Vorgeblättert

Néhémy Pierre-Dahomey: Die Zurückgekehrten - Leseprobe Teil 1

04.09.2018.
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Ein schnörkelloser Tisch aus Mahagoni, eine Art Bett hinter einem Trennvorhang, ein Geschirrregal aus Eisen, das sich mehr schlecht als recht auf den Beinen hielt und das auf seinen Knochen eine schmutzige Wanne mit fünf Tellern, ein paar Löffeln, drei Bechern und einem Eimer trug: Das waren die Annehmlichkeiten des neuen Zuhauses. Nicht zu vergessen der benutzte Nachttopf, der Belli einen vergangenen Damenbesuch anzeigte. Trotzdem richtete sie sich ohne Murren und Klagen ein, mit dem bisschen Wäsche, den Jungen und ihrer jüngsten Tochter, acht Monate alt und noch immer ohne Namen. Der Wunsch, sich von der großen Wanderung zu erholen, war stärker als alles andere.
     Es war Nènè gewesen, der sie in diese wüstenartige Ebene geführt hatte. Sie gehörten zur zweiten Welle der Siedler. Das neue Viertel besaß weder Straße noch Zufahrtsweg, sodass Sobner Saint-Juste ihnen einen Weg durch die Kakteen, Kandelaber und andere Wildgewächse bahnen, die größten Hindernisse fällen und sein buntes Hemd an einem Ast hissen musste, um seiner Liebsten und den vier Kindern im Licht des Mondes die Orientierung zu erleichtern.
      Als sich die Familie in dieser fremden Welt eingerichtet hatte, genauer gesagt, als die Jüngste im Bett an der Wand und Fedner und die Zwillinge John und Johnky auf einer Matte neben dem Tisch Platz gefunden hatten, wagte Nènè den Versuch und erklärte, wo Streichhölzer, Kerzen und Wasser zu finden waren. Kurz, er bereitete seinen Abgang vor und wollte sie in dieser unerforschten Umgebung sich selbst überlassen.
Nènè war ein Mann, den die Rastlosigkeit überkam wie ein Fieber. Er konnte nicht still sitzen. Er war ein Schmetterling. Von Geburt an. Er hätte sie dort zurückgelassen, hätte seinen großen Körper durch die Nacht geschoben und sich an seiner Einsamkeit und am Alkohol berauscht, wenn Belli ihn nicht mit einem ihrer Blicke, die eine leere Flasche zerspringen lassen konnten, davon abgehalten hätte. Also legte er die Streichhölzer auf den Tisch, zog seine Schuhe aus und kroch, ohne sich auszukleiden, ohne ein Wort, zu dem Säugling ins Bett. Es war einer der wenigen Abende, an dem er sich durch und durch als der Familienvater fühlte, der er niemals gewesen war.
     Ihre Tochter Marline, die ihren so sanften wie sicheren Tod schon in sich trug, war bei diesem Anlass nicht bei ihnen und weckte allein durch ihre Abwesenheit Sobners Vaterinstinkt. Er stellte keine Fragen und glaubte fest daran, dass er sie gleich am nächsten Tag abholen würde. Mit John und Johnky, Nènès unehelichen Söhnen in Bellis Obhut, wären sie zu siebt in dem winzigen Zimmer in Rapatriés gewesen.
     Auch Belli wollte ihre mütterliche Seite hervorheben und ihren gesamten Nachwuchs versorgen. Bis zu diesem Tag war sie das Gefühl nicht losgeworden, trotz ihrer beachtlichen Anstrengungen ein Kind unter Kindern zu sein. Vor allem wegen Père Adrien, ihres Stiefvaters, der ihr und den Kindern gern drohte. Wenn man seinem Gerede Glauben schenkte, drohten ihnen allen ständig Prügel, trotz einer protestierenden Belli, die ihn unermüdlich daran erinnerte, dass sie längst erwachsen war und auf eigenen Füßen stand. Dass sie niemandem zur Last fiel außer ihrer Mutter, schließlich hatte sie einen Mann, der für seine Kinder sorgte. Père Adrien war nicht umzustimmen.
     Bis er eines Abends, als Belli seiner Ansicht nach zu lange draußen gewesen war, zu unchristlicher Zeit, wie er sagte, recht entschlossen versuchte, sie mit seinem breiten Gürtel aus gegerbtem Leder zu schlagen. Aber er hatte die Rechnung ohne die tapfere Belli gemacht, die ihm den Gürtel aus der Hand riss, ihm ein gutes Dutzend Hiebe am ganzen Körper zufügte und dabei schrie, dass ihr Stiefvater sie umbringen wolle, um das Haus ihrer Mutter zu erben. Dieser Vorfall verursachte einen riesigen Skandal auf der Rue A2 in Les-Miracles. Für mindestens drei Wochen war die Straße in die Gegner und die Unterstützer von Belliqueuse Louissaint gespalten. Das schlug sich in den nächtlichen Spielen der Kinder nieder, die durch die Häuser zogen und fragten, wer den Mond und wer die Sonne lieber habe. Wer sich für die Sonne entschied, war auf Bellis Seite, wer für den Mond war, hielt zu Père Adrien. Weil Letzterer nicht Herr des Hauses war und das ganze Viertel wusste, dass er eines Nachts vor irgendeinem Drama in Croix-les-Bouquets nach Les- Miracles geflohen war - und seine Herkunft stolz vor sich her trug -, setzte Belli sich durch. Er wagte es nie wieder, sie oder ihren Erstgeborenen Fedner zu schlagen.
     Die Begebenheit spielte Fedner in die Hände, der seinen Stiefgroßvater Droit-de-la-femme, Dwa-fanm, Frauenrecht nannte, um sich über ihn lustig zu machen. Ein Begriff, den er von Maître Macédoine hatte, der seine ganze Abendschullehrer-Belesenheit aufgeboten und den Vorfall auf der A2 öffentlich kommentiert hatte, um philosophisch zu beweisen, dass das Schlagen einer Frau, die nach einem nächtlichen Besuch bei ihrem Mann möglicherweise schwanger war, einen Verstoß gegen die Frauenrechte darstelle, zumal, wenn man selbst von einer anderen Frau und Mutter ebendieser Frau abhängig war.
     Fedner hatte die Argumentation nicht ganz mitverfolgt. Er griff bloß den Spitznamen auf, um Père Adrien ins Mark zu treffen. Dieser gab jegliche Prügelpläne auf und versuchte, Belli mit dem Gesundheitszustand ihrer Mutter Georgette zu erpressen. Frauenrecht alias Père Adrien, ließ es sich nicht nehmen, Belli darauf hinzuweisen, dass er allein ihre Mutter und den Haushalt versorgte. Er gab außerdem zu verstehen, dass Georgette trotz ihrer Lähmung und Gebrechlichkeit nicht gänzlich auf die Gesellschaft eines Mannes verzichten wolle.
     Belli zweifelte also an ihrer Fähigkeit, einen Haushalt zu führen. Sie wusste, dass Nènè, auch wenn er an diesem Abend geblieben war, eines Tages wieder verschwinden würde. So einen Mann konnte man sich nur vom Hals halten. Für alle Zeiten auf ihn zu zählen war keine gute Idee.

Am ersten Abend in Rapatriés schlief Nènè bei seiner Frau und seinen Kindern. Er träumte den Traum, den er immer träumte, wenn er mit leerem Magen ins Bett ging. Er befand sich auf einem kleinen Kahn, einem von den Wellen geschaukelten Segelboot. Er sah die Hand einer Frau, die ihn zu sich ziehen wollte. Die Frau schien im Traum immer außergewöhnlich groß. Wie eine Erscheinung oder die Herrscherin des Wassers, ein Fleisch gewordener Geist oder ein vertrauter Engel. Am Ende ihres Arms, wo er den Kopf vermutete, sah er einen quadratischen Spiegel. Die Spiegelungen zeigten nacheinander alle Frauen seines Lebens. Beginnend bei Soeur Mireille, seiner Mutter. Dieses Spiegelkabinett endete oft mit Belli, die auf Riflane, die Mutter von John und Johnky, folgte. Nach dem Traum kam stets ein halbwacher Zustand, in dem sich das Zimmer in ein Segelboot verwandelte, das er steuerte. Es ging so weit, dass er manchmal um Hilfe schrie und die ganze Nachbarschaft weckte. Wenn er sich das Bett teilte, riss er die andere Person am Arm, wie um sie zu schützen oder sich zu beruhigen.
      Anfangs, als er zwanzig war, beeinträchtigte dieser Traum in all seinen Varianten seine Nachtruhe so sehr, dass Soeur Mireille ihm empfahl, abends vor dem Schlafengehen zu beten. Was er von Herzen gern getan hätte, wenn er nicht angesichts der vielen Verhaltensregeln, die diese Gebete mit sich brachten, erkannt hätte, dass seine Mutter eigentlich von ihm erwartete, ihr in den Protes - tantismus zu folgen, der sich über das Viertel ausbreitete wie eine neue Mode. Was er ebenfalls von Herzen gern getan hätte, wenn es ihm nicht so schwer gefallen wäre, auf den herben Geruch von Riflane, die damals für seine Mutter den Haushalt besorgte, oder auf eine vielversprechende Zukunft und eine ruhmreiche Vergangenheit zu verzichten, sprich auf die schweren Brüste und den großen Hintern von Belliqueuse Louissaint. Selbst wenn er die wahrlich demiurgische Anstrengung unternommen und den Frauen entsagt hätte, hätte die protestantische Kirche für seinen seit jüngsten Jahren hohen Alkoholkonsum kein Verständnis gehabt. Der Alkohol, das tägliche Bad im Wasser des Lebens, würde ihm zeitlebens helfen, seine traumwandlerischen Nächte durchzustehen.
     Als er den obligatorischen Schrei ausstieß, da der Traum früher als sonst zum Ende kam und weder Belli noch die Kinder an seinen unruhigen Schlaf gewöhnt waren, erschraken sich alle furchtbar und auf unterschiedliche Weise. Drei Kinder antworteten ihm im Chor, eines weinend, zwei andere jammernd  und zitternd. Nènè legte seinen Arm fest um Belli und verkündete: »Keine Angst, Frau, ich werde immer bei dir sein, auf unserem untergehenden Schiff.«
     Belli ließ sich von diesen im Halbschlaf gemurmelten Worten beruhigen, aber die Kinder waren weniger versöhnlich. Mit Bitten, Zärtlichkeiten und Einschüchterungen gelang es, John und Johnky wieder zum Einschlafen zu bewegen. Die Jüngste verlangte gleichzeitig weniger und mehr. Mehr, weil sie nichts hören wollte, und weniger, weil ein Stück Zucker oder ein Glas kühle Limonade gereicht hätten, um sie zu beruhigen. Was die Eltern nicht zur Hand hatten, wegen der Eile, mit der sie nach Rapatriés aufgebrochen waren. Schließlich war der Säugling von einem Schluckauf zu erschöpft, um weiter seine spitzen, betörenden Schreie in die Nacht zu schicken, und schlief wieder ein.

Im Morast ihrer häuslichen Gemeinschaft kam das Paar in vielen Punkten überein, außer in der Frage, ob es möglich war, sich im Beisein der Kinder zu lieben. Für Belli durfte man sich in der Nähe der Kinder nicht gehen lassen, auch nicht mit der größtmöglichen Vorsicht oder wenn die Lust an einem nagte. Nènè, der die Sache ganz anders sah, versuchte es trotzdem immer wieder. An jenem Abend nahm er seinen Misserfolg zum Vorwand und erklärte, dass kein gesunder Mann sozusagen hinter dem Rücken seiner Frau schlafen könne, ohne sie zu berühren, und das gelte auch für ihn. Er sah sich also im Recht, die Nächte nicht in der Hütte zu verbringen, bis er in der Lage wäre, sie zu vergrößern, um den Kindern eigene Zimmer einzurichten und der Jüngsten einen Wiegenplatz zu garantieren.
     Belli maß diesen Brunftreden keine Bedeutung bei. Das Morgengrauen verjagte die Nacht mit einem Hoffnungsschimmer: das Kind zu wiegen, das immer noch keinen Namen hatte.

Leseprobe Teil 2