler an der Landstraße hinter Kirchblüt auf einen Karren gebunden und über den Feldweg am Mais entlanggezogen hatte, damit Evi nicht mehr durch ein Fenster musste, wenn sie hinter dem Haus zu den Hühnern wollte. Als sie wie zum Dank Zigilein und Zig-Zig sagte, brachte Zigi Pinsel, Schaufeln und Eimer und fing an, die Steine zu verputzen und das Holz zu streichen, damit es getan war, bevor der erste Frost kommen und Zigi schon abgereist sein würde. Vor den Fenstern konnten wir seine Füße in schmutzigen Schuhen von der Leiter baumeln sehen, die er Stunde um Stunde ein Stück weiterschob, bis er das Haus zweimal umkreist hatte. Wenn Zigi sie am Abend stehen ließ, kletterten wir auf die Leiter, und wenn er am nächsten Tag hochstieg, liefen wir in den Garten, um zuzusehen, wenn Zigi Putz auftrug, weil er selbst das anders machte, weil selbst das Kratzen und Schmieren und Klopfen bei ihm anders aussah. Wir schauten auf seine schmalen Fußknöchel, die wie Pfeilspitzen zur Seite zeigten, als könnten sie jeden Augenblick losschnellen. Seine schwarze Hose zog Zigi nicht einmal jetzt aus, da er mit einer Schaufel Mörtel auftrug, auch die Schuhe nicht, auf die sich Staub legte und die trotz der immer losen Senkel nie von seinen Füßen fielen.

Teil 3