Vorgeblättert

Monika Geier: Stein sei ewig. Teil 3

03.11.2003.
Teil 3 

Schweigen trat ein, Ella betrachtete die Dame vage interessiert. Das war die Abordnung der Sponsorenfamilie, eine gewisse Raisch, frisch gebackene Gattin eines alteingesessenen Lautringer Zahnarztes und Kunstmäzens. Sie war noch so frisch, dass sie ohne weiteres als Studentin durchgegangen wäre. Allerdings hätte sie dazu Architektenschwarz statt dieses leuchtend hellorangefarbenen Kostüms tragen müssen. Es sah reizend aus, fand Ella, aber völlig fehl am Platz, obwohl die Dame die Einzige war, die vernünftigerweise einen Schirm benutzte, einen passend blassgelben, versteht sich. Sie leuchtete wie ein Frühlingstag. Und sie hatte einen Auftrag: die Förderung der Kunst in Stadt und Landkreis in Vertretung des unpässlichen Gatten zum höheren Ruhme ihres neu erworbenen Namens. "Vor allem die Art und Weise, wie er die Sachen darstellt, Janosch, meine ich, das Gras zum Beispiel."
"So grün", ergänzte Susanna von Stauff, Dr. Martens Assistentin. Wieder trat eine kleine Pause ein. 
"Frau Dettenhorst, wir wollen wissen, warum Sie ausgerechnet einen Steinkreis gemacht haben, um Ihre wirklich schöne Idee umzusetzen", ließ sich Dr. Martens dann mit sanfter Stimme vernehmen. 
"Warum diese Steine?", ergänzte Klaus Hartmann, der Assi aus dem Fachgebiet Werken. "Warum diese Größe, warum dieser Platz hier? Warum nicht drei Meter weiter?" 
"Warum nicht, zum Beispiel, um einen Baum herum?", sprang Thomas Armbrust bei. "Hab ich schon gesehen. Steinkreise um Pflanzen, die Kraft brauchen. Wenn man dran glaubt, funktioniert es wahrscheinlich." 
"Und wenn nicht, sieht?s wenigstens gut aus." Hartmann grinste und bückte sich über die Steine: Da würde sich doch mit Sicherheit irgendwo ein mickriges Pflänzchen finden lassen. Doch Ann-Kathrin wollte die Brücke, die ihr Raisch zuliebe gebaut worden war, nicht betreten. Für mickrige Pflänzchen interessierte sie sich nicht, die ließ sie allerhöchstens daheim auf dem Anwesen der Familie vom Gärtner ausreißen.
"Aber es geht hier um Land Art", sagte sie hochnäsig. "Um Architektur. Um Kunst. Das ist schließlich kein esoterischer Gartenbauwettbewerb."
"Da hat sie wirklich Recht", sprach Frau Raisch unter ihrem frühlingsgelben Schirm hervor in das abermals entstandene Schweigen hinein. "Steinkreise um Pflanzen, das ist doch albern. Unsere Nachbarin macht das auch, nicht dass es mich etwas anginge -" Sie verstummte. 
"Also, Frau Dettenhorst, Sie haben diesen Platz hier willkürlich gewählt", sagte die inzwischen etwas ungeduldige Dr. Martens.
Natürlich hatte sie das nicht. Das wies Ann-Kathrin energisch von sich, es gab schon Gründe, diese Mulde da zum Beispiel - 
Ella wusste, dass Ann-Kathrin den Platz gewählt hatte, weil es der begehrteste gewesen war: sonnig und leicht zu erreichen. Außerdem hatte Ann-Kathrins Freundin den gleich nebendran ergattert. Nun erzählte sie etwas von Geländekanten. Ellas linker Fuß war mittlerweile komplett durchnässt, denn in der spröden Sohle ihres Schuhs befand sich ein Riss. Missmutig bewegte sie ihre klammen Zehen, zündete sich noch eine Zigarette an und verfolgte mehr interessiert als verärgert, wie Susanna von Stauff, Doc Martens? rechte Hand, sich zur Retterin des Entwurfs aufschwang, wahrscheinlich inspiriert von der trotzig blickenden Meute dunkler Typen in feinem Tuch um sie herum. Die Runde um den Steinkreis wurde doch gedreht; mindestens die Hälfte der Anwesenden, allen voran die junge Frau Raisch mit ihrem gelben Schirm, stolperten durchs dämmrige, nasse Unterholz. Und erlebten viele verschiedene Eindrücke, konnten den Winterturm sehen, außerdem die Straße, den Sportplatz und so fort ?
Eine Drei, schätzte Ella. Wenn nicht gar eine Zwei. Sie würden es morgen erfahren. Wenn die Noten offiziell ausgehängt wurden. Bis dahin musste selbst eine Ann-Kathrin Dettenhorst sich gedulden. Nun war die Gruppe am Ende doch wieder am Ausgangspunkt angekommen, nur Heimatgefühle stellten sich trotz geballten guten Willens nicht ein.

* * * 

Die "überfälligen" Berichte waren längst geschrieben. Bettina hockte in ihrem einsamen Büro (der Kollege Bauer, der sonst hier mit ihr saß, war für die Soko unterwegs im riskanten Außendienst) und zerlegte systematisch das Sandwich, das zum Mittagessen bestimmt gewesen war. Gurke auf den Notizblock, Paprika auf die alte Telefonliste, Käse auf das Einwickelpapier, Salatblatt auf die leere Kaffeetasse, Brötchen auf die Fensterbank. Dann entschied sie, dass die Gurke auf dem Notizpapier nichts zu suchen hatte, und arrangierte alles um. Es war so absurd: Hier saß sie und hatte nichts zu tun, während die Sonderkommission unterbesetzt war. Alle beteiligten Kollegen mussten regelmäßig Überstunden machen. Ackermann, der so etwas wie die inoffizielle Leitung erhalten hatte, arbeitete seither über achtzig Stunden die Woche. Zwei Vollzeitjobs. Ohne wegen Überarbeitung zur allgemeinen Gefahr erklärt zu werden. Wenn Ackermann am Endes des Tages vor Müdigkeit rote Augen bekam und nicht mehr richtig sehen konnte (und das auch ganz offen vor allen Kollegen zugab!), sprach keiner von Lahmen und Krüppeln, selbst wenn Ackermann seine Brille vergaß. Wenn Ackermann "aus Zeitmangel" das allgemeine Auffrischungs- Schießtraining schwänzte, wurde seine Ernsthaftigkeit gelobt, und ein guter Schütze war er sowieso. Wenn Ackermann vor lauter Arbeit nicht mehr wusste, wo hinten und vorn war, dann war das bei ihm ein Beförderungsgrund. Ackermann war im selben Dienstalter wie Bettina und hatte ein leibliches Kind. Er war älter als sie, hatte länger für die Schule gebraucht und dort schlechter abgeschnitten. Bettina biss sich auf die Lippen. Sie mochte Ackermann, eigentlich, und das war das Schlimmste. Sie konnte ihm seine Bevorzugung nicht mal richtig missgönnen. 
Unglücklich sah sie auf die Uhr. Kurz vor vier. Um sechs erst musste sie die Kinder abholen. Auch das war absurd: Nun saß sie hier und wartete auf den Feierabend, statt Enno und Sammy einfach früher zu holen und sich ein bisschen länger mit ihnen zu beschäftigen. Die Tagesmutter bestand auf regelmäßigen Zeiten. Bettina packte ihr Sandwich wieder zusammen. Die Tagesmutter war schon genervt genug wegen der vielen Überstunden. Und sie verstand sowieso nicht, dass Bettina noch arbeiten ging, statt sich mit Kindergeld und Sozialhilfe einen schönen Lenz zu machen. "Wenn Sie dann noch ein, zwei Pflegekinder aufnehmen", hatte die Frau - fast vorwurfsvoll - vorgerechnet, "dann leben Sie besser als vorher, und noch dazu mit viel weniger Stress."
In einem plötzlichen Entschluss stand Bettina auf und warf das Brötchen in den Papierkorb. Sie packte Zigaretten und Schlüssel in die Jacke und verließ das winzige Büro. Scheiß auf die regelmäßigen Zeiten. Jetzt würde sie die Tagesmutter mal überraschen und früher kommen.
Draußen auf dem Gang brannten grelle Leuchtstoffröhren gegen das neblige Grau von draußen an. Weiter vorne wurde eine Tür aufgerissen, "Herbert!", schrie eine heisere Stimme. "Hopp, ich brauch dich mal kurz -" 
Kollege Donauer streckte seinen Kopf auf den Gang hinaus, sah Bettina statt Herbert, runzelte die Stirn und knallte die Tür wieder zu. 
Nur raus hier, dachte Bettina. Doch so einfach war das nicht. Jemand klopfte ihr von hinten auf die Schulter.

"Dr. Rothfuß", sagte Bettina mit einiger Überraschung. "Was kann ich für Sie tun?" 
Dr. Rothfuß war Kriminalrat, einer der höchsten Beamten der Abteilung, der allerdings mit den täglichen Ermittlungsgeschäften wenig zu tun hatte. Er koordinierte die Zusammenarbeit der Behörde mit anderen Institutionen, der Bundeswehr zum Beispiel, der Zollbehörde oder ausländischer Polizei. Man sah ihn selten, und wenn, dann führte er meist einen wichtigen Gast herum. 
"Ja." Dr. Rothfuß lächelte Bettina leicht zweifelnd an. Er hatte sie zuvor wahrscheinlich noch nie bewusst zur Kenntnis genommen und fragte sich jetzt, ob sie für seine wie auch immer gearteten Zwecke wirklich geeignet war. "Sie sind Frau Boll, richtig? Sie müssen Frau Boll sein. Sie haben rote Haare."
"Kastanienbraun", sagte Bettina automatisch und runzelte die Stirn. Absurd. Dieser ganze Tag war absurd. Nun stand sie hier mit Härtings Chef, der mit ihr über ihre Haarfarbe plauderte. 
"Verzeihen Sie." Dr. Rothfuß lächelte, doch seine Augen lächelten nicht mit. 
Er beobachtet mich, dachte Bettina. Er hat eine Aufgabe für mich, aber er weiß jetzt schon nicht mehr, ob er sie mir zutraut. Er findet mich zu jung.
"Sie sind jung", sagte Dr. Rothfuß prompt.
Bettina fand, ganz plötzlich, dass es nun genug war. Rauswurf aus der Soko. Gespräche über ihre Haarfarbe. Noch fünf Jahre, dann war sie nicht mehr jung. Dann würde es heißen: zu wenig Erfahrung. Wollte nie draußen mitarbeiten. Hat ständig und ungefragt auf ihre körperlichen Vorzüge hingewiesen. Versuchte, sich den Chefs an den Hals zu schmeißen, nicht dass wir es nicht bemerkt hätten. "Was soll ich tun?", fragte sie erneut, knapper im Ton.
Dr. Rothfuß zögerte.
"Ich kann alles." Bettina musste selber lächeln. Irgendwie hörte sich das kindisch an. Aber gut. Vielleicht sollte sie öfter so reden.
Der Kriminalrat zuckte ein wenig zurück. "Alles."
"Ja." Gelassen blickte Bettina Dr. Rothfuß in die Augen. Sie waren grau und dunkel, wie der November draußen, der Mann selbst nicht mehr jung, aber schlank und mit absolut gerader Haltung, wie ein Stahlträger.
"Dann hab ich ja die Richtige angefordert", sagte Dr. Rothfuß.

Angefordert. Bettina folgte Dr. Rothfuß zu seinem Büro, das sie sich größer vorgestellt hatte. Das eigentlich Große war das Vorzimmer. Da gab es zwei abstrakte Ölgemälde, mehrere kastige Sessel und dunkle Einbaumöbel aus dünnem Furnierholz. Außerdem den unbesetzten, aber unmissverständlich eigenen Schreibtisch der Sekretärin. Frau Frei, wusste Bettina. Deren schwertartige Klivien gediehen in fast anstößiger Üppigkeit, ein einzelnes Häkeldeckchen schützte die Tastatur ihres hochmodernen Computers auf dem sonst leeren Tisch. Und ein leichter Geruch von medizinischem Alkohol lag unbestimmt über dem Raum. Kölnisch Wasser. Franzbranntwein. Etwas in der Art. Dr. Rothfuß durchquerte das Zimmer rasch und hielt Bettina die Tür zu seinem kleineren, dunklen Allerheiligsten auf, obwohl die zuvor schon halb offen gestanden hatte. Ein Rauswurf würde das nicht werden.

"Hauptkommissar Härting hat mit Ihnen schon über Ihre neue Aufgabe gesprochen", begann der Kriminalrat, nachdem Bettina sich bei sanftem Licht in dem niedrigen Klubsessel einigermaßen eingerichtet hatte. Vermutlich bedeutete der zwanglose Rahmen und mithin der Platz auf dem Sessel ein Privileg, doch Bettinas Beine waren für solchermaßen informelle Sitzmöbel zu lang. Der Doktor saß, in gleicher Augenhöhe, aber wesentlich entspannter, auf der Couch gegenüber. "Der Kunstraub in Lautringen."
"Ja."
"Das ist selbstredend ein Bagatellfall. Diese Plakatvitrinen stehen im öffentlichen Raum. An Bushaltestellen. Normalerweise ist Werbung drin. Sie sind nicht groß geschützt und werden natürlich ab und zu beschädigt, wenn meinetwegen Werbung für Unterwäsche drinhängt. Aber deswegen komplizieren diese Vitrinenbetreiber sich nicht ihr System. Die Dinger werden jede Woche frisch bestückt, das muss ruckzuck gehen. Man öffnet sie mit einem Sechskant, klemmt die neuen Plakate rein und fertig. Den Sechskant kriegen Sie für ein paar Cent in jedem Baumarkt." Dr. Rothfuß erhob sich wieder. "Möchten Sie was trinken?"
Bettina dachte, inspiriert von Einrichtung und Tageszeit, spontan an einen Martini und lehnte ab. Doch natürlich hatte der Doktor nichts Alkoholisches gemeint, er öffnete einen versteckten Kühlschrank und nahm ein paar kleine Flaschen Wasser heraus. "Nun hing halt Kunst drin." Er stellte die Getränke auf den niedrigen Tisch vor ihnen und zauberte auch noch Gläser herbei. "Ich tippe auf Jugendliche. Eine Art Streich."
"Und wir behandeln es als Kapitalverbrechen", sagte Bettina ruhig.
Etwas wie Interesse blitzt in Rothfuß? Augen auf. Er setzte sich wieder, schob Bettina ein Glas hin und öffnete eine Wasserflasche. "Bei Kunst ist das immer eine Ermessensfrage."
"Was waren die Sachen wert?", fragte sie. "Mehrere hundert Euro?"
"Das ist schwer zu sagen. Vielleicht hätten sie Käufer für die Sachen gefunden. Vielleicht aber auch nicht." 
"Was war drauf auf den Plakaten?"
Dr. Rothfuß zuckte die Achseln. "Grafiken. Fotografien. Gemälde." Er schien auf etwas zu warten. War das ein Test?
Bettina beugte sich vor. "Wieso ist dieser Kunstraub ein Kapitalverbrechen?"
"Oh, das ist er nicht." Rothfuß runzelte die Stirn und blickte an Bettina vorbei in die Ferne. "Aber einer der Bestohlenen ist der Neffe unseres ehemaligen Polizeipräsidenten. Und er hat um diese bevorzugte Behandlung gebeten."
"Der Neffe welches Polizeipräsidenten?", fragte Bettina ahnungsvoll. Etwa von dem, dachte sie, der von dem Verdacht freigesprochen worden war, vor den Augen dreier Kollegen eine Polizistin belästigt zu haben, die nun auch noch die Kosten des Verfahrens tragen musste, das sie gegen ihn angestrengt hatte, weil er zu der betreffenden Zeit betrunken gewesen war? Dem Typen war nichts geschehen. Man hatte ihn bei vollem Gehaltsausgleich versetzt. Männer, besauft euch, in der Pfalz urteilen die Gerichte nach Gutsherrenart.
"Ja, Ihr Verdacht ist richtig." Der Doktor lächelte Bettina rätselhaft zu. Und schwieg.
War der Test nun bestanden? Hätte sie verständnisvoller sein sollen? Ärgerlicher? Wo war die Moral von der Geschicht?
"Wissen Sie, unser Expräsident und dieser Neffe, ein gewisser Tim Henning, haben uns unabsichtlich einen großen Gefallen getan." Dr. Rothfuß? Augen glitzerten. "Die haben uns eine Tür aufgestoßen." Er beugte sich vor. "Wir müssen an einen dieser Künstler herankommen, aber ganz unauffällig, verstehen Sie, Frau Boll? Vielmehr, Sie müssen an ihn herankommen." Er musterte die abgeschabten Knie ihrer Jeans. "Thomas Armbrust heißt er. Aber im Grunde", ein scharfer Blick traf Bettinas Gesicht, "geht es um seine Frau."
Darauf schien der Kriminalrat eine Antwort zu erwarten. Oder war dieser fragende Tonfall nur eine Angewohnheit? Bettina goss sich doch etwas Wasser ein. "Wer ist sie?"
"Hier." Dr. Rothfuß griff nach einen weißen, DIN-A-4-großen Karton, der - längst vorbereitet - auf dem niedrigen Tisch gelegen hatte, und drehte ihn um. Auf die andere Seite war sorgfältig eine Fotografie geklebt. Ein Porträt, ziemlich bieder, aus einem altmodischen Fotostudio. Braun gebrannte Frau um die vierzig in weichem Licht vor blau gesprenkeltem Hintergrund. Sie hatte dunkle, lockige, kurz geschnittene Haare, die im wirklichen Leben wahrscheinlich wunderbar aussahen. Für den Fotografen jedoch waren sie so streng gescheitelt worden, dass man ihnen nur noch den vergeblichen Versuch, Ordnung hineinzubringen, ansah. Die Frau hatte ein kantiges Gesicht, vorstehende Wangenknochen und ziemlich hochmütige dunkle Augen. Bettina hatte sie noch nie gesehen, obwohl Dr. Rothfuß das spürbar von ihr erwartete. Nach einer gewissen Pause, in der Bettina schwieg, lehnte sich der Doktor zurück. "Sagt Ihnen der Name Ötting was?"

Teil 4