Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Etel Adnan: Von Frauen und Städten. Teil 1

16.02.2006.
Beirut, 23. August 1991


Lieber Fawwaz,

das Flugzeug setzte mit einem solchen Ruck auf, dass ich mich fragte, ob Beirut sich nicht immer noch mit voller Gewalt präsentiert.
Nach zwölf Jahren der Abwesenheit presst sich mein Herz zusammen. Brigitte Schehade und Emile Attieh, die mir so viel bedeuteten (damals) in den Jahren an der Ecole des Lettres, reisten im selben Flugzeug. Ihre Anwesenheit war ein Omen.
     Um fünf Uhr nachmittags, als wir ankamen, hatten sich die Schatten von Beirut bereits in die Länge gezogen. Alles war mir vertraut. Alles. Ich fühlte mich augenblicklich geborgen in einem Gefühl entspannter Resignation, welches sagt, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Ich war lediglich ein Augenpaar, ein wohlwollendes natürlich, in dem unbeschreiblichen Gefühl, zu Hause zu sein.
     Ich schreibe Dir aus einem Apartment im elften Stock. Von drei Seiten öffnet sich der Blick auf das Meer. Ich bin endlich wieder mit dem Meer vereint, dem Meer, das ich über alles und, wie ich oft befürchte, mehr als irgendetwas anderes auf der Welt liebe, ganz besonders diesen Teil der Corniche und das Bain Militaire. Ich habe es nie ganz hinter mir gelassen.
     Das erste Abendlicht, das ich bei meiner Ankunft sah, war überwältigend in seiner Reinheit: ein himmlisches Blau verklang in einem Rosarot, ebenso ätherisch und versunken. Die sanfte Klarheit des Lichts durchzog mich mit dem Wissen, dass es in den fünfzehn Jahren Krieg, Folter, Verbrechen und Bombardement einen unmerklichen Hauch von Reinheit gab, der niemals erschöpft sein wird, da er Teil des Unendlichen ist. Und diesen Vorrat an Unschuld, an Zukunft, an unberührbarer Schönheit hatte ich sofort entdeckt, auf dem Weg vom Flughafen zu meinem Haus, in den Augen zahlreicher Menschen: denen des Trägers, der meine Koffer nahm, denen des Angestellten von Simones Familienunternehmen, der uns am Flughafen erwartete ? Es war rasch ersichtlich, dass in dieser Stadt des Libanon alles zu verklärter Erinnerung gerinnen kann.
     Gestern Abend rief ich Janine Rubeiz an, und wir gingen gemeinsam zum Essen. In Raouche kauften wir Blumenketten von Kindern, die kaum sechs Jahre alt waren. Zwei Kinder saßen auf einer niedrigen Mauer; eines sang, mit einer Stimme, die einem viel Älteren hätte gehören können. Es erzeugte in mir eine nachwirkende Traurigkeit. Janine schalt den kleinen Sänger, für Kinder sei es Zeit, nach Hause und zu Bett zu gehen. Ein junger Mann, der vorüberging, drehte sich zu uns und sagte: "Madame, diese zwei Kinder haben kein Zuhause. Sie haben keins. Sie gehören zur Straße."
     Nach dem Abendessen war die Luft noch immer warm, die Nacht wunderbar, und die Menschenmenge bummelte durch den Lärm lädierter Tonbänder, die Lieder greinten, dass es schmerzte. Eine Frau eilte auf uns zu, wimmernd und weinend: "Helft mir! Helft mir! Um Gottes Willen, helft mir!" Eine andere sprang herbei, wirbelte herum, irrsinnig kreischend, wie Blattern oder Pocken hatte die Verrücktheit ihr Gesicht geätzt, erschrocken über ihre eigene Verzweiflung, ihren Hunger ? Schauer liefen mir den Rücken hinunter. Das hat der Krieg getan, sagte ich mir (als wenn das eine Antwort wäre!). In der Masse arbeitsloser Menschen, die sich mit dem Unglück abgefunden haben, sind die Aussichten dieser beiden verzweifelten Frauen auf Rettung gleich null.

Ich setze den Brief fort. Letzte Nacht schlief ich sehr schlecht. In der Hitze, die Fenster weit geöffnet, lauschte ich dem Meer, seinem Atem ? Ich dachte an unser Land, unsere Kulturen, dieses Land, das so tödlich zerstört wurde. Beirut klebt an mir wie heißes Wachs, selbst im Schlaf.
     Die Leute erzählen mir alle möglichen Geschichten. Sie beharren darauf, die heroischen Leistungen während eines Krieges zu loben, der nicht den geringsten Stolz hervorrufen sollte. Mit den Geschichten der Frauen verhält es sich anders. Die Frauen haben, so will ich es sagen, die Verbindung zur Erde bewahrt, in den überkommenen Rollen als Zeuginnen und Hüterinnen der Erinnerung. Sie haben sich selbst übertroffen: Ihre Standhaftigkeit hat Gewohnheiten und Vorurteile überwunden. So lebt Janines neunzigjährige Mutter noch immer allein in ihrem Apartment oben in einem Gebäude voll verlassener und halb ausgebrannter Büros im Viertel um die Französische Botschaft, das nun in Ruinen liegt, preisgegeben, Zutritt verboten.
     Dieser Krieg, weißt Du, hat etliche Gesichter, etliche "Phasen", möchte ich sagen, so dass die frühen Jahre zwar nicht ausgelöscht, aber durch Kämpfe neueren Datums ersetzt wurden ? Die jüngsten scheinen immer die härtesten gewesen zu sein. So liegen die Anfänge im Nebel, und niemand will mehr darüber sprechen.
     Ich betrachte das Meer, als hätte es in dieser Stadt nie etwas anderes gegeben, als das Meer zu betrachten. Aber das Herz der Stadt fault, mit Leid beladen, und dieser ganze "westliche" Sektor, der (wie Du weißt) bezaubernd war, wird von Autos gequält, die noch abgekämpfter sind als die Menschen. In den Gesprächen ist es unvermeidlich, dass immer irgendjemandes Tod zur Sprache kommt. Dieser, jene ? besiegt in einem Glücksspiel.
     Manchmal scheint es mir, als sei dieser fünfzehnjährige Krieg ein ungeheurer Tribut an den Tod gewesen. Im Osten lieben sie den Tod, denn sie lieben das Heilige. Alles ist heilig: der Einzelne, die Familie, die Sippe, der Klan, der Staat, Geld, Frauen ? Und heilig ist alles, was unveränderlich ist: demzufolge der Tod. Er schreit nach Opfern, und wir sind in einem Kreislauf gefangen.
     Lieben wir den Tod, weil wir nicht wissen, wie wir leben sollen? Ist es, weil wir lieber alles verlieren, als uns mit weniger zufrieden zu geben? Verwechseln wir Feier und Tod und inszenieren die blutigen Feiern, die wir gesehen haben? Ist der Glaube an ein zukünftiges Leben so stark, dass Menschen leichtfertig sterben, aus Zerstreuung, Nachlässigkeit oder aus einem Übermaß an Glauben? Einem Übermaß an Leben? ?
     Da das Gebäude keinen Strom besitzt, schreibe ich Dir beim Licht einer Kerosinlampe. Es erinnert mich an meine frühe Kindheit, wo unsere Schlafzimmer durch diese Art von Lampen beleuchtet wurden. Aber der Ort hier ist genau das Gegenteil des Hauses, das wir besaßen.
     Heute fuhr ich nach Hamra, um einen Badeanzug zu kaufen. Es war eine freudige Überraschung, so viele junge Frauen in den Geschäften zu sehen, die als Verkäuferinnen oder Kassiererinnen arbeiten. Dieser Teil der Stadt ist arabischer geworden: Niemand fühlt sich verpflichtet, "Bonjour" und "Au revoir" zu sagen, um einem Kunden zu gefallen. Trotz Armut und Unglück gibt es eine gewisse Glaubwürdigkeit. Du weißt, wie fest diese Stadt davon überzeugt war, das Zentrum eines Orients zu sein, den kennen zu lernen sie sich niemals die Mühe gemacht hat, und nun scheint sie jenseits der Interessen der Großmächte zu liegen. Sie zeigt ihre Wunden, wo überall es ihr nicht gelingt, sie zu verbergen, ohne Schuldzuweisung, ohne Tränen, ohne Bitten. Die Würde der kleinen Leute ist, was mich am meisten beeindruckt. Einige Reste früherer Tugenden haben überlebt, ebenso wie einige Häuser ganz geblieben sind. Um die Verbindung herzustellen.
     An diesem Abend zog es mich erneut zur Corniche. Simone und ich hielten wieder in der Nähe von Dbaibo, um eine Jasminkette zu kaufen (und den Duft des Meeres zu atmen). Simone unterhielt sich mit einem kleinen Jungen, einem anderen, nicht dem vom Abend zuvor. Sie fragte ihn, woher die Blumen kämen, wobei sie annahm, er hätte sie im Garten seiner Eltern gepflückt. Er antwortete erstaunt: "Aber wir leben in einem einzigen Raum. Zu zehnt." Dann erklärte er, dass sie die Blumen kaufen und die Jasminketten zu Hause auffädeln und binden, und dass es eine sehr teure Angelegenheit ist. "Oh!", rief er unvermittelt. "Wie sehr ich mir wünsche, in den Süden zurückzugehen!" Und während er auf die Klippe schaute, die vor La Grotte aux Pigeons steil abfällt, fuhr er fort: "Viele junge Leute nehmen sich hier das Leben", wobei er mit den Augen die wenigen Meter maß, die zwischen ihm und dem Abgrund lagen: "Sie sind vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig, jede Menge bringen sich um." Dann verstummte er. Und ging heim.

Teil 2